I
ch stand auf dem Balkon, als Draven zurückkehrte. Es fühlte sich an, als wäre er stundenlang weg gewesen, aber die Uhr sagte mir etwas anderes. Mein Herz überschlug sich beim Geräusch seiner Schritte hinter mir, aber ich blieb stoisch. Wenn ich zuließ, mir in Erinnerung zu rufen, was letzte Nacht zwischen uns passiert war, würde ich wahrscheinlich nicht durchziehen können, was ich vorhatte.
Letzte Nacht hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet im Glauben, dass es nur eine einmalige Sache war. Aber wenn Draven die Wahrheit gesagt hatte und es mehr war als nur ein One-Night-Stand, dann schuldete er mir ein paar Antworten. Antworten auf die Fragen, die ich mir schon gestellt hatte, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
»Was soll das? Ich hinterlasse eine nackte Göttin in meinem Bett und komme zurück, nur um sie voll bekleidet anzutreffen?« Er klang erfreut darüber, mich zu sehen, aber ich genoss weiter die erstaunliche Aussicht auf den Wald überall um uns herum. Ich schloss meine Augen, als seine Hände meine Schultern entlang strichen, bis sich seine Fingerspitzen wie ein Halsband um meinen Nacken festzurrten. Seine Berührung fühlte sich an wie ein Brandmal, das mich als die Seinige markierte, und
brachte sofort Erinnerungen an letzte Nacht zurück, als mich dieselben Hände auf andere Weise beherrscht hatten.
»Egal. Die Haut von der Frucht zu schälen, ist Teil des Vergnügens, ihren süßen Geschmack zu entfalten«, sagte er und zog meinen Sweater leicht nach unten, um an die nackte Haut zu gelangen. Er beugte sich zu meiner Schulter und küsste sie. Leider hatte ich diese verdammte Zeichnung gefunden, und der Drang, die Wahrheit zu enthüllen, ließ mich nicht mehr los.
Ich musste den Mut finden, mich von ihm zu reißen. Meine Kontrolle wiederzuerlangen. Also tat ich das Undenkbare: Ich distanzierte mich ein wenig von ihm und drückte das Blatt Papier gegen seine Brust. Ich ging hinüber zur Tür und ließ ihn dort stehen, wo ich soeben gestanden hatte. Er blickte zuerst auf die Zeichnung, dann auf mich.
»Nun, scheint wohl, als wären die Flitterwochen vorbei«, sagte er mit bitterem Humor.
»Erklär mir das, Draven.«
»Nicht jetzt«, meinte er, aber ich weigerte mich nachzugeben. Nicht dieses Mal. Dafür war es zu spät.
»Warum nicht? Das schuldest du mir, oder hast du das vergessen?«
»Weil jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, in dem du …« Er kämpfte mit diesem letzten Wort, also drängte ich ihn.
»In der ich was?«
»Keira, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, in dem du Angst vor mir haben solltest«, sagte er vorsichtig, aber ich verstand die Bedeutung dahinter. Die Wahrheit musste schlimmer sein als ich befürchtet hatte. Eine Wahrheit, die nur schwer hinzunehmen war, und er wollte nicht, dass ich weglaufe.
»Egal, was es ist, ich verspreche dir, dass ich nicht davonlaufen werde.«
»Du glaubst, das kannst du mir versprechen?« Er war skeptisch, aber trotz seines besorgten Gesichts schien ich zu
ihm durchgedrungen zu sein. Ich meinte es so. Ich würde jetzt nicht vor ihm davonlaufen. Er hatte mir bewiesen, dass ich nicht in Gefahr war. Er wollte mich beschützen, nicht verletzen, also wartete ich darauf, dass er den ersten Schritt machte.
»Nun gut, Keira, dann machen wir es auf deine Weise. Was willst du wissen?« Er lehnte sich lässig an das Geländer hinter ihm. Er sah so verdammt gut aus, mit seinen verschränkten Armen und ausgestreckten, in Jeans gehüllten Beinen, dass ich beinahe vergaß, warum ich überhaupt noch drei Meter Abstand zu ihm hielt.
Ich schüttelte den Kopf, um meinen Verstand wieder auf Kurs zu bringen.
»Alles! Wie machst du die Dinge, die du tust? Woher weißt du so viel über mich? Wieso willst du mich beschützen, und wieso musstest du mich dafür belügen?«, schoss es in einem Schwall aus mir heraus.
»Das ist eine lange Liste für eine Konversation«, kommentierte er trocken.
»Dann kommen wir besser schnell zur Sache«, maulte ich sarkastisch, was ihn dazu brachte, eine Augenbraue zu heben.
»Ich verstehe, wieso du verärgert bist. Aber du musst verstehen, dass ich alles genau aus diesem Grund getan habe. Ich wollte dich vor der Wahrheit beschützen, von der ich mir nicht sicher bin, ob du sie verstehen kannst. Noch nicht.«
»Nun, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, oder?«
Er neigte seinen Kopf.
»Gut, wie du willst. Aber zuerst muss ich dir eine wichtige Frage stellen … Catherine Keiran Williams, glaubst du an Gott?«, fragte er mich so direkt, dass ich blinzelte.
»Ähm … Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber nach all den schlimmen Dingen, die mir widerfahren sind, fällt es mir schwer, an etwas so Gutes zu glauben, wenn Gott so viel Böses in der
Welt zulässt.« Das war meine ehrliche Antwort, aber er wirkte sichtlich verblüfft.
»Tatsächlich? Das überrascht mich. Ihr Menschen seid alle gleich. Ihr entscheidet euch, an Gott zu glauben, wenn euer Leben gut läuft, stempelt es als sein
Werk ab, aber sobald die Dinge außer Kontrolle geraten, werft ihr euren Glauben über den Haufen und gebt ihm
die Schuld.« Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu, da ich irgendwie auf dem Wort ›Menschen‹ hängengeblieben war, als wäre er keiner von ihnen.
»Dann lass mich dich etwas anderes fragen. Glaubst du an den freien Willen?«
»Ja, natürlich.« Worauf wollte er hinaus?
»Das heißt, wenn man dir das wegnehmen würde, dann wärst du nicht du, richtig? Du wärst nur die Vorstellung von jemand anderem von dir. Verstehst du?« Ich warf ihm einen konfusen Blick zu.
»Ja, ich verstehe. Du willst damit sagen, wir wären alle Marionetten.«
»Ja, so in der Art. Du musst verstehen, dass Gott Leben gibt, aber das wahre Geschenk ist, dass du entscheidest, wie du es führen willst. Er sagt dir weder, was du tun sollst, noch kontrolliert er deine Entscheidungen. Er ist neutral, wenn es um euren freien Willen geht. Ihr seid ein Produkt eurer eigenen Entscheidungen und manchmal, nun … geschehen schreckliche Dinge.« Er warf einen Blick auf meine Arme und ich wusste, worauf er hinauswollte.
»Also, willst du damit sagen, dass Gott real ist?«
»Nun, das hängt von jedem Individuum ab. Wenn du dein Leben in Verleugnung leben willst, dann ist er nicht real, aber für einen Mann des Glaubens existiert er sehr wohl.«
»Warte mal. Wie kann man das mit einem simplen Ja oder Nein beantworten?«, fragte ich mit gerunzelter Stirn.
»Jeder sieht die Dinge mit anderen Augen, Keira. Es war schon immer so simpel wie Ja oder Nein. Religion bedeutet für jeden etwas anderes. Für manche ist sie eine Entschuldigung für Krieg und Gier, oder den Verstand eines Mannes mit Hass zu schüren und einen Grund zu haben zu töten. Manche nutzen sie als Trost, wenn das Leben ihnen Hindernisse in den Weg stellt, oder um Gutes zu tun oder ein besserer Mensch zu sein. Aber egal welche Rasse, welches Geschlecht, welches Alter oder welcher Status, es läuft alles auf dasselbe hinaus. Jeder Einzelne von euch hatte im Laufe der Zeit eine andere Vorstellung von Gott, aber sie alle hatten eine Sache gemeinsam … Sie alle hatten freien Willen in diesem Glauben, Keira. Das ist der Unterschied.« Seine dunklen Augen versuchten, meine Reaktion zu beurteilen, aber er wirkte argwöhnisch.
»Was geht gerade in deinem Kopf vor?«
»Also, du sagst, dass Gott real ist, aber nur, wenn wir uns entscheiden, an ihn zu glauben. Und wenn nicht, hat sein Handeln ohnehin keinen Einfluss auf uns?«
»So in etwa, ja. Aber jetzt zu einer anderen Frage … Glaubst du an den Teufel?«
»Nein, natürlich nicht!«, war meine erste Antwort. Aber er lachte nur und schüttelte den Kopf, als ob ich wieder falsch läge.
»Und warum nicht?«
»Weil es falsch ist.« Okay, jetzt, wo ich es laut aussprach, fühlte ich mich wie ein naives Kind, was ihn wieder zum Lachen brachte.
»Wirklich? Und wieso ist es falsch, an ein Gleichgewicht zu glauben?«, erwiderte er und verschränkte wieder seine Arme, was er offensichtlich gerne tat, wenn wir nicht einer Meinung waren.
»Gleichgewicht?«
»Dann beantworte mir das: Wie kannst du das Gute verstehen, ohne das Böse zu kennen? Wie kann man Glück
verstehen, ohne Elend zu erleben, Vergnügen ohne Schmerz? Mit diesen Dingen konfrontiert zu werden, ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens.«
»Klingt einleuchtend.« Wie konnte jemand an das Gute glauben und nicht an das Böse?
»Also, bevor ich fortfahre … Glaubst du, Catherine, an Gott und den Teufel?«
»Tief in mir, ja. Ich glaube, das tue ich. Vielleicht habe ich das schon immer«, murmelte ich, und irgendwie hob sich damit eine große Last von meinen Schultern.
»Gut, nun … Glaubst du dann auch an Engel und Dämonen, die unter dir wandeln?«, fragte er, und ich hatte das Gefühl, dass sich meine Ängste gleich bewahrheiten würden.
»Ich finde es schwer, daran zu glauben.« Aber stimmte das?
»Das überrascht mich angesichts dessen, was du schon alles gesehen hast. Ich glaube, du belügst dich selbst, Keira.« Damit traf er natürlich genau ins Schwarze. Schließlich hatte ich jahrelang an das geglaubt, was ich gesehen hatte. Je seltener ich sie zu Gesicht bekam, desto mehr stieg in mir der Irrglaube, dass nur mein Unterbewusstsein sie erschaffen hatte. Nun, zumindest bestätigte das ein für alle Mal, dass ich nicht verrückt war. Das nenne ich mal einen Lichtblick am Horizont.
»Du besitzt deine Gabe aus einem bestimmten Grund. Wende dich jetzt nicht von ihr ab. Nicht, wenn sie dir gerade jetzt deine größte Hilfe sein kann.« Die Bedeutung hinter seinen Worten wurde mir langsam klar. Er wollte meinen Glauben, denn ohne ihn würde ich nie akzeptieren, was er war. Also hier war sie, die große Frage.
»Bist du ein Engel?«, wagte ich schließlich die Frage, die ich ihm schon vor langer Zeit stellen wollte. Etwas tief in mir hatte es gewusst, aber ich war so töricht gewesen, es zu ignorieren.
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte ich, um sicherzustellen, dass ich ihn nicht missverstanden hatte. Okay, jetzt war ich völlig verwirrt. Und dann rammte es mich wie ein Güterzug. Wenn er kein Engel war, war er dann das Gegenteil?! Nein, das konnte er nicht sein … Oder doch?
»Ich bin etwas anderes, aber was du in dieser Nacht gesehen hast, in der Nacht, in der du verletzt wurdest, das war meine wahre Form. Das ist, was ich bin, Keira.« Er näherte sich mir mit einer Angst in seinen Augen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Genau die gleiche Angst, die ich so viele Male verspürt hatte, wenn ich an Draven dachte. Die Angst vor Verlust.
»Himmel und Hölle sind nicht im Krieg, wie dir die Geschichten glaubhaft machen wollen. Der Krieg findet hier auf der Erde statt, schon seit Anbeginn der Zeit. Gefallene Engel und auferstandene Dämonen sind nur ein Nebenprodukt. Engel wenden sich gegen Gott und werden auf die Erde verbannt, um Gutes zu tun und sich mit harter Arbeit einen Platz im Himmel zurück zu erkämpfen. Aber manchmal wendet sich das Blatt. Manchmal wollen sie bleiben.« Er schlenderte über den Balkon, ließ seine Geschichte sich entfalten. Ich hing an jedem Wort, das so frei von ihm kam.
»Das gleiche Prinzip trifft auf die Auferstandenen zu. Dämonen, die dem Teufel trotzen, werden verbannt. Ihnen wird erst wieder Rückkehr gewährt, wenn sie ihn zufriedengestellt haben. Abtrünnige Engel und Dämonen waren schon immer ein Problem. Sie richten oft verheerende Schäden in eurer Welt an und stören das Gleichgewicht. Damit sind sie nicht nur eine Gefahr für eure Art, sondern auch für die Welt, die euch verborgen bleibt. Allerdings gibt es auch viele in den unterschiedlichsten Formen, die nicht nach Verwüstung streben. Einige von uns sind hier, um das Gleichgewicht zu wahren.«
»Du sagst ›uns‹, aber wenn du kein Engel bist, dann … Nein … Das kann nicht sein!« Ich konnte den Satz nicht zu
Ende bringen. Es fühlte sich falsch an, die Worte überhaupt auszusprechen.
»Was, du glaubst nicht, dass ich ein Dämon sein könnte?«, sagte er verbittert, sichtlich verletzt über meine Reaktion, aber ich konnte mir nicht helfen. Ich hatte mein Leben lang die Dinge verabscheut, die ich gesehen hatte. Er konnte einfach keiner von ihnen sein.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, sagte ich schwach und konnte die Tränen spüren, die darauf warteten, nach außen zu dringen. Wie konnte mir jemand all dieses Mitgefühl zeigen, der von einem Ort des reinsten Bösen stammte? Ich wollte mich von ihm abwenden, aber ich konnte es nicht. Mein Schicksal hatte mich eingesperrt, und nur Draven hielt den Schlüssel.
»Nun, ich sollte das wohl besser erklären, bevor du noch dein Versprechen brichst«, sagte er mürrisch.
»Ich habe dir gesagt, ich werde nicht weglaufen.«
»Nein, meine Liebe. Und du würdest auch nicht weit kommen, wenn du es tätest.« Ich biss auf meine Lippe bei dem Gedanken, dass er mich jagen würde. Die Vision, die er malte, war aufregend und erschreckend zugleich.
»Ich wurde hierhergeschickt, um das Gleichgewicht zu bewahren, da ich der einzige meiner Art bin. Meine Mutter ist ein Erzengel, ein hochrangiger Engel, sozusagen. Sie verliebte sich in meinen Vater, der der Ersten Hierarchie der Hölle angehört. Das war strengstens verboten. Sie hielten ihre Liebe für eine lange Zeit geheim, bis meine Mutter schwanger wurde.« Er beobachtete mich, als mein Gesicht vor Schock erstarrte. WAS?! Ich konnte die Frage nicht zurückhalten, die ich stellte:
»Engel und Dämonen können sich vermehren?«
»Ja, wenn auch selten. Aber nicht auf die gleiche Art wie Menschen. Sie werden als Seelen erschaffen. Ihr Schicksal wird in einem göttlichen Gericht entschieden. Manche dürfen
bleiben, manche müssen hinabfahren in einen menschlichen Wirten. Nur bei mir war es anders.«
»Menschlicher Wirt?« Es war mir fast unmöglich, die Millionen Fragen, die in mir explodierten, nicht auf einmal zu stellen.
»Ich komme noch darauf zurück, aber zuerst muss ich erklären, warum ich hier bin und nicht im Himmel oder in der Hölle. In meinem Fall mussten zwei Seiten zu einem Entschluss kommen. Himmel und Hölle trafen die gleiche Entscheidung. Unsere Seelen, besonders meine, waren zu kostbar, um sie zu verschwenden. Meine Mutter bekam Drillinge, einen reinblütigen Engel, einen reinblütigen Dämon, beide unglaublich mächtig dank ihrer Herkunft. Da unsere Eltern im höchsten Rang standen, lag es uns sozusagen im Blut.«
»Okay, Sophia ist also der Engel und Vincent der Dämon. Aber wozu macht das dann dich?«
Er grinste, als wäre ich gerade in eine Falle getappt.
»Interessant, dass du so denkst. Hm, ich denke für Menschen sieht Sophia eher aus wie ein Engel als der mächtige Dämon, der sie ist.« Er lachte über meine Reaktion. Ich schüttelte vehement meinen Kopf. Sophia, ein Dämon? Aber dann fiel mir diese Nacht ein, in der ich ihr wahres Gesicht gesehen hatte. Nun, jetzt ergab das alles Sinn.
»Sie ist nicht böse, Keira. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, da du nur das kennst, was dich die Geschichte gelehrt hat. Nicht alle Dämonen sind böse, genauso wie nicht alle Engel gut sind.«
»Okay … Also, noch mal zurück. Was bist dann du?« Ich traute mich fast nicht, zu fragen. Fast.
»Ich bin ein Produkt zweier Seelen, die miteinander verschmolzen sind. Eine Kombination der mächtigsten Kräfte von Himmel und Hölle. Ich bin zum Teil Engel und zum Teil Dämon«, beendete er und wartete dann auf – tja, was auch
immer … Dass ich schrie, weglief, vielleicht versuchen würde, vom Balkon zu springen. Er versuchte, meinen Geisteszustand zu eruieren, aber als ich keines dieser Dinge tat, fuhr er fort.
»Wie schon gesagt, das war für alle schockierend, da dies ein noch nie dagewesener Fall war und seither auch nie wieder vorgekommen ist. Ich bin das Resultat einer verbotenen Liebe, die so stark war, dass sie sich jeder Existenz unserer beider Welten widersetzte. Ich halte die Macht von beiden inne, und das machte mich zu einem einzigartigen Wesen. Also wurde ich auserwählt, das Gleichgewicht hier zu bewahren, um sicherzustellen, dass beide Seiten ein faires Spiel spielen.« Okay, das war also der ›Oh Scheiße‹-Moment, aber nicht unbedingt im negativen Sinne. Also, er war halb Dämon, aber auch halb Engel, was seine abgefahrenen Stimmungsschwankungen erklärte, dachte ich mit einem unterdrückten Lachen.
»Also, wie tust du das?«, fragte ich in Bezug auf seinen Job. Grinsend fuhr er mit seiner Hand durch seine Haare, was mir einen weiteren ›Oh Scheiße‹-Moment gab, aber dieses Mal von einer anderen Art. Einen, bei dem ich mir wünschte, wir wären beide nackt.
»Mächtiger zu sein als die anderen, ist ganz hilfreich. Meistens reicht mein Wort aus, aber es gibt einige, die mir gerne … Nun, wie soll ich sagen … Schwierigkeiten bereiten«, sagte er, aber nicht auf arrogante Weise, obwohl ihm das angesichts dessen, was er mir offenbart hatte, zustand.
Er näherte sich mir vorsichtig, für den Fall, dass ich vor ihm zurückschreckte, aber das tat ich nicht. Einen Herzschlag später stand er direkt vor mir und hielt meine Arme fest, um tief in meine Augen zu blicken, auf der Suche nach meinen wahren Gefühlen nach all den neuen Informationen, die ich zu verarbeiten hatte. Und da fand er sie, als ich liebevoll zurückschaute.
Ich wollte ihn küssen und ihn wissen lassen, dass ich ihn immer noch mehr brauchte als die Luft, die ich atmete oder das Blut, das durch meine Adern floss. Egal, welche unmögliche Wahrheit ich gerade gehört hatte. Denn ohne ihn wäre alles sinnlos gewesen. Endlich kannte ich den Grund für meine Visionen. Die Hintergründe jagten mir keine Angst mehr ein.
Seine Finger strichen über die Konturen meines Mundes, bevor seine Lippen folgten. Dieses Mal war sein Kuss unglaublich sanft, aber der Effekt, den er auf mich hatte, wurde dadurch nicht gedämpft.
»Gehen wir rein. Dir ist kalt und es wird bald regnen«, sagte er. Er legte seine Hand auf meinen Rücken und führte mich hinein. Er bedeutete mir, Platz zu nehmen. Ein neues Tablett gefüllt mit Speisen und Getränken wartete auf dem Tisch.
»Iss, du musst hungrig sein«, sagte er wieder einmal fürsorglich.
»Isst du?« Ich pflückte einen Pfirsich aus der Obstschale. Er sah so aus, als ob er versuchte, mich nicht auszulachen.
»Was? Das ist eine berechtigte Frage«, sagte ich defensiv. Also stand er auf, schnappte sich einen Apfel und biss mit einem schelmischen Grinsen hinein.
»Ja, ist es, und ja, ich esse. Nicht so häufig wie du, aber mein Körper besitzt zum größten Teil die gleichen Funktionen wie deiner.« Nach der letzten Nacht bezweifelte ich das sehr, aber ich behielt diesen Kommentar für mich.
»Wurdest du in diesem Körper geboren?« Ich biss in den saftigsten Pfirsich, den ich je gegessen hatte und musste den Saft auffangen, der mein Kinn hinunter tropfte. Nächstes Mal würde ich mir ein paar Trauben nehmen.
»Ja, in gewisser Weise. Dieser Körper wurde mir von einem freiwilligen Opfer gegeben. Ich habe ihn seit jeher.« Ich hustete, als mir ein Stück Pfirsich zu schnell die Speiseröhre hinunterrutschte. Hatte er gerade Opfer gesagt?
»Das war eine große Ehre, Keira. Er wurde zu einem Erzengel für seinen Glauben an Gott. Die Körper, die wir besitzen, sind wie ein Gefäß, um das wir uns kümmern müssen. Wie eine Pflanze zu nähren. Unsere Kraft regeneriert die körpereigenen Zellen, sodass er länger bestehen bleibt, aber sie halten nicht ewig. Irgendwann altern sie und wir müssen weiterziehen.« Okay, jetzt wurde es merkwürdig.
»Wie lange hast du schon deinen Körper?« Würde er eines Tages plötzlich anders aussehen? Der Gedanke missfiel mir. Er war perfekt, so wie er war, und ich wollte nie, dass er sich änderte. Als er also sagte: »Seit Anbeginn«, war ich zwar verwirrt, aber erleichtert.
»Aber du hast gerade gesagt …«
»Ja, ich weiß, aber ich bin anders. Aus irgendeinem Grund ist mein Körper nur um etwa fünf Jahre gealtert, seit ich zum ersten Mal wiedergeboren wurde. Sophia und Vincent haben sich ein paar Mal verändert, sehr oft sogar im Laufe der Jahrhunderte.« Ich war knapp davor, zu ersticken!
»Jahrhunderte? Wie alt bist du?« Ich schluckte hart.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir dich nicht mit zu vielen Informationen auf einmal überschütten. Schließlich will ich dir nicht noch mehr Gründe geben, vor mir wegzulaufen, womit du mich zwingen würdest, dir nachzujagen. Auch wenn der Gedanke ein reizvoller ist«, sagte er mit einem Zwinkern und einem teuflischen Grinsen. Er schenkte mir ein Glas eiskaltes Wasser ein, bevor er mir einen Kuss auf die Stirn gab.
»Ich habe dir gesagt, ich werde nicht wegrennen.«
»Ich weiß, und das jagt mir etwas Angst ein. Bis jetzt hast du alles mit Leichtigkeit weggesteckt.« Er hatte recht. Woran lag das wohl? Hätte ich ihn erst gestern getroffen und all das erfahren, wäre ich womöglich zusammengebrochen. Aber wenn ich zurückblickte auf all die Jahre, in denen ich das
Unvorstellbare gesehen hatte, und an all das, was mir hier widerfahren war, dann ergab alles irgendwie einen Sinn.
»Okay. Was, wenn ich andere Fragen stelle?« Ich warf ihm einen Blick über den Rand meines Glases hinweg zu.
»Ah, lass mich raten. Beziehen sich diese Fragen auf dich?« Sein Grinser sagte mir, dass er die Antwort kannte.
»Ähm, vielleicht … Okay ja, aber das kannst du mir nicht übelnehmen.«
»Würde ich nie tun«, hänselte er und strich seine Haare mit beiden Händen zurück. Der Anblick verschlug mir die Sprache. Mann, er war so heiß, dass ich in seiner Gegenwart nicht klar denken konnte.
»Wo war ich gerade?«, murmelte ich, und er lachte über meine Inkohärenz.
»Du wolltest wissen, warum du?« Ich nickte. Ja, ich wollte es wissen, aber was, wenn ich die Antwort nicht ertragen konnte?
»Wann habe ich dich zum ersten Mal getroffen? Wirklich getroffen?«
»Kurz bevor wir dieses Jahr hierherkamen. Meine Schwester verhielt sich merkwürdig, als ob sie auf etwas oder jemanden wartete. Als sie also früher in die Stadt aufbrach als geplant, folgte ich ihr. Ich fand sie am Rande eines Waldes, wo sie ihre eigene Version des Gartens von Eden erschuf. Für gewöhnlich bin ich da nachsichtig, da wir manipulieren können, was Menschen sehen, also war ich nicht besorgt, dass ihn jemals jemand finden würde. Aber als ich auftauchte, lief sie plötzlich davon. Ich verstand nicht, warum, bis ich dich sah.«
»Du hast mich dort gesehen? Das war gar kein Traum?« Ich hatte es die ganze Zeit gewusst, was mich natürlich zu der Frage führte – waren meine anderen Träume jemals nur Träume gewesen?
»Nein, es war real. Als ich dich zum ersten Mal sah, raubte es mir den Atem. Du hast mich von der ersten Sekunde an
fasziniert. Zuerst habe ich dich nur aus der Ferne beobachtet. Du warst so zaghaft, wie Alice, die in das Kaninchenloch fiel. Ich verstand nicht, warum du sehen konntest, was meine Schwester erschaffen hatte, obwohl ich versuchte, es zu kontrollieren. Ich konnte nicht anders als dir näher zu kommen. Ich musste sichergehen, dass du real warst. Und dann fielst du mir buchstäblich zu Füßen, als wärst du vom Himmel gefallen.« Mein Gesicht wurde wieder rot, aber ich verbarg mein Lächeln nicht.
»Ich konnte nicht anders, als dich zu berühren. Ich musste jedes letzte Stück Selbstkontrolle zusammenkratzen, das ich hatte, um dich nicht in meine Arme zu ziehen und dich fort zu bringen, damit ich dich für immer behalten konnte. Du hast keine Ahnung, wie schwer das war. Wie hart es war.«
Von all dem, was er jemals zu mir gesagt hatte, schockierte mich das am meisten. Sahen so tatsächlich seine Gefühle aus?
»Ich wünschte, du hättest mich fortgebracht«,
flüsterte ich schüchtern und sah zu ihm auf. So, wie er dastand, die intensiven Emotionen in sein Gesicht geschnitzt, wusste ich, dass er die Wahrheit sprach.
»Das wäre kein weiser Schritt gewesen, zumindest nicht für dich. Also war das Einzige, was ich tun konnte, dir glaubhaft zu machen, dass es nur ein Traum war. Ich versuchte, Abstand zu halten und dich in Ruhe zu lassen, aber ich konnte es nicht. Ich brauchte Zeit, um für deine Sicherheit zu sorgen. Natürlich wurde alles noch härter, als sich herausstellte, dass du in meinem Club direkt unter meiner Nase arbeitest, aber auch das war nie genug. Ich musste dich sehen, dir nahe sein, aber es wurde immer schwerer, dir glaubhaft zu machen, dass es nicht real war.« Es hörte sich an wie die Geständnisse eines verzweifelten Mannes. Oder vielleicht eher eines verzweifelten Stalker-Dämons?
»Ich kam zu dir, wenn du schliefst, nur um dich zu beobachten, aber du schienst immer aufzuwachen. Als ob du gefühlt hättest, dass ich in der Nähe war. Und dann war da die Nacht, in der du einen Alptraum hattest. Ich konnte nicht zusehen, wie du leidest. Du warst so verängstigt … In dieser Nacht war es mir fast unmöglich, deinen Geist zu manipulieren. Ich hatte es in all meinen Jahren noch nie mit so einem dickköpfigen Verstand zu tun.« Er lachte über mein Stirnrunzeln, als er mich als dickköpfig bezeichnete, fuhr aber fort.
»Alles, was ich tun konnte, war, dich aus der Ferne zu beobachten. Es machte mich verrückt. Als wäre jeder Tag meine eigene persönliche Folter in einer Welt, die ich normalerweise beherrschte, aber über die ich diesmal keine Kontrolle hatte.« Es schien, als wäre das eine schmerzhafte Erinnerung für ihn. Nun, für einen Mann – oder ein ›Wesen‹ – seiner Wichtigkeit war es wahrscheinlich auch so. Ich war erstaunt, dass seine Gefühle meine eigenen widerspiegelten.
»Ich hatte keine Ahnung, dass du genauso fühlst wie ich. Ich kann noch immer kaum glauben, was da gerade passiert. Aber wenn das alles wahr ist, wieso warst du so boshaft zu mir? Wieso wolltest du nicht, dass ich im VIP arbeite?« Ich hasste es, dieses Thema anzuschneiden. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein. So viel war seither passiert, so viel hatte sich geändert … Aber ich musste die Wahrheit wissen.
»Weil ich versucht habe, dich geheim zu halten, Keira. Wie gesagt, ich brauchte Zeit dafür. Ich wollte dich in sicherer Entfernung wissen in einem Raum voller Engel und Dämonen. Ich befürchtete, dass sie vielleicht in der Lage wären, sich von deinen Emotionen zu ernähren, und das durfte ich nicht zulassen. Aber vor allem wollte ich dich von mir fernhalten.« Dabei sah er schuldig aus.
»Warte … Was meinst du damit, sich von meinen Emotionen zu ernähren?« Okay, das hörte sich sehr beunruhigend an. Er atmete tief ein, bevor er zu erklären begann.
»Dämonen und Engel überleben mit Hilfe der Emotionen von Menschen. Daher bekommen sie ihre Energie, ihre Kraft. Je stärker die Emotion, desto stärker werden sie. Deshalb erlaube ich Menschen an diesem Ort und habe aus dem Club einen Gothic-Nachtclub gemacht. Die Emotionen alternativer Menschen sind eine starke Mischung aus positiven und negativen, die die Bedürfnisse aller befriedigt.«
Ich blinzelte ihn an. All diese ahnungslosen Menschen … Allein beim Wort Ernähren
lief es mir kalt über den Rücken. War das der wahre Grund, warum er mich auserwählt hatte? Gott, es war zu entsetzlich, darüber nachzudenken, aber leider zu wichtig, um es zu ignorieren. Ich dachte zurück an all die Zeiten, in denen er sich von mir hätte ernähren können, und beim Gedanken allein wurde mir übel.
Der Schmerz, den ich fühlte, als ich ihm meine Geschichte anvertraut hatte, war sicherlich ein Festmahl gewesen. Ich fühlte mich betrogen. Ich hatte ihm vertraut. Die ganze Zeit über war das der Grund gewesen, der Grund, warum ich überhaupt hier war. Der Grund, warum er mich ausgewählt hatte. Waren meine Gefühle ihm gegenüber überhaupt real, oder hatte er mich nur manipuliert, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen?
Ich sprang auf. Mein Kopf drehte sich. Ich brauchte Luft. Sofort. Warum sonst würde mich ein Mann wie Draven wollen? Ich war so dumm gewesen. So verdammt dumm. Natürlich war es nicht ich, die er wollte. Es war nur der Schmerz meiner Vergangenheit!
Ich zockelte auf die Glastüren zu. Draven hatte recht gehabt, was den Regen betraf. Er hämmerte mit dicken Tropfen gegen den Balkon.
»Was ist los, Keira? Du siehst aus, als ginge es dir schlecht.« Draven bewegte sich zu mir, aber ich hob meine Hand, um ihn zu stoppen. Ich legte meine Hand auf das Glas, wartete darauf, dass es sich bewegte, aber das geschah nicht. Draven hielt sie sicherlich verschlossen. Wahrscheinlich, um mich hierzubehalten, sodass er sich weiterhin genüsslich von meinem Schmerz ernähren konnte.
»Ich brauche Luft, Draven. Lass mich raus«, sagte ich mit einer toten Stimme, die sich ganz und gar nicht nach mir anhörte.
»Keira, sag mir, was los ist. Es regnet in Strömen. Bitte sprich mit mir«, flehte er und legte seine Hand auf meine, aber ich schüttelte sie ab.
»Lass mich jetzt raus!«, schrie ich ihn an, was ihm wahrscheinlich nur noch mehr Vergnügen bereitete. Endlich öffneten sich die Türen und ich stürmte hinaus in den Regen. Es war mir egal, ob ich nass wurde. Ich war für ihn Nahrung!
Und das war alles. Ein Objekt, das er benutzen konnte, um noch mächtiger zu werden. Hatte er mich von Anfang an verarscht? Versucht, diese Emotionen in mir zu provozieren für das ultimative High? Tränen rollten über meine Wangen und vermischten sich mit dem Regen, der auf mein Gesicht peitschte. Ich konnte Draven hinter mir fühlen, aber ich blieb regungslos. Ich war an diesem Ort eingesperrt. Ich konnte nirgendwohin.
»Bitte sprich mit mir. Was habe ich gesagt?« Panik war deutlich zu hören in seiner Stimme, und ich stieß ein finsteres Lachen aus.
»Das war also die ganze Zeit der Grund. Du hast mich nur benutzt, um mir das Leben auszusaugen! Oh, sieh mal, hier kommt ein kaputtes Mädchen, lass uns sehen, wie viel ich mit ihr anstellen kann. Wie viele Emotionen ich aus ihr ziehen kann. Ich wette, ein Selbstmordversuch war der Hauptgewinn!« Ich konnte mich meiner Reaktion nicht erwehren. Ich schlug meine
Faust gegen seine steinerne Brust und schlug weiter ein, bis sie rot wurde. Und er ließ es zu, bis ich alles herausgelassen hatte.
»WIE KONNTEST DU? Wie konntest du nur?!«, schrie ich in sein eisernes Gesicht, bis er an der Reihe war. Er ergriff meine Arme und schüttelte mich.
»Keira, hör mir zu … HÖR MIR ZU! Ich kann mich nicht von dir ernähren. Das ist unmöglich. Niemand kann das. Es ist verboten. Du bist die Auserwählte!«, schrie er zurück, und bevor ich mich dagegen wehren konnte, schlangen sich seine Arme um mich, mit einem festen, unzerbrechlichen Halt. Gegen meinen Willen brachte er mich zurück ins Zimmer, wo er mich zur Vernunft bringen würde …
Auf die einzige Weise, die er kannte.