I
ch wachte in einem verlassenen Bett auf. Das einzige Licht warf der Mond mit einem unheimlichen, bläulichen Schein ins Zimmer. Es erinnerte mich an die Nacht, in der mir Layla das Messer in die Rippen gestoßen hatte, und ich brauchte einen Moment, um mir darüber klarzuwerden, dass ich nicht wieder in einem Traum gefangen war. Da ich aber noch immer nackt war, wusste ich, dass meine Nacht mit Draven tatsächlich geschehen war. Zum Glück. Es wurmte mich, dass ich noch immer allein war. Seine Geschäftsangelegenheiten hielten ihn wohl länger auf als erwartet.
Wissend, dass ich keinen Schlaf finden würde, bevor ich nicht in Dravens warmen, starken Armen lag, stand ich auf und machte einen Abstecher ins Badezimmer. Der kalte Boden unter meinen Füßen ließ mich frösteln, also warf ich mir den Kimono über, der über dem Bettende hing. Ich fragte mich, ob Draven hier gewesen war, um nach mir zu sehen und den Kimono dort abgelegt hatte für den Fall, dass ich aus dem Bett stieg. Nicht ungewöhnlich, denn er schien jede meiner Bewegungen zu kennen.
Das kalte Material glitt über meine Haut. Ich wünschte mir, ich hätte meinen kuscheligen Pyjama zur Hand, auch
wenn ich Draven den Anblick meiner alten Sweatpants und des durchlöcherten Tops ersparen wollte. Im Badezimmer angelangt, fummelte ich an der Wand entlang auf der Suche nach dem Lichtschalter, aber ich fand keinen. Es war viel zu dunkel, um etwas zu sehen, also ließ ich die Tür offen, um das schwache Licht herein zu lassen. Irgendetwas war seltsam. Die Luft war dicker, was mir das Atmen erschwerte, und mein Herz schlug unberechenbar. Dieses Gefühl war mir nicht geheuer.
Als wäre ich nicht allein.
Daher entschied ich mich, dass ich doch nicht unbedingt das Bad benutzen musste. Also drehte ich mich um, aber plötzlich knallte die Tür zu. Ich umfasste den Griff, aber die Tür war verschlossen. Als ich meine Hand wegzog, war sie nass. Ich rieb die tropfende Substanz zwischen meinen Fingerspitzen. Sie war dick und klebrig. Durch das schwache Licht, das durch das Fenster im hinteren Teil des riesigen Badezimmers leuchtete, sah sie schwarz aus. Als ich zurückblickte auf die Tür, war sie komplett mit einem seltsamen schwarzen Teer bedeckt, der in Klumpen herabfiel und auf den gefliesten Boden schlug.
Was ging hier vor?
»Draven!«, rief ich, aber mein Herz stoppte, als ich ein leises Lachen hinter mir hörte. Ein Lachen, das ich schon einmal gehört hatte, aber keines, das jemandem gehörte, den ich liebte.
Nein. Dieses gehörte jemanden, den ich fürchtete.
Mein Kopf wirbelte herum, aber es war niemand da.
»Wer … Wer ist da?«, stotterte ich in die Dunkelheit, meine Stimme so zittrig, als würde mich jemand schütteln. Der schwarze Teer auf dem Boden kroch näher zu meinen Füßen, und ich wich ein paar Schritte zurück, um ihm zu entkommen. In dem vergoldeten Spiegel hinter dem Waschbecken bemerkte ich zwei grelle, leuchtende Punkte. Sie befanden sich auf Dravens Augenhöhe und kamen näher, als ich im Gegenzug näher an das Waschbecken schlich. Ich atmete tief ein, als ich mich der Gefahr
stellte. Die beiden glühenden Punkte gehörten zu einem Körper und waren tatsächlich Augen, die auf mich zurück starrten. Zuerst konnte ich nur den Schatten eines Mannes sehen, aber als der Mond hinter den Wolken hervorbrach, erkannte ich es. Der Schatten eines Dämons!
Der Anblick war so furchteinflößend, dass ich würgte, als Magensäure meinen Mund hochschnellte. Rissige Haut, die blubberte und den gleichen schwarzen Teer blutete. Lippen, die grob mit einer Art dickem Draht vernäht waren und aussahen, als wären sie horizontal mit Bolzenschneidern aufgeschnitten worden. Seine Augen wurden feurig rot beim Anblick meiner Angst. Sein Gesicht war lang und verformt, als hätte man es in einen Schraubstock gequetscht, bis die Augen bluteten, nur dieses Mal war es tatsächlich Blut, das an seinen Mund herabtröpfelte.
»Du musst Catherine sein, die Rose, von der ich so viel von meinem jungen Freund dort drüben gehört habe. Ich glaube, ihr beide kennt euch«, sagte er und spuckte dabei Blut aus. Ein langer, schwarzer, verfaulender Finger, der aus einer tödlich aussehenden Hand ragte, zeigte auf das Fenster. Ich drehte mich um. Dort lehnte Morgan an einer der Marmorsäulen und hielt lässig eine große Klinge in der Hand, mit der er mir winkte. Ich stieß einen grauenerregenden Schrei aus.
»Ich habe ihm gesagt, er soll das Ding nicht mitbringen, aber er kennt deine Leidenschaft für scharfe Objekte und bestand darauf.« Ich drehte mich wieder zu der Kreatur, die mich teuflisch anlächelte. Sein Mund war so hässlich wie der Rest von ihm. Jede Reihe enthielt nur sechs Zähne. Sie glichen eher Reißzähnen, alle voneinander getrennt, und bohrten sich durch sein blutendes Zahnfleisch. Sein Mantel wallte um seinen Körper, als ob er lebendig wäre, bis ich erkannte, dass es überhaupt kein Mantel war. Es waren Flügel!
»WEG VON MIR!«, brüllte ich, als er einen weiteren Schritt näherkam. Mein Rücken presste sich gegen das Waschbecken, in das ich schon beinahe hineinfiel.
»Komm, meine Liebe … Dein Dunkler Prinz kann dich jetzt nicht retten. Dafür habe ich gesorgt«, zischte er, wodurch das Blut, das aus seinem Mund schoss, auf mein Gesicht spritzte. Ich wischte es mit meinem Ärmel weg, aber sobald es durch den Stoff drang, verwandelte es sich in kleine schwarze und rote Spinnen, die meinen Arm hoch krabbelten. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber sie huschten unter meine Ärmel und bissen in mein Fleisch. Ich schrie mir die Lunge aus dem Leib. Die Spinnen schienen sich irgendwie zu vermehren, wodurch meine Haut brannte und juckte.
Ich wollte flüchten, aber der schwarze Teer zog sich über den ganzen Boden, sodass meine Füße kleben blieben. Er schlich sich meine Zehen hoch und verfestigte sich an ihnen wie schwarzer Zement. Plötzlich kam ein anderer Horror zum Vorschein, als schwarze Arme aus dem Spiegel hinter mir hervorplatzten. Sie packten mich grob an den Schultern und hielten mich fest, als ihr Gebieter immer näher kam. Er streckte eine schuppige Hand zu mir aus und öffnete seinen Mund, als ob er gleich seine blutigen Zähne in meine Haut versenken wollte.
»NEIN, NEIN, NEIN! WEG VON MIR!« Ich schrie unaufhaltsam, mein Gesicht feucht von Tränen und Schweiß. Die Arme aus dem Spiegel fingen an, mich zu schütteln.
»KEIRA!« Die Stimme, die ich verzweifelt hören wollte, rief meinen Namen.
»KEIRA, WACH AUF!« Ich riss meine Augen auf. Die Arme aus dem Spiegel wurden zu Dravens, und das Badezimmer hatte sich in einen Raum mit Glastüren verwandelt, die sich am Ende von Dravens Bett befanden. Ich wurde aufgesetzt, und seine Arme umkreisten meine Schultern. Er schaukelte mich leicht, um sicherzustellen, dass ich definitiv wach war.
»Keira, es war nur ein schlechter Traum. Schhh, atme.« Ich schluchzte wie ein verängstigtes Kind an seiner Brust. Er streichelte über meine Haare und ließ mich seine Haut mit den salzigen Tränen durchtränken, die aus mir herausströmten.
»Es ist alles gut, meine Liebe. Du bist in Sicherheit. Ich bin bei dir«, sagte er in einem weichen, beruhigenden Ton. Er positionierte mich so, dass er mich in seinen Armen halten konnte, während er geduldig darauf wartete, dass ich meine Stimme wiederfand.
»Ich … Ich bin aufgewacht, aber … Aber du warst nicht hier«, stammelte ich. Etwas hörte sich eigenartig an. Meine Stimme war kratzig, und meine Kehle brannte von meinen Schreien.
»Es war alles nur ein Traum, Keira. Ich war nur zehn Minuten weg, aber du hast bereits fest geschlafen. Du hast dich nicht einmal gerührt, als ich mich neben dich gelegt habe.«
»Also bist du nicht weggegangen? Du hast … mich nicht allein gelassen?« Mein gebrochenes Schluchzen verfing sich in meinem Schluckauf.
»Schhh, ich bin ja jetzt hier. Du bist in Sicherheit, meine Kleine.« Mein Kosename zeigte seine Wirkung, und ich entspannte mich langsam.
»Das war wohl ein übler Alptraum. Ich habe versucht, durchzudringen, aber etwas sehr Machtvolles hat mich blockiert. Kannst du mir davon erzählen?« Er versuchte, mein Gesicht zu sehen, das immer noch Trost an seiner Brust suchte. Schließlich blickte ich zu ihm hoch. Er wischte meine nassen Wangen mit seinen Daumen ab.
»Ich muss es zeichnen, bevor er zurückkommt!« Ich sah mich um nach etwas, das ich mir schnell überziehen konnte.
»Wenn du also gezeichnet hast, was du gesehen hast, kannst du es aussperren?«
»Ja, aber frag mich nicht, wie es funktioniert. Ich habe es nie verstanden.« Ich drehte alle meine Haare zusammen und
verknotete sie im Nacken, auch wenn sie wahrscheinlich nicht lange so bleiben würden.
»Ähm …« Er zeigte auf den Kimono am Ende des Bettes, aber schon der Anblick brachte den Alptraum zurück. Er bemerkte mein Zögern.
»Vielleicht etwas Bequemeres?« Er deutete auf meinen Pyjama von zu Hause, meine Sweatpants und mein löchriges Shirt.
»Woher hast du das gewusst?«, fragte ich erstaunt, aber er reichte mir nur die Klamotten und schob mir das Shirt über den Kopf. Ich schwang meine Beine über den Rand und zog meine Sweatpants an. Oh Gott, wie sah ich wohl aus? Dann wurden die Lichter heller, und meine Scham verdoppelte sich. Jetzt hatte ich nicht einmal mehr die Dunkelheit, in der ich mich verkriechen konnte.
»Warum hast du das gemacht?« Ich zog mein Shirt nach unten, als würde mir das irgendwie helfen.
»Kannst du denn im Dunkeln zeichnen?«, entgegnete er. Es war das erste Mal, dass ich ihn eine Jeans anziehen sah. Ich war froh, dass sein Oberkörper entblößt blieb. Ich konnte mich daran nicht sattsehen, auch wenn jetzt eindeutig der falsche Zeitpunkt für erotische Fantasien war. Aber verdammt, er sah unglaublich gut aus.
»Okay, das ist ein Argument. Hast du etwas, das ich benutzen kann, um …?« Ich gestikulierte mit der Hand in der Luft, als würde ich zeichnen. Er nickte zu seinem Schreibtisch, vollbepackt mit Utensilien. Draven ging zu seinem Stuhl und zog ihn heraus, damit ich mich setzen konnte. Lächelnd akzeptierte ich seine Gentleman-Manieren und nahm Platz. Dann zog ich einen langen Federkiel aus einem Stifthalter und runzelte die Stirn.
»Irgendetwas, das nach 1800 erfunden wurde?«
Er rollte mit den Augen, grinste mich aber an.
»Was? Ich gebe zu, ich bin etwas altmodisch, aber versuch mal, auf einen Stift umzusteigen, wenn du seit dem 6. Jahrhundert etwas anderes gewöhnt warst«, erwiderte er, als er mir die Feder wegnahm und sie schnell in seiner Hand drehte. Augenblicklich verwandelte sie sich in Holz. Er reichte mir seinen selbst erschaffenen Bleistift.
Ich ignorierte den 6. Jahrhundert-Kommentar, bevor mein Verstand noch anfing, Wagenräder zu schlagen und zu errechnen versuchte, wie alt er tatsächlich war. Wahrscheinlich war es nur ein Witz gewesen, also konzentrierte ich mich darauf, das Monster aus meinen Träumen zu skizzieren. Dann erzählte ich Draven die Geschichte. Das wühlte ihn natürlich auf, und er konnte wieder einmal sein Temperament kaum unter Kontrolle halten. Es war definitiv der schrecklichste Alptraum gewesen, den ich je erlebt hatte. Als ich Draven die fertige Zeichnung überreichte, wurde mir schnell klar, dass es wohl doch nicht nur ein Traum gewesen war.
»Sammael!«
Er fauchte den Namen mit einem tiefen Knurren. Sein Kiefer malmte, als er mit den Zähnen knirschte und seine Hände zu Fäusten formte. Er sah so aus, als würde er gleich in Flammen aufgehen.
»Sammael?« Ich stand von meinem Stuhl auf.
»Er ist ein Todesengel. Sein Name bedeutet ›Gift Gottes‹.« Er zischte die Worte durch gefletschte Zähne und drehte seinen Hals knackend zur Seite, wie ein Gladiator, der sich für den Kampf in der tödlichen Arena bereit machte.
»Vor einigen Jahrhunderten hatte er sich mit einem Dämon namens Belphegor zusammengetan«, sagte er, als er zur Sprechanlage neben der Tür ging.
»Schick sofort meinen Bruder hierher!«, befahl er einer zaghaften Stimme am anderen Ende. Ich hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber ich war zu ängstlich um zu fragen. Draven sah barbarisch aus, und ich wollte ihm keinen Grund
geben, seine Fassung zu verlieren. Mein Kopf war gerammelt voll mit Fragen, aber die einzige, auf die ich eine Antwort brauchte, war: War dieser Dämon hinter mir her?
Nur eine Minute, nachdem Draven nach ihm gerufen hatte, schritt Vincent durch die Tür. Er war lässig angezogen, als wäre er gerade aufgewacht, was wahrscheinlich auch der Fall war. Es war vier Uhr morgens.
Er trug schwarze Hosen und ein offenes Hemd, das einen Waschbrettbauch zeigte. Er war nicht so groß wie Draven, eher schlanker und athletischer, aber immer noch mächtig mit kantigen Muskeln, die sich anspannten, als Draven den Namen meines terrorisierenden Dämons aussprach.
»Ich glaube, er versucht, durch Keira an mich heranzukommen und benutzt diesen Morgan als Handlanger.«
»Du glaubst also, er will Rache für das, was wir Belphegor angetan haben?«, fragte Vincent, der aber nur halb so besorgt wie sein Bruder wirkte.
»Oh, daran habe ich keinen Zweifel. Schließlich war er es, der dem Menschen zur Flucht verholfen hat.« Draven marschierte auf und ab, bis sein Bruder eine Hand auf seine Schulter legte.
»Dom, beruhige dich. Er kann ihr nichts antun. Sie ist hier in Sicherheit.« Er kam herüber zum Schreibtisch, an den ich mich lehnte. Stillschweigend verfolgte ich das Gespräch, auch wenn ich nur Bahnhof verstand.
»Keira, hab keine Angst, wir werden dich beschützen. Gibt es noch irgendetwas, an das du dich erinnerst?« Er benutzte eine ruhigere Stimme als sein Bruder, was es mir leichtmachte, den Engel in ihm zu sehen.
»Zum Beispiel?«
»Hat er dir etwas angetan?« Draven stieß ein herzzermalmendes Knurren aus, das mir fast so viel Angst einjagte wie der Alptraum.
»Dom, bitte. Du machst ihr Angst«, zischte Vincent, der Draven über seine Schulter einen warnenden Blick zuwarf.
»Keira, du musst es uns sagen. Hat er dich in dem Traum verletzt oder dich irgendwie berührt?« Seine Augen waren weich und vertrauensvoll, aber ich hatte keine Ahnung, wohin diese Fragen führten.
»Na ja …« Ich wagte einen Blick zu Draven, dessen Augen voller Hass und Höllenfeuer brannten.
»Fahr fort. Mach dir keine Sorgen um ihn. Er wird sich benehmen«, sagte er lächelnd, was mir etwas die Nervosität nahm. Draven sah aus, als würde seine giftige Wut gleich in ihm übersprudeln, aber Vincent stellte sich absichtlich vor mich, um mir die Sicht zu blockieren.
»Er spuckte mir Blut ins Gesicht, und als ich versucht habe, es abzuwischen, verwandelte es sich in kleine Spinnen, die anfingen, mich zu beißen«, gestand ich mit leiser Stimme. Diesen Teil hatte ich absichtlich ausgelassen, um Draven nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen. Ein scharfer Atemzug zischte hinter Vincent.
»Wo haben sie dich gebissen?« Ich hielt meine freigelegten Arme hinter meinem Rücken. Draven meine Narben zu präsentieren, war ich schon gewohnt, aber nicht bei seinem Bruder.
»Auf meinem Arm«, murmelte ich.
»Lass mich das machen!«, rief Draven Vincent zu, als er auf mich zuraste, aber Vincent legte seine Hände auf seine Brust und hielt ihn von mir fern. Seine scharfe Stimme war furchteinflößend. Rau und extrem tief, als käme sie von einem anderen Teil in ihm. War das seine Dämonenstimme?
»Dom … Dominic! Hör mir zu. Du bist nicht ganz bei Sinnen und erschreckst das arme Mädchen zu Tode. Sie hat schon genug durchgemacht. Sie muss nicht auch noch dein Temperament ertragen. Geh und beruhige dich, Bruder. Ich werde nicht lange
brauchen.« Dravens Augen trafen meine und wurden etwas weicher. Der violette Schimmer wurde dumpfer, als er sich nach unten lehnte, um meine Stirn zu küssen, bevor er auf seinen Balkon flüchtete.
»Nimm ihm das nicht übel, das ist nicht leicht für ihn. Er mag es nicht, wenn die Dinge außerhalb seiner Kontrolle liegen. Dieses Gefühl ist er nicht gewöhnt.« Vincent zuckte tatsächlich mit den Schultern, was ihn so menschlich wirken ließ, dass es schwer war, ihn als etwas anderes zu sehen.
»Was ist passiert? Ich meine, was hat das alles mit mir zu tun?«
»Wir waren vor langer Zeit für seinen Untergang verantwortlich und es scheint wohl, als hegte er noch immer einen Groll gegen uns. Wenn etwas in dieser Welt aus dem Gleichgewicht gerät, bleibt uns keine andere Wahl, als zu intervenieren. Und Sammael ist damals zu weit gegangen.«
»Und nun benutzt er mich, um sich an Draven zu rächen?« Er wirkte belustigt, dass ich seinen Bruder bei seinem Nachnamen nannte, aber er nickte nur mit dem Kopf.
»Was soll ich tun?«
»Ich möchte, dass du mir vertraust. Denkst du, du kannst das?« Er streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben aus. Ich wusste genau, was er wollte. Ich schloss meine Augen. Atme
.
»Ich werde dir nicht wehtun. Ich verstehe deinen Widerwillen, aber nur so kann ich deinen Traum sehen.« Also biss ich auf meine Lippe und fand den tiefen Atemzug, den ich brauchte. Ich hatte wohl keine Wahl. Mit den Narben nach oben zeigend, legte ich meinen Arm in seine Hand. Seine Augen blickten herab auf die Linien meiner Vergangenheit, als er seine andere Hand benutzte, um sie darüber zu halten.
»Sei gewarnt. Es besteht die Möglichkeit, dass ich mehr zu sehen bekomme als nötig. Deine Narben sind tief, wie auch deine Erinnerungen an ihre Entstehung. Es könnte mich also
weiter zurückbringen als gewollt. Dafür entschuldige ich mich im Voraus.« Und bevor ich es mir noch mal anders überlegen konnte, packte er mein Handgelenk, um die Verbindung herzustellen.
»Wunderschöne Seele«,
flüsterte Vincent ehrfürchtig, bevor mich die Empfindungen trafen. Es fühlte sich an, als hielte er meinen Arm in eiskaltes Wasser, bis er taub wurde. Ich versuchte, mich loszureißen, aber sein Griff war unnachgiebig. Er würde mich nicht freilassen, bevor er alles gesehen hatte, was er sehen musste. Seine Augen flackerten, als ob er einer Art Trance verfallen wäre, und sein Mund bewegte sich, als er unausgesprochene Worte formte. Es war nur ein leises Flüstern, aber ich war mir sicher, dass ich meinen Vornamen auf seinen Lippen hörte.
Dann trafen mich die Visionen wie ein Daumenkino unzensierten Schmerzes. Jahre der Angst aus meiner Kindheit innerhalb von Nanosekunden. Ich unter dem Bett versteckt, bewaffnet mit einer Taschenlampe, als ich immer wieder flüsterte: ›Es ist nicht real.‹ Ich sah, wie ich mich im Vorratsschrank der Schule versteckte, auf dem Boden kauernd und am ganzen Körper zitternd. Ich sah mich unter der Treppe in einem dunklen Keller, auf zitternde Lippen beißend, betend, flehend.
Immer am Verstecken … Jahre und Jahre und ein ganzes Leben des Versteckens.
Dann kam die letzte Vision. Die Tragödie in diesem dramatischen Stück. Nur mit einem Unterschied – dieses Mal konnte ich mich nirgendwo verstecken.
Der Engel vor mir sah alles. Seine Augen schlossen sich. Blut begann wieder durch meine Venen zu fließen, die jetzt kribbelten, und meine Haut erwärmte sich auf ihre übliche Temperatur. Vincent hielt noch immer meinen Arm, aber
nicht mehr auf die gleiche Weise. Voller Emotionen in seinen Kristallaugen strich er mit seinen Fingern über meine Narben.
»Du bist sehr mutig, Keira, und hast einen unaufhaltsamen Willen, Gutes zu tun. Dir wurde das reinste Herz zum Geschenk gemacht, und du wurdest geboren, um unter uns zu wandeln. Eines Tages wirst du auch daran glauben«, sagte er, bevor er meine Arme zu seinen Lippen hob und meine Handgelenke küsste, wie es sein Bruder immer tat. Seine Augen blickten tief in meine, und ich spürte die Tränen, die sich in meinen Augenwinkel bildeten.
Draven hatte alles mitbekommen, aber er sagte nichts, bis Vincent meine Arme losließ. Mit einem Schritt nach hinten nickte er mir respektvoll zu. Nur eine einzige, entflohene Träne zeigte meine wahren Emotionen über das, was gerade geschehen war. Das blieb nicht unbemerkt, nur unausgesprochen.
»Dom, es scheint, dass uns nicht nur Keiras Vergangenheit einen Besuch abstattet, sondern auch unsere. Du hattest recht. Er benutzt die menschliche Verbindung zu ihr, um dich ausfindig zu machen, aber sie ist stark und hat ihn blockiert. Er hat bereits versucht, noch einmal in ihre Gedanken einzudringen, aber der Zugang wurde ihm verweigert.« Vincent strich liebevoll mit dem Rücken eines Fingers über meine Wange, als ob er mir sagen wollte, dass ich mich tapfer geschlagen hätte. Draven kam näher. Er sah aus, als würde er gleich in die Luft gehen, als könnte er seine Wut nicht mehr eindämmen. Also entschied ich mich, mutiger zu sein als je zuvor.
Ich stieß mich vom Schreibtisch ab. Mein Körper wollte sich wieder in Sicherheit in den Armen meines dunklen Prinzen wiegen. Mit schlagendem Herzen und einem stillen Gebet, dass er mich nicht zurückweisen würde, marschierte ich direkt auf ihn zu, legte meine Arme um seinen Hals und zog sein Gesicht näher an meines heran. Ich konnte spüren, wie sich seine stahlharten Muskeln entspannten und er sich mir voll und ganz hingab.
»Bitte sei nicht böse«,
flüsterte ich in dem Versuch, eine effektive, liebliche Stimme anzunehmen. Seine Arme schlangen sich um meine Taille, bevor er mich hochhob und küsste.
»Tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe«, sagte er, wieder mit brennender Leidenschaft in seinen Augen.
»Sie hat eindeutig eine Wirkung auf dich, Bruder. Seitdem das gleiche Blut durch unsere beiden Adern läuft, habe ich noch nie erlebt, dass du von einem deiner typischen Wutanfälle so schnell herunterkommst«, sagte Vincent humorvoll, und es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was er meinte. Er hatte noch nie gesehen, dass jemand so einen Einfluss auf seinen Bruder hatte wie ich.
»Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Sie braucht dich jetzt, Bruder. Sie hat genug Zeit in ihrem Leben damit verschwendet, sich zu verstecken«, meinte er traurig, bevor er uns verließ.
Draven hob mich wieder in seine Arme und trug mich zurück zum Bett. Mit einer Handbewegung verdunkelte er wieder das Zimmer. Nur das Licht des Nachthimmels schien hinein.
»Mein Bruder war sanft zu dir, ja?«, fragte er flüsternd.
»Ja, aber ich glaube, was er gesehen hat, hat ihn etwas mitgenommen«, sagte ich beschämt.
»Mein Bruder und ich haben im Laufe der Jahre viel Brutalität gesehen, aber Selbstaufopferung ist eine Seltenheit, mit der unsere Art nicht oft in Kontakt kommt. Es ist eine der mächtigsten Eigenschaften, die eine Seele besitzen kann. Deine Seele ist rein, und als mein Bruder für kurze Zeit ein Teil davon wurde, hat es zweifellos seine Spuren bei ihm hinterlassen.« Er sagte dies mit Stolz, aber trotzdem fühlte ich mich verlegen, dass mich beide so sahen.
Sie stellten es so hin, als wäre ich eine Art Heilige, wenn ich doch nur allzu gut wusste, dass ich das nicht war. Schon gar nicht nach all den dreckigen Fantasien von Draven.
»Keira, kannst du etwas für mich tun?«, fragte er und zog mich näher zu seiner glatten Haut.
»Was du willst.« Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und schmiegte mich an seine Schulter.
»Würdest du mir Zugang zu deinem Geist gewähren?« Das ließ mich überrascht zu ihm aufblicken.
»Warum?«
»Bitte vertrau mir und lass deinem Geist freien Lauf.« Ich nickte. Er hatte schnell gelernt, wie mein Verstand funktionierte. Er küsste mich, erfüllte meinen Geist mit seiner Kontrolle und flüsterte einen Befehl.
»Schlaf, meine Liebe.«