55
Zeit für die Engel
I ch konnte fühlen, wie Morgans Hände an Halt verloren, als ich in meinen Tod stürzte. Dennoch war ich nicht so verängstigt, wie ich es hätte sein sollen. Nein, stattdessen war ich von einer warmen Decke der Sicherheit umgeben, als mein Schicksal näherkam, um mich zu holen. Ich hielt meine Augen geschlossen. Ich wollte, dass Draven das Letzte war, was ich sah. Ich hielt an der Erinnerung an ihn in meinen Gedanken fest, während der enorme Luftstoß meine Tränen trocknete.
Es war seltsam zu wissen, dass der Tod nur Sekunden entfernt war. Ganz anders als beim ersten Mal, als ich mit ihm konfrontiert wurde. Und wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich gewusst, dass es nicht mein Ende bedeutete, meine Handgelenke aufzuschlitzen. Aber jetzt war es anders.
Mein Leben hatte eine grausame Wendung genommen. Jahrelang hatte ich in einer unbekannten Welt der Dunkelheit gelebt, um schließlich mein Licht in Draven zu finden. Doch dieses Licht war dabei, für immer zu erlöschen. Ja, in der Tat grausam, und dennoch hätte ich nichts anders gemacht, hätte nichts verändert, denn die wenigen Tage, die ich mit Draven verbringen durfte, waren es wert gewesen. Das war meine Balance. Morgan und Dämonen auf der einen Seite der Waage, Draven und Engel auf der anderen.
Draven war der einzige Gedanke, an dem ich festhielt, meine letzte Verbindung zu dieser Welt. Er war mein Anker auf der anderen Seite. Das Leuchtfeuer, dem ich folgte. Keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich hatte keine Zweifel daran, dass er dafür sorgen würde, dass ich sicher an dem Ort ankam, den die Götter für mich auserwählt hatten.
Aber obwohl ich in Frieden diese Welt verlassen würde, ließ ich ein Stück meines Herzens hinter dieser Klippenwand zurück.
Dominic Draven.
Der Mann, von dem ich besessen war. Der Mann, der mich verändert hatte. Der Mann, der mich zusammengeflickt und noch so viel mehr für mich getan hatte. Der Mensch, der Engel, der Dämon und der Lord.
Dominic Draven. Der Mann, den ich liebte.
Für immer.
Dann geschah es, und ich … Ich starb.
Ich fühlte den Einschlag, den mein Körper auf dem Boden machte und war dankbar, dass mir wenigstens die Schmerzen erspart blieben. Ich begann zu schweben, wahrscheinlich in den Himmel. Vielleicht weil ich diejenige war, für die mich Draven immer gehalten hatte … Die Auserwählte.
Ein Schluchzer entkam mir bei dem Gedanken an den Mann, den ich liebte. Ich würde ihn nie wiedersehen. Jetzt fühlte sich das alles nicht mehr so himmlisch an, eher wie die Hölle. Ich schnappte nach der Luft, die ich nicht länger brauchte. Eine Wärme, die ich fühlen konnte, drang tiefer in meine Haut ein. Ich wollte immer noch nicht meine Augen öffnen, aber ich war sicher, dass mich etwas berührte, mich festhielt und mit nach oben nahm.
Waren die Engel gekommen, um meine Seele holen? Auch, wenn ich es nicht tun sollte, konnte ich nicht anders, als ihm Lebewohl zu sagen.
»Ich will Draven nicht verlassen. Ich möchte mich verabschieden. Bitte, ich möchte ihm Lebewohl sagen.« Ich wollte stark bleiben. Stark genug, um loszulassen.
»Keira, er ist weg. Er ist tot!«, sprach eine himmlische Stimme, und ich brach in Tränen aus, während ich mich gegen den Körper drückte, der mich hielt.
»Draven …« Sein Name entglitt mir wie ein Gebet zu den Göttern. Muskelbepackte Arme zogen sich enger um mich und überfluteten meine Haut mit Wärme.
Ich war wieder in Dravens Armen. Das war wohl mein Geschenk. Sie erlaubten mir, mich von ihm zu verabschieden.
»Ich weiß, ich habe nicht viel Zeit, aber du musst wissen … Ich liebe dich … Und ich werde dich immer lieben. Gott weiß, ich will nicht Lebewohl sagen, Draven. Ich habe Angst. Ich will dich nicht verlassen!« Schmerzhaft schluchzte ich die Worte heraus. Ich wollte nicht, dass dies die letzte Stimme von mir war, die er hörte, aber ich konnte mir nicht helfen. Ich brauchte ihn!
»Keira, hör mir zu, du gehst nirgendwohin. Du bist in Sicherheit. Ich würde dich nie fallen lassen.« Seine Stimme war streng, enthielt aber einen weichen Unterton, als er versuchte, mich zu beschwichtigen.
»Ich bin nicht … nicht tot?«, fragte ich.
»Nein, natürlich nicht! Keira, ich habe dich aufgefangen. Flügel, schon vergessen?«, sagte er, und ich stieß einen Ausruf der Erleichterung aus. Dann machte ich den Fehler und öffnete meine Augen. Sofort schrie ich beim Anblick, Hunderte Meter über dem schwarzen Wald unter mir zu fliegen. Draven hielt mich in seinen Armen fest und schüttelte mich leicht, um meinen Fokus auf sich zu lenken.
»Keira, sieh nicht nach unten. Schließ deine Augen, sonst wird dir übel, und das wäre unangenehm für uns beide«, sagte er mit etwas Humor in seiner Stimme. Ich tat, wie mir gesagt wurde, denn meine Höhenangst ließ mich nicht den Drang verspüren zu sehen, wie hoch oben wir eigentlich waren. Ich konnte jetzt die Bewegung seiner Flügel spüren, die sich auf und ab bewegten, bevor sie in den Gleitflug übergingen, um die Strömung des Windes einzufangen. Der Wind traf uns von allen Seiten, aber die Hitze, die durch Draven strömte, hielt uns beide warm.
Ich hatte meine Arme um seinen Hals geschlungen und verschränkte meine Finger, um mich festzuhalten. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Schulter und seinen Hals, um tief seinen berauschenden Duft einzuatmen.
»Ich dachte, ich würde dich verlieren«, gestand er mit der traurigsten Stimme, die je über seine Lippen gekommen war.
»Ich dachte auch, ich würde dich verlieren. Ohne die Chance zu bekommen, Lebewohl zu sagen«, murmelte ich gegen seinen Hals.
»Das hast du also gemeint, als du sagtest, du willst mich nicht verlassen?« Seine Frage verblüffte mich.
»Ja, natürlich. Was denn sonst?«
»Ich dachte, du meintest Morgan«, gab Draven zu, jedoch hörbar erfreut, dass er falsch gelegen hatte.
»Also ist Morgan definitiv tot?«, fragte ich und hielt meinen Atem an.
»Oh ja, er ist so tot wie er nur sein kann«, knirschte er durch zusammengebissene Zähne. Ich erschauderte beim Gedanken an seine verstümmelte, blutige Leiche, die auf den Felsen klebte.
»Das heißt, ich bin frei. Ich bin endlich frei!« Ich hob meinen Kopf und bestaunte seine riesigen Flügel, die sich anmutig in der Nachtluft bewegten. Das Mondlicht verfing sich auf seinen seidigen, dunklen Federn. Ich erhaschte auch einen flüchtigen Blick auf Ava, die direkt hinter uns flog, und ich lächelte bei dem Anblick.
»Ja, das bist du. Er wird nie wieder zurückkommen, Keira. Versprochen.« Er küsste meinen Kopf, während meine Haare um seinen Hals flogen und auf seinen nackten Rücken peitschten.
»Bringen wir dich nach Hause.« Seine Stimme klang müde von all den Sorgen. Ich schmiegte mich näher an ihn.
»Ich bin schon zu Hause, Draven. Ich bin bei dir.« Er hielt mich fest und summte zärtlich in mein Ohr:
»Zuhause.«
Wir stiegen vom Himmel herab. Er ließ mich nicht los, aber mein Magen fühlte sich an, als würde er nach oben in meine Kehle rutschen. Das gleiche Gefühl wie bei einer Flugzeuglandung. Aber im Gegensatz zu einem herkömmlichen Flug wusste ich nicht, wann wir sicher unten ankamen. Irgendwann kamen seine Füße in Kontakt mit dem Balkon außerhalb seines Schlafzimmers.
»Keira, meine Liebe, du kannst jetzt deine Augen öffnen«, sagte er und lachte sanft, als er versuchte, meine Finger von seinem Hals zu schälen. Er setzte mich ab, doch ich keuchte vor Schmerzen, als der Boden Druck auf meine wunden, aufgeschürften Sohlen ausübte.
»Oh, Keira.« Sofort hob mich Draven wieder hoch.
»Ist okay, ich kann gehen«, zischte ich durch meine Zähne.
»Nein, Keira, das wirst du nicht. Du musst nicht mehr mutig sein, meine kleine Kämpferin«, sagte er und trug mich durch die Glastüren. Er ging zum Bett und legte mich sanft ab, als würde ich gleich in eine Million Stücke zerbrechen. Meine Füße hingen über die Bettkante, wie ein Kind auf einem Sitz, der zu groß für mich war. Dann platzte die Tür auf, und Vincent stürmte herein, gefolgt von Sophia.
Toll. Genau das, was ich jetzt brauchte. Noch mehr Leute, die mein jämmerliches Ich sahen. Ich war eine zerbrochene Puppe in einem zerrissenen Kleid, während Draven wie immer aussah wie ein Gott, unversehrt und ohne einen Kratzer.
Es schockierte mich, Vincent in seiner Engelsform zu sehen, strahlend weiß mit einem riesigen Paar schneeweißer Flügel, die sich von unten nach vorne rollten. Wahrlich atemberaubend. Auch bei Sophia stockte mir der Atem, jedoch aus anderen Gründen.
Sie hatte sich in ihre wahre Gestalt verwandelt, was mich peinlicherweise am meisten beunruhigte. Bisher hatte ich sie nur einmal als Dämon gesehen und das nur aus der Ferne. Jetzt kam sie mir näher, und ich musste meine ganze Selbstkontrolle sammeln, um nicht zurückzuweichen. Ihre harte, schrundige Haut sah schmerzhaft aus, und ihre Lippen schnitten sich hoch in ihre Wangen, als hätte man sie brutal an beiden Seiten eingerissen. Ich schluckte hart, als mich die seelenlosen Augen einnahmen. Es schien, als veränderten sie sich je nach ihrer Stimmung, denn dieses Mal waren sie tiefschwarz ohne einen Hauch von Weiß. Fast so, als hätte man ihnen eine Tinte injiziert, die sich wie Gift unter ihrer Haut ausbreitete.
Jetzt, wo sie mir so nah war, bemerkte ich etwas, das mir in jener Nacht entgangen war – ihre Flügel. Schnell wurde klar, warum sie mir nicht aufgefallen waren, da sie sich beträchtlich von den Flügeln ihrer Brüder unterschieden. Sie bestanden aus einem schattenartigen grauen Rauch, der hinter ihrem Rücken schwebte und immer seine Form behielt. Der dunkle Dampf kroch über ihren Kopf und endete in scharfen Spitzen. Wie Vincents waren auch ihre vorn leicht zusammengerollt. Sie waren faszinierend. Wie Rauch, eingefangen in einem Glaskäfig.
Ich wollte nicht, dass sie meine Beklemmung spürte, also konzentrierte ich mich auf die Sophia, die ich kannte und liebte wie eine Schwester. Dann geschah es. Die Kraft in mir ermöglichte es mir, ihre Gestalt in die Sophia zurück zu verwandeln, die ich liebte. Keine Ahnung, wie ich es angestellt hatte, aber als ich auf jeden Einzelnen von ihnen schaute, offenbarten sich mir alle drei wieder in ihrer Menschengestalt. Sophia sauste auf mich zu. Endlich konnte ich wieder frei atmen beim Anblick dieser wunderschönen Kreatur.
»Oh, bei den Göttern, Keira, geht es dir gut?« Sophia umarmte mich fest. Mein gequälter Körper protestierte vor Schmerz, und ich saugte Luft durch meine Zähne.
»Oh, tut mir leid!« Sie ließ mich sofort los, als Draven ihr einen missbilligenden Blick zuwarf. Aber sie ging schnurstracks auf ihn zu und schlug ihn heftig ins Gesicht. Sein Kopf peitschte zur Seite, während Vincent nur mit verschränkten Armen dastand. Ich war völlig schockiert beim Anblick einer kleinen Puppe, die einen Bären angriff und ungeschoren damit davonkam. Und Mann, ihr rechter Haken war der Hammer!
»Das ist für deine arrogante Sturheit, weil du gedacht hast, du bräuchtest keine Hilfe. Schau sie dir an!« Sie zeigte auf mich, während sie ihn anschrie.
»Sophia, es war nicht seine Schuld. Ich war diejenige, die in die Falle gelockt wurde. Er kann nichts dafür«, flehte ich sie an. Ich versuchte, aufzustehen, aber sobald meine Füße den Boden berührten, schlangen sich Vincents Arme um mich und hielten mich aufrecht. Sein Gesicht war übersät von harten Linien, die von seiner kontrollierten Wut sprachen, aber sein finsterer Blick galt seinem Bruder. Anscheinend teilte er die Meinung seiner Schwester.
»Hast du starke Schmerzen, Keira?«, fragte er mich und setzte mich wieder zurück aufs Bett.
»Nein, es geht mir gut, aber bitte beschuldigt nicht ihn«, bettelte ich, als ich in seine engelhaften, kristallblauen Augen blickte.
»Keira, sie haben beide das Recht, wütend zu sein. Ich hätte Sammael nicht unterschätzen dürfen. Du wurdest verletzt wegen meines Hochmuts, und das werde ich mir niemals verzeihen«, sagte Draven, als er sich vor Scham wegdrehte. Doch meine Schuldgefühle waren größer als seine.
»Hört zu, das ist doch lächerlich. Es ist vorbei. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber glaubt mir, wenn ich sage, dass es mein eigener verdammter Fehler war. Wenn ich euch von Anfang an die Wahrheit erzählt hätte, wäre es gar nicht so weit gekommen. Wenn ihr das jetzt nicht endlich in eure Köpfe bekommt, werde ich gehen und nicht zurückkommen, bis ihr endlich der richtigen Person die Schuld gebt … MIR!«, schrie ich, als mein eigenes Temperament außer Kontrolle geriet. Sie starrten mich ungläubig an, was mich dazu zwang, meinen Standpunkt klarzumachen und trotz meiner Schmerzen aus dem Bett zu steigen. Jetzt war Draven derjenige, der zu mir eilte, um mich wieder hinzulegen.
»Keira, hör auf. Du musst dich schonen.«
»Dann hört auf, die Schuld auf die eine Person zu schieben, die mein Leben gerettet hat«, sagte ich, während ich meinen Blick von Vincent zu Sophia und schließlich zurück zu Draven schweifen ließ.
»Du hast recht. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber Dominic, Keira liegt nicht nur dir am Herzen, sondern auch uns. Du hast sie in unser Leben gebracht, also akzeptiere auch, dass wir alle für ihre Sicherheit verantwortlich sind. Zweifelsohne wird man uns noch viele Hürden in den Weg legen, jetzt, wo sie Teil unserer Welt ist. Lass uns euch zur Seite stehen.« Vincent legte seine treue Hand auf die Schulter seines Bruders, und es war ein emotionaler Moment, die Liebe zu sehen, die sie nicht nur für ihn hatten, sondern auch für mich.
»Ja, Dom, warum sollst immer nur du den ganzen Spaß haben? Seit Jahren hätte ich mal wieder die Möglichkeit gehabt, ein paar Ärsche zu versohlen, und du ziehst wieder die Führer- und Familienoberhaupt-Nummer ab!«, schimpfte Sophia. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, als ich mir vorstellte, wie sie sich in einem Kampf schlagen würde. Andererseits, nach dem Schlag, den sie ihrem zwei Köpfe größeren Bruder verpasst hatte, konnte sie sicherlich gut austeilen.
»Gut, wenn das nun geklärt ist, könnte mir jemand bitte einen verdammten Tequila besorgen? Ich habe gelogen, als ich sagte, dass ich keine Schmerzen habe.« Draven war nicht der Einzige, der die Stirn runzelte.
»Okay, ich denke, ihr lasst uns jetzt besser allein.« Er warf Sophia einen wissenden Blick zu. Er wollte mich heilen, genauso wie beim letzten Mal. Doch er wusste nicht, dass ich ihre wahren Gestalten sehen konnte, seitdem Sammael mich berührt hatte.
Die ganze Zeit über hatte er wohl gedacht, ich hätte nur ihn und Andy kämpfen sehen, ohne die Egel zu Gesicht zu bekommen, die ihn angegriffen hatten. Ich konnte nicht anders, als laut zu lachen, als er versuchte, mir den Anblick von Sophias Dämonengestalt zu ersparen.
»Keira, was ist los?«, fragte Draven, als ob er nicht mehr nur um meine körperliche Gesundheit besorgt wäre, sondern auch um meine geistige.
»Draven, ich konnte alles sehen, seitdem Sammael mich berührt hat. Ich habe alles gesehen, was dort passiert ist.« Dravens Gesicht entgleiste, als wäre das das Schlimmste, was mir jemals hätte zustoßen können. Tatsächlich wurde er ganz blass, als ich meinen Arm ausstreckte, um ihm zu zeigen, was Sammael damit angestellt hatte. Die roten Striemen waren noch dort, wo er mich aufgeschlitzt hatte, um mir die Macht des Sehens einzuflößen.
Sophia keuchte und wirbelte herum, um sich zu verstecken. Sofort fühlte ich mich schrecklich.
»Sophia, bitte nicht«, bat ich sie. Ich wollte zu ihr gehen, aber Draven hinderte mich daran, aufzustehen. Sie senkte ihren Kopf, und meine Schuldgefühle überwältigten mich.
»Keira, kannst du uns noch immer sehen?«, fragte Draven besorgt.
»Nein, ich kann es kontrollieren. Ich hab es einfach von mir weggeschoben, wie ich es normalerweise tue. Also, Sophia, wie du siehst, musst du dich nicht vor mir verstecken. Außerdem habe ich dich schon vor einiger Zeit als Dämon gesehen.« Damit schockierte ich alle. Sie drehte sich zu mir um, mit Tränen in ihren dunklen Augen.
»Wann?«, fragte sie kopfschüttelnd.
»In der Nacht, nachdem Layla mich angegriffen hatte. Ich war draußen auf dem Balkon, als du aufgetaucht bist, um nach mir zu suchen.« Sie stieß einen ungläubigen Lacher aus.
»Aber Keira, du hast die ganze Zeit so getan, als wäre alles normal. Was du gesehen hast, muss dich doch erschreckt haben, oder nicht?«
»Das hat es auch, aber ich wusste, dass du noch immer du warst, unabhängig von deiner äußeren Gestalt. Das ändert nichts daran, dass du meine Freundin und für mich wie eine Schwester bist«, sagte ich mit aufwallenden Tränen.
Sie marschierte direkt auf mich zu und umarmte mich, diesmal aber vorsichtiger, da mein Körper langsam verschiedene Töne von Blau und Violett annahm.
»Danke«, flüsterte sie mir ins Ohr, bevor sie sich ihrem Bruder zuwandte und sagte:
»Gib acht auf sie, Dom.« Dann verschwand sie mit Vincent durch die Tür, um mich mit Draven allein zu lassen. Seine Hand fing eine verirrte Träne auf, die meine Wange hinunterfiel, und ich drehte mich zu ihm.
»Warum hast du mir nichts gesagt?«, fragte er leise, als er den flachen Schnitt von Morgans Klinge an meinem Hals untersuchte.
»Weil es keine große Sache war. Immerhin habe ich mein ganzes Leben lang eure Art gesehen. Ich denke, ich verstehe es jetzt einfach besser. Es hat nicht mehr so einen starken Effekt auf mich wie früher.« Das war die Wahrheit. Jahrelang hatte ich mir dieselbe Frage gestellt – wieso ich? Jetzt wusste ich es. Jetzt ergaben all die Tränen des Entsetzens und das ganze Versteckspiel einen Sinn. Ich musste mich nicht länger verstecken. Jetzt hatte ich einen Dämon an meiner Seite, und vor diesem würde ich mich niemals verstecken. Und ich hatte auch das Licht eines Engels, das mich durch die Schatten meiner Vergangenheit führte.
Ein Dämon, der mir den Rücken freihielt, und ein Engel, der mir den Weg zeigte. Gemeinsam eine unbestreitbare Kraft, die mich niemals im Stich lassen würde. Was mehr könnte ich wollen?
Den Mann, den ich liebte …
Draven.