Eins
Vor vierzehn Jahren
Wahrscheinlich war es der schlimmste Tag im Leben des Sechsjährigen, was keinesfalls daran lag, dass der Himmel wolkenverhangen war und der Wind wie ein heulender Geist sein Unwesen trieb. Es lag auch nicht daran, dass der kleine Junge heute noch nichts gegessen hatte, weil er und sein Vater in der Früh einen Anruf erhalten hatten, der sie dazu brachte, umgehend ins Auto zu steigen und ins Krankenhaus zu fahren. Und nein, es lag auch nicht an seinem aufgeschürften Knie, auf dem mittlerweile ein Pflaster mit bunten Teddybären klebte. Er war auf dem Parkplatz gestolpert, weil seine Finger zu sehr gezittert hatten, um seine Schnürsenkel zu binden. Aber das alles war nicht der Grund dafür, dass dieser Tag der schmerzhafteste war, den er je erlebt hatte.
Sie lag im Sterben, seine Mutter. Eigentlich tat sie das schon seit einiger Zeit. Eigentlich schon, seit er denken konnte. Als er gerade laufen lernte, fing sie an, über Schmerzen in der Brust zu klagen. An das rasselnde, schreckliche Geräusch, das ihre Lunge nur ein paar Wochen später begann von sich zu geben, würde er sich selbst noch erinnern können, wenn er hundert Jahre alt war. Damals war er zu jung, um zu verstehen, dass seine geliebte Mutter schwer krank war, aber er verstand sehr wohl, dass sie litt. Sie litt so sehr.
Anfangs gab es noch so etwas wie Hoffnung. Die Chemo schlug an, sie verlor zwar ihr langes schwarzes Haar, aber noch längst nicht das Leuchten ihrer hellgrauen Augen. Mittlerweile war es erloschen, das Leuchten, und ihr Blick war müde geworden. Sie war schrecklich müde und kraftlos. Hätte sie nicht ihren kleinen, wunderschönen Sohn und ihren liebevollen, vielleicht etwas überarbeiteten Mann, hätte sie sich wohl schon längst der Schläfrigkeit hingegeben. Doch jetzt hatte sie aufgegeben, auch wenn sie ihrem Kind versprochen hatte, genau das nie zu tun. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihm zu schwören, dass sie es schaffen würde, aber sie liebte ihn so, so sehr.
Und so war es sein hübsches, kindliches Gesicht, das sie zuletzt sah, bevor sie aufhörte zu sehen, aufhörte zu atmen und aufhörte zu leiden.
Wenn man nun glaubt, dass es nach solch einem furchtbaren Tag für ein Kind, das gerade den Kindergarten verlassen hat, nur noch besser werden kann, dann irrt man. Es wurde nicht besser. Nur gewöhnlicher. Der Schmerz wurde zu einer Dauererscheinung des einst so fröhlichen Jungen. Er hatte seine Mutter so sehr geliebt und doch hatte er sie nicht vor dem Tod beschützen können, der gierig seine Hände nach ihr ausgestreckt hatte. Sie hatte ihn immer beschützt, doch er war nicht in der Lage gewesen, das Gleiche für sie zu tun.
Die Trauer wich Zorn. Er wurde furchtbar zornig nach einer Zeit. So zornig, dass er bald nicht mehr zur Schule gehen konnte. Nicht, weil er mit dem Stoff nicht zurechtkam, nein – tatsächlich war er ein äußerst intelligentes Kind –, sondern weil er gefährlich wurde. Anfangs waren es nur, vermeintlich aus Übermut, Schubser, die sich rasch zu Prügeleien mit seinen Mitschülern entwickelten. Der Schmerz pulsierte mit solch einer Kraft in seiner schmalen Brust, dass er hoffte, ihn loswerden zu können, wenn er sich selbst losließ und Sachen tat, die er zuvor nie getan hatte. Es war nicht so, dass es ihm gefiel, anderen wehzutun, dafür war er viel zu sehr das Kind seiner Mutter. Aber er wurde blind, blind vor Wut und vor Schmerz. Meistens merkte er erst, was er angerichtet hatte, wenn er selbst oder das andere Kind mit einer blutigen Nase oder einem gebrochenen Arm am Boden lag. Zu Anfang erschreckte er sich noch vor sich selbst und dem, wozu er fähig war, doch irgendwann stellte er fest, dass es angenehm war. Weil das körperliche Leid oder die Bestrafungen für sein Handeln für einen Moment präsenter waren als der Krieg, der in seinem Inneren loderte.
Nachdem ein Mädchen unter mysteriösen Umständen eine Treppe hinuntergestürzt war und sich dabei das Bein gebrochen und eine Platzwunde zugezogen hatte, musste er die Schule verlassen. Fortan wurde er privat unterrichtet, so, wie sein Vater es eigentlich immer gewollt hatte. Seine Mutter war diejenige, die sich dagegen ausgesprochen hatte, weil sie wollte, dass ihr Sohn normal aufwuchs, auch wenn seine Eltern mehr Geld als die meisten hatten. Jetzt war sie tot und zu ihrem Jungen kam jeden Tag ein Lehrer nach Hause, in das palastartige, prächtige Gebäude, das trotz all seiner kostbaren und teuren Möbel und Gemälde vollkommen arm war. Es war leer, weil die Liebe fehlte.
Vielleicht war es die Schuld seines Vaters, dass er so geworden war. Er hätte für ihn da sein müssen, aber wie soll man für jemanden da sein, wenn man nicht mal mit der eigenen Trauer fertig wird? Das Ergebnis waren zahllose Nächte, in denen er sich in seiner Firma in Arbeit stürzte,
und ein Haus, das bald nur noch von einem Kind bewohnt wurde, das gerade in dieser Zeit nicht hätte allein sein sollen. Es tat ihm leid, dass er sein eigen Fleisch und Blut so im Stich ließ, aber er konnte nicht anders. Um sein schlechtes Gewissen irgendwie zu beruhigen, machte er ihm teure Geschenke, überwies ein mehr als übertriebenes Taschengeld und sorgte dafür, dass sein Junge keinen Finger im Haushalt rühren musste.
Das machte die Sache nicht besser, nicht mal ein bisschen, aber es betäubte den Schmerz zumindest eine Zeitlang. Zumindest, bis er abends von der Haushälterin ins Bett gebracht, zugedeckt und allein gelassen wurde. Und – das wurde ihm immer wieder bewusst, auch wenn er sich dafür schämte – es tat nicht annähernd so gut wie die Prügeleien mit seinen ehemaligen Mitschülern. Der Schmerz verkroch sich in ihm, bis das Licht ausgeschaltet wurde und er die Augen schloss. Dann meldete er sich wieder, wand sich eng in seiner Brust und schnürte ihm die Luft ab. Als hätte jemand einen Schraubstock um seine Lunge gelegt. So musste sich seine Mutter gefühlt haben, als sie von innen langsam vom Krebs zerfressen wurde, und doch konnte der Kleine sich nicht vorstellen, dass irgendjemand auch nur ansatzweise das nachempfinden konnte, was er Nacht für Nacht erlebte.
Er schlief nicht, zumindest nicht richtig. Manchmal lag er bis zum Morgengrauen wach und kämpfte sich mit roten, brennenden Augen und schmerzenden Gliedern aus dem Bett, vollkommen unfähig auch nur ein Auge zuzumachen, obwohl er doch so unglaublich müde war.
Er starb, vielleicht nicht körperlich, aber innerlich starb er. Das Kind, das Leuchten, das einst in ihm gelebt und mit den Sternen getanzt hatte, starb. Jeden Tag wurde er ein bisschen kälter, ein bisschen grausamer, ein bisschen weniger lebendig. Er war gemein zu den Menschen, zu denen er überhaupt noch Kontakt hatte, weswegen sein Umfeld jegliche Annäherungen irgendwann gänzlich einstellte.
Dabei war Nähe genau das, was er so dringend brauchte. Er brauchte seine Mutter und er brauchte seinen Vater, die beide irgendwie aus seinem Leben verschwunden waren, weswegen er all das verlor, was ihn einst zu dem gemacht hatte, was er war: Er war glücklich gewesen. Er war einmal so glücklich gewesen.
Nicht mal ein Jahr, nachdem seine Mutter ihn verlassen hatte, war er so weit vom Glücklichsein entfernt, dass er in psychologische Betreuung gebracht werden musste. Nicht sein Vater war es, der erkannte, dass sein Sohn eine Therapie, dass er Hilfe brauchte, sondern die Angestellten, die
nach und nach kündigten, weil sie das Leid nicht mehr mit ansehen konnten. Und weil er giftig war zu ihnen, obwohl er dafür nichts konnte. Die Haushälterin, die zuletzt die Flucht ergriff, benachrichtigte die richtigen Leute, die sich um den kleinen, gebrochenen Jungen kümmerten.
Zumindest versuchten sie es, wenn auch mit wenig Erfolg. Es war das letzte Mal für einige Jahre, dass jemand sich für sein Leben interessierte. So sehr er sich auch versuchte zu öffnen, es gelang ihm nicht. Er konnte nicht. Er konnte einfach nicht mit ihnen sprechen. Er konnte nicht mal weinen, wenn die Frau einmal in der Woche zu ihm kam, sich mit ihm in sein vollgestopftes, aber lebloses Kinderzimmer setzte und versuchte, ihm zu helfen. Obwohl sein Vater sie gut bezahlte, war sie nicht erfolgreich. Auch sie verließ ihn nach einiger Zeit. Das letzte bisschen Hoffnung, dass sie es irgendwie auf einem sanften Weg schaffen würden, ihn aus den Tiefen seiner eigenen Finsternis zu holen, verschwand.
Kurz bevor er in eine Einrichtung eingewiesen werden konnte, die man als seine letzte Rettung bezeichnete, lernte er jedoch Erik kennen.
Und dann wurde alles besser.