Sieben
Alles fühlt sich so leicht an, so unbeschwert. Selbst das Wasser, jeder einzelne Tropfen scheint mich in Friede zu wiegen, während ich auf den Grund warte. Etwas Endgültiges, etwas, das ich identifizieren kann. Da ist nur diese Blase um mich herum. Eine dicke Membran, die mich sicher in sich trägt. Doch etwas durchbricht dieses Vakuum und jede Berührung dieses Fremden schmerzt und scheint mich dem Tod entreißen zu wollen.
Lass mich, lass mich gehen.
Die Wärme um mich herum entweicht gnadenlos. Klirrende Kälte drückt auf meinen Brustkorb. Holz in meinem Rücken, an meinem Hinterkopf, dem Po, den Oberschenkeln, den Fersen. Stimmen um mich, viel zu laut, etwas presst mit voller Gewalt auf meine Rippen. Obwohl der Schmerz unerträglich ist, tönt das Schreien nur in meinem Inneren.
Tief in mir gurgelt es.
Kann die Augen nicht öffnen.
»Atme, verdammte Scheiße.«
Ich. Will. Nicht.
So sehr ich mich dagegen sträube – plötzlich strömt Wasser aus meinem Mund und viel zu viel Luft ersetzt die Flüssigkeit. Ruckartig drehe ich mich zur Seite, um zu husten und alles auszuspucken, bis das Gurgeln verklungen ist.
Der Schmerz, das Feuer in meiner Brust lodert weiter.
Es fühlt sich an, als würde jemand einen glühenden Faden durch die Mitte meines Brustkorbs ziehen und mich daran aufhängen. Wie eine flammende, tote Marionette.
Jemand streicht mir über den Schopf, während noch mehr Seewasser aus mir herausfließt. Meine Sicht ist verschwommen und so schließe ich die Augen nach dem kleinen Blinzeln, das ich zustande bringen konnte.
»Lass sie doch sterben.«
»Selbst schuld.«
»Sie will es doch.«
Stimmt, sie will es doch. Ihr hättet es einfach nur geschehen lassen müssen.
Der Faden zieht sich durch mein Fleisch, zwirbelt an den Rippen vorbei, ätzt die Haut weg. Wie ein heißer Draht. Ich sterbe.
»Haltet jetzt alle eure Klappe!« Das war er. Casper. Und er hebt mich auch hoch. Lass mich zurück in den See fallen, lass mich untergehen.
Bitte.
Verstehst du nicht, dass ich zurück möchte? Dass ich mich das erste Mal, seit ihr mich meinem Zuhause entrissen habt, wirklich frei gefühlt habe?
Heiße Tränen quellen durch meine Wimpern.
»Mach die Augen auf, Caja.«
Nein. Ich will ihn nicht ansehen. Dass ich weinen muss, ist beschämend genug. Ich wollte vor ihm nicht weinen.
»Bitte.«
Nein.
Ein leises Seufzen ertönt, dann legt er Hand an. Er, Casper. Das weiß ich. Mein Oberkörper wird hoch gestützt und festgehalten. Schluchzend öffne ich nun doch die Augen. Er hockt neben mir, sieht mir schweigend beim Heulen zu, bis ich beginne zu zittern.
»Du musst aus den nassen Klamotten raus.«
»Als ob es dich interessiert.«
Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch. Übermut tut verdammt nochmal gut. Und es lässt die Tränen versiegen. Wortlos zieht er mir das Oberteil und die Hose aus, während ich auf sein Gesicht achte. Nichts, da ist absolut nichts. Er wirkt fast routiniert, schon nahezu gleichgültig. Als er meine fleckigen Oberschenkel sieht, hält er einen Moment inne, bevor er mir vorsichtig eine neue Hose überstreift. Das Oberteil ist lang und warm, wodurch die Kälte etwas abnimmt.
»Du wirst jetzt was essen«, informiert er mich. Er hat mir ein wenig Zeit für mich gelassen, in der ich mich auf der Couch beruhigt und aufgewärmt habe, während er die anderen beiden Typen weggeschickt hat. Noch ehe ich etwas sagen kann, liegt ein heißer Teller mit einer undefinierbaren Flüssigkeit in meinem Schoß. Misstrauisch rühre ich mit dem Löffel darin herum.
»Ich esse das nicht.«
»Dann stirb halt.«
»Schön.«
Wieso habe ich das unangenehme Gefühl, ihn langsam besser kennenzulernen? Mittlerweile habe ich keine Angst mehr vor ihm, was ich selbst nicht verstehe. Angst würde mir vermutlich guttun, mich schützen. Aber vor Casper habe ich keine Angst mehr.
Vielleicht, weil er nicht mal annähernd so grob ist, wenn seine Freunde nicht da sind, auch wenn er das mit aller Macht versucht zu verstecken.
»Du willst nicht, dass ich dich dazu zwinge, Caja«, murrt er drohend.
Stöhnend tue ich, was er sagt. Weil ich tatsächlich essen muss.
Und weil eine kleine, leise Stimme in meinem Inneren mir sagt, dass ich ihn nicht vor den Kopf stoßen will.
Wie bescheuert ist das bitte? Ich will
eklig zu ihm sein. Ich habe das Recht dazu, eklig zu sein.
Aber ich bin es nicht, sondern löffle stumm meine Suppe.
Er beobachtet mich dabei und lächelt sogar leicht. Das ist ungewohnt an ihm. Ein Grinsen, Auslachen, Feixen ist so anders.
»Du bist sechzehn, hm?«
»Siebzehn. Nächsten Monat achtzehn«, verbessere ich ihn, woraufhin er langsam nickt.
»Das Gespräch vorhin ist ja leider ziemlich schnell eskaliert. Du solltest wissen, dass du keinesfalls Teil des Plans warst«, erzählt er nüchtern. Ach, es gab einen Plan? Kaum zu glauben.
»Das mit der Eskalation habe ich gemerkt.«
Die Art, wie er die Lippen verzieht, sieht aus, als hätte er Zahnschmerzen. »Tut mir leid.«
»Tut es nicht.« Er nimmt mir den Teller aus der Hand, um ihn auf dem Couchtisch abzustellen. Langsam setzt er sich wieder zu mir, mustert mich und schweigt.
»Und noch eins, Caja: Der Plan hat sich verändert.«
»Seit wann?« Ein ungutes Gefühl macht sich in meinem Magen breit und Hitze wallt in mir auf. Die Kälte scheint zu tanzen. Abwechselnd mit aufwallender Hitze. Einbildung, alles Illusion. Das ist nicht echt, Caja.
»Seit ich dir was ins Essen gegeben habe.« Ungläubig starre ich ihn an, versuche zu begreifen, was er da gerade gesagt hat.
»Nur ein Scherz«, widerruft er sich, leise kichernd. Das Grummeln in meinem Bauch legt sich wieder. Ich presse die Lippen aufeinander. Findet er das lustig? Denkt er, das hier sei ein verdammter Witz? Für wen hält er sich bitte?
»Hör auf mit dem Scheiß und rede ordentlich mit mir«, fauche ich wütend. Überrascht zieht er die Augenbrauen in die Höhe.
»Was erwartest du, Caja?«
»Sag nicht dauernd meinen Namen. Ich weiß, wie ich heiße.« Und ich habe eindeutig zu viel Mut geschluckt.
»Dann sag es mir halt so«, murmelt er.
»Die Frage ist doch wohl eher, was du erwartest. Was wird das hier? Ich sehe keinen Sinn. Dieser verfluchten Villa nach habt ihr anscheinend genug Geld. Und du warst ziemlich überrascht, als du mich in meinem Zimmer gefunden hast. Dass ihr mich mitnehmen musstet, klingt sogar noch irgendwie logisch, aber das, was ihr jetzt tut, ist einfach nur grausam. Warum tut ihr mir so weh? Worauf wollt ihr hinaus?« Wütend funkele ich ihn an.
»Sag es mir. Wenn ihr mich umbringen wollt, damit ihr mich los seid, dann macht das bitte schnell und schmerzlos.« Meine Stimme zittert. »Aber nicht so.«
Für einen Moment bilde ich mir ein, zu ihm durchgedrungen zu sein. Er sieht mich so
seltsam an.
Doch bevor er endgültig einknicken kann, schüttelt er den Kopf, steht auf und läuft zur Kücheninsel.
»Hättest lieber doch nichts sagen sollen.« Ehe ich mich abwenden kann, presst er einen übel riechenden Lappen in mein Gesicht. Blind schlage ich um mich, aber das beeindruckt ihn nicht im Geringsten. Eine seltsame Schwere legt sich auf meine Lunge. Ähnlich wie im Wasser. Meine Kräfte schwinden und alles wird so zäh wie Zeit.
»Lass sie doch selbst laufen. Die Schlampe tut doch nur so, damit du sie trägst.« Wieder wünschte ich, sie hätten mich schlafen lassen. Jetzt spüre ich genau die Fesseln, wie sie in meine Haut schneiden, und ich ziehe zu auffällig die Luft ein.
»Sie kann nicht laufen, Idiot. Du hast sie fast umgebracht.«
Blinzelnd öffne ich die Augen, um festzustellen, dass ich in einem Kofferraum liege. Caspers Freund, der Biertrinker, ist da, aber ich schaffe es ohne mit der Wimper zu zucken zurückzustarren, während sie mich mit vor der Brust verschränkten Armen mustern. Es ist Casper, der sich als Erstes regt, um mich aus dem Auto zu heben.
»Das Prinzesschen wird auch mal wach, unglaublich.«
Sie lassen mir Raum zum Umsehen.
»Schön hier, nicht? Bei dir zu Hause ist es zwar schöner, aber ich glaube, du solltest dich mit dem hier zufriedengeben.« Kann der nicht einfach seine Fresse halten? Casper schüttelt auch nur den Kopf. Wir sind auf einem riesigen und komplett leeren Parkplatz. Angrenzend türmt sich ein würfelartiges, heruntergekommenes Gebäude auf, das ich eine Weile anstarren muss, bis ich es als Schwimmhalle identifiziere. Keine Ahnung, wo wir sind. Der Parkplatz wird von der Halle und an den anderen Seiten von einem hohen Zaun begrenzt. Oben Maschendraht, hier und da ein paar Müllsäcke und abgeladene Autoreifen. Absolut keine Chance zu fliehen, obwohl mir bewusst ist, dass sie mit dem Wagen ja irgendwie hier raufgekommen sein müssen.
»Genug geglotzt«, werde ich plötzlich angeherrscht, während Casper sich in Bewegung setzt. Sein Freund mustert mich nur verächtlich.
Kranker Bastard, zum Vögeln habe ich dir gereicht.
Und klar, abgeschlossen ist diese blöde Halle auch nicht. Es riecht alt und verlassen, während Casper sich beeilt, durch die kleineren Gänge ins Innere zu kommen. Wir müssen durch mehrere Türen, bis wir schließlich in der ehemaligen Empfangshalle ankommen. Die Drehkreuze neben der Kasse, die Schließfächer, die abgeklebten Türen nach draußen. Wir befinden uns hinter den Plätzen für die Kassierer, wodurch wir nicht mehr durch die Schleuse müssen.
»Und wir sind jetzt hier, weil …?«
»Weil man’s hier nicht hört, wenn du schreist«, antwortet Casper nüchtern.
Nicht weinen.
Das ist kein Scherz, das meinen sie ernst.
Wenn ich wirklich geglaubt habe, Casper etwas weichgeklopft zu haben, dann habe ich mich geirrt.
Der Typ ist ein beschissener Wichser und ich könnte mich selbst dafür schlagen, so blöd und naiv gewesen zu sein.
Sie bringen mich in eine Frauenumkleide, wo wir von einer unheimlichen Dunkelheit umfangen werden. Auch hier sind wieder Schließfächer, die langsam vor sich hin rosten, und die Wände sehen schon angegammelt aus, soweit man das im spärlichen Licht erkennen kann. Casper setzt mich auf der Erde ab. Mir fällt auf, dass es hier gar keine Bänke mehr gibt. Nichts, wo man mich festbinden könnte. Zu schade. Aber er ist erfinderisch und knotet kurzerhand alles so um, dass meine Hände an die Füße gebunden sind. Sich theatralisch die Hände abklopfend, steht er auf.
»So, dann mach dir ’n schönes Leben«, feixt sein Freund, bevor sie sich zum Gehen wenden.
»Bitte was?« Ziemlich unbeholfen rüttele ich mit den Armen, aber es passiert nichts. Der andere Typ zieht die Augenbrauen hoch und mustert mich.
»Das könnt ihr doch nicht machen«, sage ich schrill. Da kommt verdammt viel Angst in mir auf.
»Können wir.« Sie drehen sich beide um und mir, mir platzt der Kragen.
»Bleibt stehen, ihr beschissenen Flachwichser!«, schreie ich sie an. Tatsächlich, sie halten inne. Casper strafft die Schultern. Der andere Typ lässt sich da weniger Zeit. Ohne ein Wort springt er ruckartig herum. Kurz darauf spüre ich seinen Griff an meinem Kinn. Da ich weder stehen noch irgendwas anderes kann, legt sich mein Kopf nur immer weiter in den Nacken.
»Erik.« Er lässt nicht los.
»Erik, es reicht.«
»Halt’s Maul, Casper. Die Hure ist selbst schuld.«
Ja, die Hure ist selbst schuld. Das spürt die Hure auch, als sie nach hinten gestoßen wird und sich alles dreht. Wie Schmetterlinge. Nur nicht im Bauch, sondern im Kopf. Erschießt die Mistviecher, jetzt. Tretet auf sie ein! Das brauche ich nicht auszusprechen, das weiß dieser Erik auch so. Auf dem Boden liegend lasse ich alles wie Donnerschläge auf mich wirken und warte, bis es aufhört wehzutun.
Es ist wie fliegen.