Zehn
»Caja, Caja wach auf. Alles ist gut, wirklich. Er ist wieder weg!« Nichts. Nichts ist verdammt nochmal gut. Mir tut viel zu viel weh, um sagen zu können, alles sei gut. Ich liege auf einer dunkelledrigen Couchlandschaft und das von vorhin – Halluzinationen? – scheint wie weggeblasen. Wie viel Zeit wohl verstrichen ist? Minuten? Stunden? Tage?
Casper sitzt mit einem Blick, den ich nicht lesen kann, neben mir. Er sagt nichts, lässt mir einfach Zeit, richtig wach zu werden, während er eine Flasche zwischen den Händen hin und her wandern lässt. Von so viel Bewegung wird mir schwindlig.
»Trink was.« Zwar gibt er sich die allergrößte Mühe, desinteressiert und distanziert zu wirken, als er mir hilft, aber das gelingt ihm nicht. Sein Kern scheint wohl doch nicht so hart zu sein, wie er tut.
Das Wasser schmerzt, obwohl ich furchtbar durstig bin.
Am liebsten würde ich weinen, doch was würde mir das bringen? Vielleicht zeigt Casper dann Mitleid, vielleicht tröstet er mich sogar. Aber wird er mich zu einem Arzt bringen? Wird er mich freilassen, weil ich ihm leidtue? Weil es ihm leidtut?
Wird er nicht. Wäre er so vernünftig und einfühlsam, hätte er mich gar nicht erst entführt, denn das war verdammt unvernünftig.
Und trotzdem hat er mich gerettet, indem er mich aus dem See gefischt hat, was ich bis jetzt nicht verstehe. Wieso hat er den Dingen nicht einfach ihren Lauf gelassen? Wieso hat er es sich nicht einfach gemacht?
Wieso hat er sich offenbar von seinen Gefühlen oder zumindest dem schlechten Gewissen leiten lassen?
Ich verstehe ihn nicht, wirklich nicht. Nur eins weiß ich: Er wird mich nicht sterben lassen. Sei es, weil er Spaß daran hat, mich zu demütigen, oder einfach aus Angst vor den Konsequenzen.
Wenn ich nicht sterben darf, dann muss ich versuchen zu leben. Es ist schier unmöglich, weiterhin in dieser Lage nur noch zu existieren. Ich muss hier weg. Doch wenn ich mal realistisch bleibe, dann wird eine Flucht unmöglich, solange Casper lebt. Er würde mich einholen binnen Sekunden. Und ich will mir nicht ausmalen, was dann geschieht. Zumindest sollte ich bewaffnet sein, wenn ich hier rauskomme. Er sitzt immer noch neben mir, beobachtet mich beim Nachdenken, wobei er keine Ahnung hat, worüber ich gerade grübele. Mein Plan, der genau genommen nicht mal ein Plan ist, kann gewaltig in die Hose gehen, aber ich muss
es versuchen. Ein letztes Mal. Ruckartig fahre ich spontan hoch, wodurch sich das Wasser über mein Oberteil ergießt. Casper verkneift sich einen bösen Kommentar, bevor er die Flasche auf dem Couchtisch abstellt.
»Ich hole dir ein sauberes Shirt«, murmelt er nur und steht auf. Als ich es auf der Treppe poltern höre, weiß ich, dass der Moment gekommen ist. Jetzt, genau jetzt. Meine Beine tun schon nach wenigen Metern laufen weh, aber ich kann jetzt nicht anhalten. Das Wohnzimmer ist riesig, so schwer habe ich es mir nicht vorgestellt. Humpelnd schleppe ich mich an einem großen Tisch und einem Aquarium vorbei und schaffe es in die angrenzende Küche. Mein Trommelfell vibriert vor Aufregung, der Kopf dröhnt. Die Schubfächer knallen laut, als ich sie aufreiße, weswegen ich vor Angst, erwischt zu werden, zusammenzucke. Aber ich brauche ein Messer und das finde ich auch. Der Griff in meiner Hand gibt mir so viel Sicherheit, dass augenblicklich eine riesige Last von meinen Schultern fällt.
So weit, so gut.
Als ich mich jedoch umdrehe, bleibt mir das Herz stehen. Casper steht direkt hinter mir. Die Knie leicht gebeugt, die Hände vor sich gehalten. Er war so kurz davor, mich zu stoppen, bevor ich überhaupt beginnen konnte. Laut keuche ich auf und stolpere einige Schritte nach hinten. Das Messer in meiner Hand abwehrend vor mir, versuche ich keine Angst zu zeigen, obwohl mein Herz so schnell schlägt, dass es schmerzt.
»Caja …«, flüstert er entsetzt, während er auf mich zugehen will, aber ich spanne den Arm an und hole aus. Der Klinge kann er gerade noch so ausweichen, schafft es aber mit dem Fuß meinen Magen zu treffen, womit er mich nach hinten gegen die Küchenzeile schubst. Das Messer, das locker dreißig Zentimeter lang ist, rutscht mir aus der Hand und landet klirrend auf den Fliesen.
Einen Atemzug lang rührt sich niemand, bis wir uns beide auf die Erde stürzen. Meine Rippen brennen, die Luft wird knapp, aber ich kann mich zusammenreißen. Er schlägt meinen nach der Waffe greifenden Arm weg, greift um meine Taille und zieht mich nach hinten, um über mich zu klettern, aber ich ramme ihm meinen Ellenbogen genau dahin, wo kein Mann einen Ellenbogen haben möchte.
»Scheiße, Caja!«, flucht er auf, womit er mir einen Augenblick Vorsprung gewährt, in dem ich wieder den Griff zwischen die Finger bekomme. Doch Casper schafft es schnell, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sein einer Arm schlingt sich erneut um meine Hüfte und während er mich hochhebt, versucht er, meine bewaffnete Hand zu fassen zu kriegen. Dabei gelingt es ihm aber nur, meinen Arm zu packen. Ich strampele mit den Beinen in der Luft, ignoriere alle Schmerzen und will das Messer über meine eigene Schulter nach hinten rammen.
»Caja, nicht!«, ächzt er atemlos.
Wenn ich ihn mit der Klinge treffe, ist er tot.
Dann ist er definitiv tot.
Mein Zögern dauert zu lange. Urplötzlich trifft mich ein Knie in den Rücken, wodurch ich vollkommen überrumpelt aufkeuche. Jegliche Spannung in mir löst sich. Casper entreißt mir geistesgegenwärtig das Messer, meine einzige Möglichkeit, hier wegzukommen. Das letzte Stück Hoffnung, das ich noch habe, ebbt ab.
Was bleibt, ist eine unfassbare Wut. Blind schlage ich um mich, völlig überfordert mit der Tatsache, dass ich es schon wieder nicht geschafft habe.
Casper legt nun auch seinen anderen Arm um mich. Das bemerke ich zu spät, wodurch sich Dank meiner Strampelei auf einmal die Klinge über meine Seite zieht. Ein scharfer, siedend heißer Schmerz wallt über meinen Oberkörper, als meine Haut aufspringt und auseinanderblättert wie ein Graben im Erdboden.
Habe ich nicht genug gelitten?
»Du bist so ein Idiot«, murmelt Casper in meinen Nacken, bevor er sich meiner Machtlosigkeit bedient. Während das Stechen zunimmt, legt er mich langsam auf dem Boden ab und das Messer beiseite. Meine Finger krallen sich in meine Oberschenkel. Ich wage es nicht, zu atmen. Casper kniet sich neben mich, um mir das Oberteil hochzuziehen.
Ich drücke meinen Rücken durch und brülle auf. Meine Seiten werden warm, alles läuft herab. Fließt davon, den Boden entlang.
Da ist Blut, so viel Blut.
»Alles gut, wir kriegen das hin.« Nichts kriegen wir hin. Wenn ich sterbe, gehst du nicht mit, Casper. Ich bin dann alleine. Und ich will nicht sterben, jetzt, da es vielleicht so weit ist. Der Tod wird auf einmal so abstoßend.
Belanglose Gedanken schieben sich in mein Bewusstsein. Ich denke an seine Augen, bevor ich den Halt verliere.
Das Erste, was ich spüre, während ich zu mir komme, ist die unglaubliche Hitze. Mir ist unfassbar warm. Das muss von dem Schnitt kommen, anders ist das nicht zu erklären. Blind taste ich nach der Wunde. Das Shirt ist weg, doch etwas spannt an der Stelle. Da ist so eine Art Pflaster, das mich vor dem Auslaufen schützt. Es nimmt mir jegliche Bewegungsfreiheit. Als ich kehlig husten muss, habe ich das Gefühl, alles wieder aufzureißen. Zwei kühle Hände greifen nach meinen Fingern, um sie wieder neben meiner Taille zu positionieren. Ich blicke Casper entgegen, der neben mir steht.
»Lass das lieber. Sonst blutet es wieder«, murmelt er.
Selbst schuld, muss ich wohl nicht erwähnen.
Schweigend wische ich mir mit der Hand über die schweißnasse Stirn, während er mich tonlos mustert.
»Fieber ist wieder hochgegangen.«
Welch ein Wunder!
»Hast du das nicht desinfiziert, oder was?«, gifte ich und habe ehrlich keine Ahnung, woher ich meinen Mut nehme. Eigentlich rechne ich sogar schon fest damit, dass ihn das wütend machen wird. Zuzutrauen wäre es ihm.
»Klar habe ich das«, antwortet er überraschend resignierend, bevor er mir was zu trinken gibt.
»Du solltest mal wieder etwas essen.« Schon bei dem Gedanken wird mir übel, aber er hat recht. Ich will mich aufsetzen, aber das ist so ziemlich dasselbe Gefühl, als würde ich mich gleich nochmal verletzen. Absolut am Boden angekommen, muss ich mich füttern lassen.
Falls er das gekocht haben sollte, ist er gar nicht so übel. Aber wie gesagt – ich habe wirklich keinen Appetit. Er zwingt mich nicht lange, dagegen anzukämpfen und trotzdem zu essen.
»Wir sollten langsam mal überlegen, was wir machen.« Mir ist sofort klar, dass es nicht um meine Nahrungsaufnahme geht.
»Willst du mich jetzt töten, oder was?«
Amüsiert grinst er.
»Wenn ich das vorhätte, dann wäre es schon längst geschehen. Oder ich hätte dich nicht aufgehalten dabei.« Tja, wo er recht hat, hat er recht.
»Ich hab ’ne Idee.«
Er zieht die Augenbrauen hoch und scheint zu warten, dass ich fortfahre.
»Du lässt mich gehen und ich erzähle es niemandem.« Das ist so dämlich, dass wir beide lachen müssen. Vielleicht sind wir uns sogar ähnlich. Wir lachen über die selbe beschissene Sache. Nur gibt es da einen Unterschied. Ich beginne Blut zu husten, er nicht.