Zwölf
Die Schleier sind zu dick, um schon beim ersten Blitz aufzuwachen. Immer wieder versuchen Stimmen, sie zu durchbrechen, doch ich bin ein tiefer, dunkler, lautloser Ozean. Die Wellen an der Oberfläche mögen noch so sehr übereinander herfallen und einstürzen – hier unten bekomme ich davon nur ein müdes Rauschen mit.
Es ist so unglaublich schön. Weiche Tücher legen sich sanft um meine Brust, hüllen mich ein. Es ist seltsam, schließlich bin ich körperlos im Moment. Der weiße Stoff legt sich wie eine sanfte Schlinge um mich und zieht mich langsam hinauf.
»Schon gut, schon gut. Es wird alles gut.« Ich flattere mit meinen tränennassen Wimpern, merke, dass ich weine, und dort, wo gerade noch Seidigkeit lag, schnürt sich alles zusammen. Es ist nicht mehr schön.
Und dann sind da diese unfassbar starken Arme, die mich halten, als ich mich loslassen will. Seine Hände legen sich auf meinen Rücken und mit den Fingerkuppen streicht er sanft über meine Wirbelsäule. Die andere Hand liegt an meinem Hinterkopf und macht meine Haare bauschig.
»Es tut mir so leid«, flüstert er nahe meinem Ohr. »Ich habe ihn nur eine Sekunde aus den Augen gelassen, als ich aufs Klo musste. Da hat er mich im Bad unten eingesperrt.« Ein Ziehen windet sich durch meinen Magen. Wie heißer Konfettiregen, es ist schön. Ich lege meine Hände auf seine Brust und schiebe mich nur ein kleines Stück von ihm weg, damit ich seine Augen sehen kann. Der Hass ist fort, das Schiefergrau wirkt nahezu weich.
Wieder platzt etwas in mir drinnen, wie der Kokon eines Schmetterlings. Und obwohl es so wunderschön ist, kann ich nicht aufhören zu weinen.
»Es tut mir so leid«, murmelt er wieder und drückt mich sachte an sich. Paradox, dass ich mich noch nie so sicher gefühlt habe.
Es dauert sehr lange, bis er mich vorsichtig hinlegt und ich aus diesem schützenden Käfig geschubst werde. In meinem Schritt brennt es, es brennt wie Feuer. Und ich kann mein Bein immer noch nicht heben.
»Es ist gebrochen.« Meine Finger fahren neben meiner Hüfte rauf und runter, das Zittern ist so unglaublich stark. Bis ich seine Hand finde und danach greife.
Er ist Halt.
»Wir gehen fort von hier, Caja. Ich bringe dich zu einem Arzt.«
Ich will nie wieder aufstehen. Ich will schlafen, in meinem Meer. Er bemüht sich, dass es nicht wehtut, als er mich hochhebt. Er gibt sein Bestes, aber er ist kein Zauberer. Nachdem er mich ins Bad gebracht hat, lässt er mich meinen Körper betrachten.
Der Spiegel müsste brechen.
»Du bist wunderschön.«
Als ich auf der Toilette sitze, schreie ich laut auf. Er passt auf, dass ich nicht vorne überkippe. Er hält mich. Dann bringt er mich in die Garage und legt mich auf die Rückbank seines Wagens.
»Brauchst du noch was?«, fragt er leise. Seine Augen scheinen zu schmelzen.
»Kann ich eine Decke haben? Mir ist kalt«, bitte ich. Er nickt stumm. Als er wiederkommt, mit einer Reisetasche beladen, die er auf den Beifahrersitz stellt, zieht er eine Steppdecke von seiner Schulter und legt sie über mich.
»Hast du es geschient?« Noch habe ich mich nicht getraut, nachzusehen.
»Nein. Habe nur ein paar nasse Tücher rumgewickelt.« Ich schenke ihm eine winzige Andeutung eines Lächelns, das er erwidert.
»Wir fahren eine Weile. Du solltest etwas schlafen.«
Ich werde schlafen, bis ich sterbe.
Es tröpfelt leicht, als ich zu mir komme, wie Regen. Er hat es tatsächlich geschafft. Es ist nicht einfach, sich zu bewegen, da mir etwas in der Nase klebt und an einem Schlauch wegführt. Die schneeweiße Decke ist bis zu meiner Hüfte hochgezogen und lässt das verletzte Bein frei. Es ist verbunden und in meinem Arm steckt eine Nadel. Rechts neben meinem Bett sitzt Casper. Nun ja, eigentlich liegt er. Den Oberkörper auf meine Matratze gebettet. Eine Schwester kommt rein und prüft die Geräte. Sie lächelt mir leicht zu, sagt aber nichts. Sie wird meine Sprache wohl nicht sprechen. Dann geht sie und ich dämmere wieder weg in einen tiefen, schmerzlosen Schlaf.
Diesmal ist er auch wach. Er sieht mich lange an, nimmt dann schweigend meine Hand und verschränkt unsere Finger miteinander. Irgendwann beginnt er zu erzählen. Sie haben mich operiert. Gestern schon.
»Du warst sehr lange ohnmächtig.«
Das kann ich mir vorstellen.
»Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich leise, halte seinen Blick fest.
»Du musst noch ein paar Tage bleiben. Ich verstehe die hier zwar nicht wirklich, aber man hat mir irgendwie halbwegs gut übermittelt, dass du eine Gehirnerschütterung hast. Also, denke ich mal. Und du hast gebrochene Rippen.« Er spricht nicht weiter, weil jetzt nur noch eine Frage offenbleibt.
»Da unten ist nichts ernsthaft kaputt.« Erst muss ich nur grinsen, dann lachen. Er lacht nicht, sieht mich einfach nur irritiert an. Ich will mich aufsetzen, aber er schiebt mich an der Schulter wieder zurück.
»Brauchst du etwas?« Ich nicke, er ist noch vorgebeugt und ich lege meine Hand an seine Wange.
Er ist warm. Kurz vergesse ich das Zittern. Seine Augen lenken mich wieder ab, sie sind so tief und weich.
»Nicht«, halte ich ihn murmelnd ab, als er sich wieder setzen möchte, und er versteht. Meine Hand legt sich in seinen Nacken und ich tue das wohl Falscheste, was man mit seinem Entführer machen kann. Seine Finger umrahmen meine Schläfe und Luftballons steigen in meinem Magen empor.
»Darf ich?«
Ich antworte nicht. Mit meiner wenigen Kraft schließe ich die Lücke zwischen uns, die unmittelbare Distanz. Nie hätte ich es mir so vorgestellt. Er ist so sanft, so vorsichtig.
Er darf. Kein bisschen fordernd lässt er mich entscheiden, wo es langgeht. Ich muss in den Kuss hinein lächeln und spüre seine Hände an meiner Taille. Meinen Brustkorb versucht er, nicht zu berühren. Er weiß, dass ich Schmerzen habe. Doch auch ohne sein Zutun muss ich mich von ihm lösen, um zu husten.
Es tut weh, es tut plötzlich wieder so weh und mir ist schwindelig. Ich atme tief durch, was es nur noch schlimmer macht, obwohl ich weiterhin das Gefühl habe, immer weniger Sauerstoff einzuziehen. Es wird immer und immer weniger. Irgendwann habe ich Mühe, die Augen offen zu halten. Neben mir piept es, sehr laut, sehr nervtötend. Casper sagt irgendwas, aber ich verstehe ihn nicht. Endlich, endlich kommt eine Schwester und schaltet neben mir irgendein Gerät ein. Etwas leuchtet mir in die Augen. Ich will schlafen.
Die nächsten Stunden gestalten sich in immer wieder eintretenden Wach- und Schlafphasen. Hauptsächlich habe ich allerdings meine Augen geschlossen und warte darauf, dass die Schmerzmittel wirken. Durch den endlich zugeführten Sauerstoff durch das Röhrchen in meiner Nase geht es mir auch besser. Casper lässt mir Zeit, mich zu erholen, und spricht nur mit mir, wenn ich es auch wirklich möchte. Er will mich nicht überfordern, drückt nur hin und wieder seine Lippen auf meinen Handrücken oder meine Finger. Er ist einfach da und das ist nicht länger etwas, das mir Angst macht, nein, er ist so was wie ein Fels in der Brandung. Es klingt absolut bescheuert, aber er rettet mich. Er hält mich davon ab aufzugeben, wenn es zu sehr wehtut, er drängt mich sanft dazu, etwas zu essen, auch wenn ich nicht kann oder möchte. Ich weiß, dass er recht hat, absolut, und deswegen nehme ich auch an, was er sagt.
»Schlaf noch ein bisschen.« Ich tue nichts anderes mehr, denn er weicht nicht von meiner Seite und zieht sanfte Kreise über meinen Arm mit seinen Fingerspitzen. Wie die Pirouetten einer Ballerina, wie ein Tanz. Nein, es ist ein Lied. Eine Melodie in meinem Kopf, die mich sanft abdriften lässt.