Dreizehn
Die folgenden Tage sind ein ziemlich unangenehmes Spiel aus guten und weniger guten Intervallen. Mal geht es mir sehr schlecht, mal könnte ich Bäume ausreißen. Das Ganze wird durch gerade für mein Umfeld nicht so sahnige Stimmungsschwankungen unterstrichen. Ich schreie Casper an, weil mein Kopf wehtut. Fünf Sekunden später tut mir schon wieder leid, was ich gemacht habe, doch er drückt nur seine Lippen gegen meinen Handrücken und lächelt mich an. Vielleicht, weil er einiges wiedergutzumachen hat, vielleicht. Immerhin ist er der Grund für das alles hier. Und das weiß er. Auch wenn ich mittlerweile nicht mehr abstreiten kann, dass ich Gefühle für ihn entwickele, kann ich das nicht schönreden. Er lässt mich keine Sekunde allein. Immer wenn ich wach bin, ist er da. Selbst wenn ich wollte, könnte ich den Ärzten und Schwestern nicht signalisieren, dass ich immer noch seine Gefangene bin. Vielleicht hat er sie sogar bestochen, damit sie nicht die Polizei rufen, wer weiß? Würden sie mir helfen, wenn ich die Gelegenheit hätte, ihnen die Wahrheit zu sagen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich im Moment selbst nicht, ob ich das tun würde, wenn sich die Chance böte. Was da zwischen ihm und mir passiert, verunsichert mich so sehr. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich weiß nicht, ob ich ihn verraten kann, und ich weiß nicht im Geringsten, wie es weitergehen soll.
Der Tag, an dem ich entlassen werde, ist sonnig und warm. In Sibirien sind wir eindeutig nicht. Caspers Auto steht in der Tiefgarage des Krankenhauses und auf Krücken brauche ich eine Ewigkeit. Er hilft mir auf die Rückbank, damit ich mein Bein hochlegen kann, bevor er selbst einsteigt. Es steckt in einer riesigen Schiene und Casper hat die Schmerzmittel, die ich noch bekommen habe, in der Tasche verstaut.
»Wo sind wir eigentlich?«, frage ich, als er den Motor startet und anfährt.
»Im Ausland. Wir fahren jetzt nach Hause.«
Nach Hause. Dann werde ich meine Familie wohl nie wiedersehen.
Ich muss eingeschlafen sein, erst als eine Tür zufällt, wache ich wieder auf. Ich liege in Caspers Armen und er trägt mich in das mir bekannte Wohnzimmer. Mein Kopf tut weh, die Naht an meiner Seite brennt und ich will sterben, jetzt. Mein Atem geht unregelmäßig, das ist nicht normal. Mein Brustkorb scheint sich zu verengen und ich bin unendlich dankbar, als ich endlich eine Tablette bekomme, die mich benommen macht.
Es ist nicht echt. Es ist eine Täuschung, alles ist eine Täuschung. Das Denken, Casper nahe sein zu wollen, die Gefühle, die nicht da sein können. Ich meine, er hat mich fast umgebracht und zugelassen, dass ich vergewaltigt werde. Das ist im Grunde genommen genauso verwerflich wie das, was Erik selbst getan hat. Keine Ahnung, was mit mir los ist und warum ich mich bei ihm wohlfühle, aber es ist falsch. Minutenlang starre ich an die Decke und bekomme gar nicht richtig mit, dass ich wach bin. Erst als mir bewusst wird, dass ich blinzele und nachdenke, bin ich wieder klar bei mir. Die Schmerzen sind weniger geworden. Jetzt ist es eher ein hintergründiges Rauschen. Solange es mir so verhältnismäßig gut geht, sollte ich etwas tun. Ich muss. Bevor ich mich noch tatsächlich und wirklich in Casper verliebe, was ich im Moment absolut von mir weise, muss ich hier weg. Vorsichtig setze ich mich auf. Couch, Tisch, Zettel. Da liegt er. In einer überraschenderweise ordentlichen Handschrift, ein paar Zeilen, wo so viel mehr gesagt werden müsste. Worte, die niemals gesprochen wurden.
Bin nicht lange fort
Wahrscheinlich schon wieder da, wenn du aufwachst
Na, hoffentlich nicht. Aufmerksam lausche ich, achte auf jedes kleine Geräusch. Keine Schritte, keine Stimme, nichts. Ich bin so gut wie frei, endlich frei. Es fühlt sich falsch an, so zu denken, aber mein Verstand weiß, dass es richtig ist. Casper, oder viel mehr meine Haltung zu ihm – das alles ist eine Illusion. Es muss einfach so sein. Entschlossen schlage ich die über mich gebettete Decke zur Seite und kämpfe mich hoch. Ganz vertraut Casper mir wohl doch noch nicht, die Krücken kann ich nirgendwo sehen. Also muss ich ohne hier raus. Jedoch sollte ich vorher irgendwie jemanden kontaktieren. Mein geschientes Bein hinter mir her schleppend, humpele ich zur Kücheninsel und sehe mich um. Nirgendwo ein Telefon, nicht hier. Vielleicht hat er damit gerechnet. Mir läuft die Zeit davon und ich bin zu schwach, ihr zu folgen. Mir ist schwindelig. Bleib da, Caja, bleib um Gotteswillen da. Nicht umkippen, nicht jetzt.
Scheiße, Caja.
Und dann passiert etwas, was mir vielleicht das Leben rettet. Eine Melodie erklingt und erst verstehe ich gar nicht, kann es nicht realisieren. Das Telefon, es klingelt. Mich konzentrierend versuche ich die Töne zu orten. Meine Ohren führen mich Richtung Tür, wo eine kleine Garderobe eingerichtet wurde. Auf einem winzigen, runden Tisch liegt es und bei jedem Schritt kreischen meine Knochen, als würden sie brennen. Feuer, tatsächlich fühlt es sich so an. Doch ich schaffe es und mit bebenden Fingern, zittern kann man das nicht mehr nennen, nehme ich ab.
»Hallo?« Meine Stimme wackelt gewaltig, verflucht.
»Casper?« Ein Mann, da ist ein Mann am anderen Ende.
»Bitte, bitte helfen Sie mir«, krächze ich in den Hörer.
»Ich …« Hinter mir klickt der Schlüssel im Schloss und ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie die Tür geöffnet wird.
»Bitte …«, will ich zum letzten Mal ansetzen, doch Casper ist im Gegensatz zu mir seiner Sinne vollständig mächtig und weiß, was er tun muss. Seine Hand presst sich auf meinen Mund.
»Scheiße«, stößt er heraus. Gedämpft schreie ich auf. Tränen laufen über seine Finger, doch er löst seinen Griff kein Stück.
Ich habe verloren, das war’s. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er den Anruf sofort beendet. Noch sind meine Arme frei, ich boxe mit den Ellbogen nach hinten und scheine ganz gut zu treffen.
»Hör auf damit«, ächzt er und drückt meinen Kopf in den Nacken. Es bringt nichts, aber mein Schreien erstirbt nicht.
»Jetzt sei endlich still!«, herrscht er mich an. Doch das hier ist mein letzter Ausweg, vielleicht schaffe ich es ja irgendwie, ihn zu Fall zu bringen. Noch ehe ich das irgendwie verwirklichen kann, legt sich seine andere Hand auf meinen Hals. Er drückt zu und ich weiß, was er vorhat. Er will mir die Macht über meinen Körper nehmen. Und das wird er wohl allem Anschein nach schaffen. Aus meiner Kehle kommt kein Hilferuf mehr, sondern ein Krächzen, gedämpft durch seine Handfläche. Ein Würgen, ohne erbrechen zu müssen. Er drückt ab, bis es flimmert.
»Es wird alles gut.« Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Chance dazu hatte. Und das Schlimme an diesem Gedanken: Alles zieht sich in mir zusammen, die Einbildung, ihn zu lieben, ist stark. Doch das ist irrelevant, denn wie kalte, schwarze Tücher verdunkelt sich mein Dasein und mein Blick verdreht sich. Niemals wiedersehen, schöne Welt, du hässliche Missgeburt.
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber mein Körper ist noch nicht bereit zu gehen, wobei mein Geist ganz anderer Meinung ist. So ein mieser Verräter. Mein Zusichkommen gleicht einer Hypnose, alles dreht sich und ich bin nicht fähig, etwas zu fixieren. Das macht mir Angst, weswegen ich die Augen schnell wieder zusammenkneife. Ich selbst spüre mich kaum, kann nichts orten. Nur auf mein Gehör ist noch halbwegs Verlass. Denn ich höre nur meinen Atem und den von Casper. Es muss seiner sein, wessen auch sonst? Nach einer Weile schaffe ich es nochmals zu blinzeln und sehe nur das Leder von seinem Auto. Mein Gesicht richtet sich auf den Fahrersitz, mein Körper ist, wie schon so oft, auf die Rückbank gelegt. Er hat mich gefesselt und den Mund kann ich nicht öffnen. Ein Tuch zieht meine Mundwinkel unangenehm auseinander. Jedoch merkt man, dass Casper es eilig hatte wegzukommen. Ziemlich fahrlässig von ihm, meine Handgelenke vor dem Bauch zusammenzubinden. So kann ich leicht nach dem Knebel greifen, um mich von ihm zu befreien. Augenblicklich bekomme ich etwas besser Luft. Mehr kann ich nicht tun, nur auf das warten, was kommt. Ich schließe die Augen.
Irgendwann halten wir und Casper öffnet die Tür, die meinem Kopf nahe ist. Meine Lider bleiben unten, Casper dreht mich komplett auf den Rücken und greift dann unter meine Arme. Er zieht mich behutsam raus, alles Grobe ist verschwunden. Er schafft es, mich trotz meiner großen Schiene am Bein zu tragen, während ich meinen Blick nur einen Spalt breit öffne.
»Ich weiß, dass du wach bist. Schon, seit ich dich aus dem Auto gehoben habe.« Seine Stimme ist völlig neutral. Ich wage nicht, ihn anzusehen.
»Deine Arme wären sonst nach oben geklappt.« Jetzt tue ich es doch und Tränen sammeln sich zu einem Meer.
»Ist schon gut«, murmelt er und küsst mich auf die Stirn. Richtig ist es nicht. Das, was ich fühle, meine ich, das ist völlig verrückt. Falls ich jemals von ihm los bin, wird auch das Kribbeln in mir zerfallen, wie die Asche eines Toten. Einfach so, ganz selbstverständlich. Da bin ich mir sicher.
»Alles wird gut.« Und dann, dann bringt er mich in das Haus. Das Haus, in dessen anliegendem See ich fast ertrunken wäre. Das Haus, auf dessen Wiese ich meiner Unschuld beraubt wurde. Das Haus, das ich womöglich erst tot wieder verlassen werde. Denn wenn er mich nicht tötet, und er wird den Fehler mit dem Telefon nicht nochmal begehen, werde ich das irgendwann selbst tun.
Eine Kugel in den Kopf, alle Gedanken an ihn verbrannt. Eine Schlinge um den Hals, der Atem seines Kusses erstickt. Ein Messer in den Bauch, alle Motten und Falter zerfetzt.