Vierzehn
Stumm starre ich geradeaus durch die große Fensterfront auf die ebenmäßige Oberfläche des Sees. Hier und da springen kleine Punkte nach oben und breiten sich zu großen Kreisen aus. Mein Blick schweift kurz über mein Bein. Casper hat die Schiene abgemacht, damit ich nicht alleine aufstehen kann, ohne vor Schmerz zusammenzubrechen. Er tut das, damit ich nicht wieder weglaufen kann. Die Stelle, wo sie mich aufgeschnitten haben, ist rötlich und geschwollen. Ordentlich waren die nicht gerade, aber darum ging es Casper auch wohl kaum. Ich weiß eigentlich nicht mal, ob ich von den Ärzten oder selbstständig entlassen wurde. Meine Tage im Krankenhaus waren nicht vielzählig und die Kopfschmerzen, die ich habe, zeigen, dass meine Gehirnerschütterung noch nicht auskuriert ist. Vorhin ging das wenigstens noch mit meinem Bein, aber in den wenigen Stunden, die ich jetzt hier auf der Couch sitze, hat es sich verschlimmert. Wahrscheinlich entzündet es sich, was meinen Tod bedeuten kann. Doch was würde das schon ausmachen? Meine Phasen der Bewusstlosigkeit würden ja letztendlich nur verlängert werden. Casper kommt mit nassen Haaren ins Wohnzimmer und zieht sich ein Shirt über. Ich zwinge mich, nicht hinzusehen.
»Wie geht’s dir?«
Schulterzucken.
»Brauchst du etwas?«
Kopfschütteln. Er soll mich in Ruhe lassen. Das tut er und ich kann schlafen.
Mir ist schlecht, scheiße schlecht, als ich aufwache. Ich drehe mich nur noch über die Kante und übergebe mich. Meine Haare fallen mir ins Gesicht und verdammt, nein, da ist niemand, der sie total fürsorglich zurückhält. Casper scheint nicht da zu sein, niemand kommt. Schweißgebadet lehne ich mich zurück. Mein Kopf pulsiert und ich scheine wieder Fieber zu haben. Will gar nicht wissen, wie die Naht aussieht. Obwohl ich so gerne aufstehen und meinen Mund ausspülen will, traue ich mich nicht, mich zu regen. Vielleicht schaffe ich es ja mit Krücken. Die lehnen einige Meter von mir entfernt. Noch ehe ich richtig überlegen kann, stütze ich mich von den Polstern weg und rutsche in mein Erbrochenes. Ich muss wieder würgen, aber mehr geschieht nicht. Dann zwinge ich mich, tief durchzuatmen. Sobald mir das gelingt, spüre ich erst, wie sehr mein Oberschenkel wehtut.
Hack es ab, zur Hölle, hack es ab.
Nur schleppend kann ich mich zu den Krücken ziehen und weiß schon, bevor ich da bin, dass ich mich nie im Leben hochstemmen kann. Doch das ist egal, denn schon bevor ich an die Krücken rankommen kann, rutsche ich ab und verliere den Halt.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich ohnmächtig war. Tausend Jahre oder mehr bestimmt. Verkrümmt liege ich auf dem kalten Boden. Habe nicht die Kraft, mich zu bewegen. Meine heiße Wange drückt sich auf die Dielen und irgendwann fange ich an zu weinen. Das Brennen und Hämmern in meinem Kopf ist in den Schenkel gerutscht.
Wann fällt es endlich ab? Wann?
»Caja, Caja, was hast du nur angestellt?«, raunt es in mein Ohr und ein Arm schlingt sich unter meinem Bauch durch und dreht mich um. Ich schreie auf, schneidet mein Scheißbein ab , weine, weine, weine und will in eine andere Galaxie geschossen werden.
»Ich wollte … ich wollte nur … nur trinken«, murmele ich, als das Flimmern einsetzt und alles etwas unscharf wird, bevor es wieder kurz aufklart.
»Nicht wieder ohnmächtig werden, bleib bei mir«, fordert Casper, doch das Leben ist kein Wunschkonzert.
Fetzen aus Worten und Gedanken meiner eigenen und einer anderen Stimme folgen, ich komme nicht mehr mit.
und jetzt hast du mich geholt und ich habe dir gesagt lass die kleine im see und du hast nicht gehört und ich hab dir gesagt, lass mich raus aus der scheiße. ich hatte meinen spaß und jetzt brauchst du mich und ist mir egal ob mitgehangen mitgefangen, bruder. wir sind nicht die drei musketiere und sie ist dein scheißproblem und eriks. und ist mir egal ob er sie gefickt hat oder nicht, ist mir alles egal
hack.es.ab.
schlitzt ihr schwarzes herz auf und lasst ihre flüssige seele durch ein sieb gleiten. achtet darauf, dass sie wirklich und sicher tot ist und dann ergötzt euch an ihren knochen. esst ihre haare und schluckt ihre augen, wie kleine bonbons. sie wird euch schmecken, ohja, sie wird euch schmecken.
»wieso schreit sie so.«
»sie träumt.«
Wasser tropft auf meine Stirn, fließt an den Rand und läuft in den Haaransatz. Ich bin wieder da, mehr tot als lebendig. Ich habe nicht mehr die schmutzigen Sachen an. Nur ein großes T-Shirt und die Unterwäsche, die ich im Krankenhaus bekommen habe. Diese halbtransparenten Dinger. Eine Hose trage ich nicht, mein Bein wäre wahrscheinlich explodiert, bei dem Versuch, eine anzuziehen.
»Trink was.« Und ich schlucke und schlucke und sauge die Flasche ein.
»Sie muss was essen.« Das war nicht Casper. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Es ist der Dritte, der Typ, der mit dabei war und mich entführt hat. Wusste ich mal seinen Namen? Ist das wichtig? Er reicht Casper weiches Brot und ich muss kauen und schlucken und würgen und kotzen.
»Schon gut«, versucht Casper mich zu beruhigen.
»Nichts ist gut.«
Er nickt, nichts ist gut.
»Und er ist jetzt auch zum Vögeln da, oder wie?« Ich sehe niemanden an, blicke geradeaus und kräusele meine bitteren Lippen.
»Er ist da, um dein Scheißleben zu retten.«
Oh, mein Schatz, da kann ich nicht mal mehr lachen.
»Ich werde jetzt gehen.« Der Typ grunzt auf, soll wohl ein Kichern sein. Ich stemme mich hoch. Casper will meinen Arm greifen, aber ich entziehe mich ihm.
»Caja, du tust dir nur weh.«
»Ich bin eh schon kaputt«, presse ich hervor und greife mit zitternden Fingern nach meinem von alleine nicht bewegbaren Bein. Tränen schießen mir in die Augen und ich brülle kurz auf. Verdammte Kacke. Ich kann mich nicht aufrichten.
»Hör lieber auf ihn, machst es doch eh nur schlimmer«, herrscht mich der Kerl an, doch ich blende ihn aus, und sei es das Adrenalin oder einfach Größenwahn – ich haue Casper eine rein. Als er mich zurückschieben will, hole ich aus und treffe mit der Faust sein Gesicht.
»Fass mich nicht an!«
Das Folgende passiert so schnell, dass ich gar nicht recht realisiere, was ich da schaffe. Casper taumelt zurück, während ich einen Schritt nach vorne mache. Ab meinem Becken ist alles taub. Meine einzige Chance, zu humpeln, ohne zusammenzubrechen. Was geschieht mit mir? Der Typ will um den Couchtisch zu mir kommen, doch ich stoße ihm die Tischplatte gegen sein Schienbein. Er jault, ich gehe. Ich gehe Stück für Stück und greife nach allem nicht fest Montierten, an dem ich vorbeikomme. Vasen, Fernbedienungen und Bücher werden hinter mich geschleudert. Ich treffe nicht, aber gewinne Zeit durch ihr Ausweichen. Fast hätte ich das Handy auf dem Regal auch nach hinten geworfen, doch meine bebenden Hände schaffen es, zu widerstehen. Ich laufe noch ein winziges Stück bis zur nächsten Wand.
Wie war die Nummer? Was muss ich sagen? Und wie zur Hölle heiße ich?
Doch meine Zeit ist um, ich hatte meine Möglichkeit und jetzt ist sie verspielt. Meine Oberarme werden gegriffen und ich ramme meinen Ellbogen schreiend nach hinten.
»Lass mich los, rühr mich nicht an!«, heule ich und versuche mich aus den Händen zu winden. Kurz löst sich die Umklammerung, wodurch ich mein Gleichgewicht verliere. Halt suchend schnellen meine Hände nach vorne und fassen das Brett des Bücherregals. Doch ich falle bereits und der Schrank mit mir.
Es geht so schnell. Mein Rücken prallt auf den Boden. Luft wird aus meinen Lungen gepresst, am Rande meines Blickfeldes rollt Casper sich gerade noch aus der Schussbahn. Meine Finger und das linke Handgelenk, das durch den Sturz komplett überstreckt und nach unten gedrückt wird, bis meine Fingerknöchel den Unterarm entgegengesetzt der richtigen Bewegung berühren, kann ich nicht mehr wegziehen, bei dem Versuch neben dem Regal aufzukommen. Meine Hände stecken zwischen Erde und Holz und ich höre sie brechen, wie die Zweige eines Baumes. Und ich schreie so laut auf, dass meine Brust wehtut und mir schwindelig wird. Meine Oberarme zucken immer wieder nach oben, obwohl das Stechen dadurch schlimmer wird, aber ich kann mich einfach nicht beruhigen.
»Atmen, Caja, atmen.« Doch ich kann nicht atmen. Umso mehr Luft ich einziehe, desto weniger kommt in mir an.
»Nimm das Scheißding von ihr runter, sie hyperventiliert.« Ich kann nicht zuordnen, wer das sagt.
»Caja, konzentrier dich jetzt! Du musst jetzt normal Luft holen, sonst wirst du bewusstlos.« Ich versuche es, aber ich kann mich nicht fokussieren. Sobald das Mistding von mir und meinen Händen runter ist, schaffe ich es irgendwie, mich aufzusetzen und meine Finger anzustarren.
Und dann ist es vorbei, endgültig vorbei mit meiner Coolness. An der rechten Hand knickt der obere Teil der einzelnen Finger in die falsche Richtung weg. Sie hängen jetzt schief über meinem Handrücken. Selbst mein rechter Daumen klappt ungesund weg. Meine linke Hand sieht seltsam nach hinten gebogen und verzerrt aus. Das Handgelenk scheint überspannt, so als hätte man die Sehnen mit einer Schere durchgeschnitten.
Schnipp schnapp, einziges Abwehrmittel ab.