Syndrom
Ich werde keinen Finger verlieren. Keinen einzigen, was ich ziemlich erstaunlich finde. Sie sind verbunden, wodurch ich nicht alleine auf die Toilette gehen, was essen oder meine Decke hochziehen kann. Das mit dem Laufen ist nebenbei bemerkt auch so eine Sache. Mein Bein wurde operiert und jetzt steckt es in einem seltsam aussehenden Apparat. Also streng genommen kann ich eh nicht aufstehen. Deswegen haben sie mir auch einen Blasenkatheter gelegt, durch den ich mich in eine Plastikflasche entleere.
Als ich nach der OP aufgewacht bin, saß tatsächlich meine Mutter an meinem Bett. Sie hat mich angesehen, durch ihre hellen, wachen Augen. Die dunklen Haare ordentlich geföhnt und der Lippenstift war frisch aufgetragen. Er klebte an ihrem vollen Mund und ich hätte mir gewünscht, es wäre Blut.
Erst hat sie gar nichts gesagt und dann hat sie geweint und sich entschuldigt und geweint und ich glaube, es tat ihr wirklich leid. Ich wusste nicht, was ich ihr hätte verzeihen sollen. Sie hat mich ja nicht entführt. Sie hat mich nicht vergewaltigt. Sie hat mich nicht fast totgeschlagen.
Unter Tränen erzählt sie, dass die Polizei mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln nach mir gesucht hat, und sie erzählt, dass ich nicht gefunden wurde. Das ist ja eine völlig neue Erkenntnis. Sie fragt, wie ich mich fühle, und ich bitte sie, eine Schwester zu holen, weil ich Schmerzen habe. Wie fremd mir diese Frau doch geworden ist. Wahrscheinlich war sie das schon immer und ich merke das erst jetzt so richtig und bewusst. Außerdem erzählt sie mir noch, dass sie und Dad öfter miteinander geredet haben, während dieser so schweren Zeit für sie. Ich beglückwünsche sie und sage ihr, dass mich das freut. Ich meine, natürlich bin ich hellauf begeistert, dass meine Mutter mir nicht mehr zu erzählen hat, als dass sie und mein Vater sich nicht mehr ins Gesicht spucken, sobald sie sich sehen. Das wollte ich hören.
Ich glaube, ich hasse sie sogar ein bisschen.
Als ich vorgebe, müde zu sein, wirkt sie regelrecht erleichtert, gehen zu können. Das Blut an ihren Lippen bleibt und ich betrachte sie wie eine Fremde, bei der ich nicht das Bedürfnis habe, sie kennenzulernen.
Die Schwester kommt, die Schwester geht, eine Gynäkologin untersucht mich und ich liege da wie ein totes Stück Fleisch.
»Hast du Schmerzen?« Nicht mehr. Nie wieder. Es kann nimmer mehr so grausam werden, wie es bereits war.
»Niemand wird dir mehr wehtun, Caja, das verspreche ich dir.«
Stimmt. Lejs ist womöglich tot, Casper fort und Erik wahrscheinlich auf der Flucht. Oder einfach zu Hause. Vielleicht ist Casper auch gar nicht weg. Selbst wenn er noch da wäre, würde er mich nicht mehr verletzen, da bin ich mir zwar nicht sicher, aber er hat mich letztendlich gerettet. Er ist aus dem Kofferraum rausgestiegen und dann hat er seinen einstigen Freund überwältigt und ermordet. Er hat mich hierhergefahren und er hat mich am Leben gehalten.
Ich habe so oft aufgegeben, so oft nach unten gesehen, wodurch ich fast gefallen wäre, ohne wieder aufzustehen. Diese fragwürdigen und wahrscheinlich auch eingebildeten Gefühle für Casper haben mir Mut gemacht. Bisher habe ich noch niemandem davon erzählt, aber das werde ich noch tun müssen.
Man muss sprechen, um zu verarbeiten, man muss die Dinge loslassen, um zu verstehen, was geschehen ist, und man muss beginnen, sich selbst zu lieben, wenn der Hass am schlimmsten ist. Und man bin in diesem Fall ich. Das habe ich bereits akzeptiert. Sobald es mir wieder besser geht und ich nicht mehr die meiste Zeit des Tages verschlafe, werde ich mit der Psychologin des Krankenhauses reden. Und dann wird die Polizei kommen.
Sie heißt Inga, meine Therapeutin, und sie hält meinen Unterarm, weil meine Mutter es nicht darf, als der Uniformierte vor meinem Bett steht und sich vorstellt. Er versucht, sich zu unterhalten, schlechter Smalltalk. Dann räuspert er sich, bevor er die Bombe platzen lässt.
»Ihr Entführer hat sich gestellt, Miss.« Sein Name schwirrt in meinem Kopf umher. Caspercaspercaspercaspercasper.
Meine Hand zuckt, obwohl sie das nicht kann, weil sie eingegipst ist. Meine Schultern zittern. Ich bin kurz davor, mich zu übergeben.
»Lejs?«
»Nein, Miss.«
CASPER.
»Wann?«, frage ich irgendwann, als mich mein Inneres nicht mehr mit seinem Namen anschreit. Verdammte Scheiße, ich weiß, wie er heißt.
»Schon an dem Tag, als sie hier aufgenommen wurden.«
Er hat es getan, um keinen Rückzieher zu machen. Er hat es getan.
»Kann ich Ihnen diesbezüglich einige Fragen stellen?«
Ich blicke ihn an, er lächelt nicht, wirkt aber auch nicht grimmig. Er ist schon etwas älter, ungefähr so wie mein Vater, und hat einige graue Strähnen.
»Werden Sie ihn einsperren?«, frage ich, seine Frage ignorierend. Das scheint ihn zu verwirren. Er verzieht die Augenbrauen etwas.
»Das wird sich vor Gericht entscheiden, aber ich versichere Ihnen, dass er seine gerechte Strafe erhalten wird.« In meinem Kopf schwirrt nicht mehr sein Name, nein, da ist jetzt etwas anderes. Etwas, das völlig falsch ist und nicht dahingehört.
Das will ich nicht.
»Miss, Sie sprachen vorhin von einem Lejs. Handelt es sich hierbei um einen Komplizen des Täters?«
Ich nicke, bin wie in Trance. Zähle meine Wimpernschläge und vergesse zu atmen. Ein Arzt kommt, eine Schwester folgt, ich verliere mich und Inga muss mich loslassen. Es reicht für heute, sagen sie, und dann schlafe ich bis in die Unendlichkeit.
Ich werde keine Kinder bekommen können. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich jemals wieder einen Mann meine nackte Haut berühren lassen werde.
Vielleicht ihn .
HALT DEINE DUMME KLAPPE, CAJA.
Ich werde wohl allmählich verrückt.
Der Sommer ist vorbei, als ich entlassen werde. Die Blätter verfärben sich dunkelrot, honiggelb und schließlich totbraun. Sie sterben, so wie ich gestorben bin, und sie werden wieder neu erblühen, so wie ich neugeboren bin.
Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt und ich habe sie genutzt. Meine Sachen, mein ganzes Leben ist in Kisten verstaut und in Umzugswagen gestopft, die sie in meine eigene Wohnung bringen werden.
Ich habe ausgesagt und ich werde nicht nochmal vor Gericht erscheinen müssen, aufgrund des Härtefalls und weil bereits alles gesagt ist, was wichtig sein wird. Casper wird bezahlen, Lejs ist tatsächlich tot und nach Erik wird gefahndet. Und ich, ich habe mit meiner Mutter endgültig gebrochen, meinen Vater gebeten, mir ein Apartment an der Küste im Westen zu besorgen und dann werde ich endlich wieder atmen können.
Nicht mehr eingeengt in Erinnerungen, die Stockholm mitbringt.
Geheilt von der Illusion, meinen schlimmsten Feind zu lieben, nur weil ich letztendlich auf ihn angewiesen war. Es ist alles eine Lüge, mein Kopf spielt mir einen riesigen Streich. Und ich kämpfe dagegen an. Inga hat mich überwiesen an eine Kollegin von ihr. Niemand kann mich dazu zwingen, eine Behandlung weiterhin in Anspruch zu nehmen, aber ich will es. Und während ich dem Krankenhaus immer ferner bin, das mir mein Bein, meine Hände, aber nicht meine zukünftigen Kinder gerettet hat, endet Caspers Leben in Freiheit für sehr viele Jahre.
Und diese Jahre sind in Zahlen ausgedrückt sogar noch mild. Es kam mir wohl zweifelsohne zugute, dass ich Caja ins Krankenhaus gebracht und mich gestellt habe. Ich werde einsitzen, ich werde bestraft, aber gemessen an dem Leid, das Caja meinetwegen erleiden musste, ist das wohl eher geringfügig.
Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie mir aus den Armen genommen wurde und die Ärzte ihr Leben gerettet haben. Ihr dunkles, schmutziges Haar hat ihr in zotteligen Strähnen in das ohnmächtige Gesicht gehangen und trotzdem war sie so schön, dass ich sie fast nicht mehr hatte hergeben wollen.
Wahrscheinlich hasst sie mich mehr, als ich sie jemals hätte lieben können, und deswegen ist es richtig. Es ist richtig, dass ich sie nicht mehr gesehen habe, es ist absolut richtig, dass wir nie zusammen sein können.
Dass etwas richtig ist, heißt jedoch nicht gleichzeitig, dass es nicht scheiße wehtut. Die ersten Monate im Gefängnis sind kalt und sonnenlos und ich sehne mich nach ihren Augen, ihrer Stimme, ihrer bloßen Anwesenheit.
Gleichzeitig träume ich von ihren Schreien und das heizt mein schlechtes Gewissen immer wieder aufs Neue an.
Mein Vater besucht mich so gut wie jeden Tag. Er ist enttäuscht, doch das kümmert mich nicht. Er kann mich niemals so sehr missverstehen, wie ich es tue.
Caja und ich hätten glücklich sein können. Wir haben uns nicht gekannt, aber vielleicht hätte sich das irgendwann geändert. Immerhin wohnte sie gar nicht weit von mir entfernt. Vielleicht wäre ich eines Tages nicht bei ihr eingebrochen, sondern wir hätten uns auf dem Campus unserer Uni gesehen, wo sie Schönheit und ich Demut studiere. Das, was wir beide in meinen Augen jetzt am meisten haben. Wir hätten uns verlieben können und es wäre nie dazu gekommen, dass man sie vergewaltigt und misshandelt.
Es wäre nie dazu gekommen, dass ich sie misshandelt habe. Das wäre nie geschehen, weil wir glücklich hätten sein können. Ich möchte mich nicht über die Umstände hier beklagen. Mein Vater hat zweifelsohne das Beste für mich herausgeholt. Ich darf Besuch empfangen, ich bekomme drei Mahlzeiten, ich lebe. Das ist mehr, als ich eigentlich verdient hätte. Ich schlafe, ich esse, ich sehe draußen den Blättern beim Sterben zu und ich bin so unendlich einsam wie noch nie. Selbst die Zeit, in der ich jeden Tag in den Besuchsraum geführt werde, mindert das nicht im Geringsten. Heute ist es nicht anders. Der Flur ist lang. Er kommt mir bekannter vor als meine Seele.
Die Tür wird geöffnet und dann bricht alles, woran ich in der so kurzen Phase hier geglaubt habe, zusammen. Wie ein Kartenhaus. Alles, was ich gedacht habe. Alles, was ich zu wissen gemeint habe, ist fort. Denn dort sitzt kein großgewachsener Mann auf dem Stuhl und hat seine im grauen Jackett steckenden Arme auf die Platte vor sich gelegt. Er sieht mich nicht mit traurigen Augen an und er wird mich nicht fragen, wie mein Tag heute war. Er wird mich gar nichts fragen. Denn er sitzt nicht dort, sondern das Mädchen, das alles verändert hat.
Ihre Haare sind kurz geschnitten. Sie sind gerade mal so lang, dass sie ihr Kinn berühren würden, wenn sie sich bewegen würde. Ihre Lippen sind voll, die Augen klar, der Pullover, den sie trägt, verdeckt ihre Schlüsselbeine nicht.
Sie ist so schön.
Ihre Arme hängen an den Seiten herab und werden ab den Ellbogen vom Tisch verdeckt. Jetzt steht sie auf, der Stuhl kratzt über den Boden und ich sehe ihre Hände. Bandagiert, schneeweiß und existent. Mein Blick schnellt wieder zu ihren Augen und dann zittern ihre Lippen. Den Aufseher links hinter mir blende ich komplett aus, sie ist zu einnehmend.
»Ich habe mich geirrt.« Sie tritt langsam um den Tisch herum, fährt mit den Fingerkuppen über das helle Material. Das Geräusch bereitet mir eine Gänsehaut.
»Ich habe mich geirrt«, wiederholt sie sich, doch ich könnte ihr Jahre zuhören.
»Meine Therapeutin hat das auch, Casper. Wir beide lagen falsch.« Sie glitzern, ihre Augen. Jetzt steht sie mir mit so wenigen Metern Abstand gegenüber, während ich kaum noch stehen kann.
»Ich bin weggezogen. Nach Dalarna. Ich studiere Psychologie. Ich habe alle meine Sachen verkauft, Casper, weil sie mich an dich erinnert haben. Obwohl ich sie in deiner Anwesenheit nie getragen habe. Weil das Ich es getragen hat, das ich mit aller Kraft versucht habe, hinter mir zu lassen.« Jetzt bebt ihre Stimme.
»Meine Haare sind ab, ich habe alles getan, um dich aus meinem Kopf zu bekommen. Es wird vorbeigehen, haben sie gesagt. Meine Betreuerin im Krankenhaus und meine Psychologin, die ich gestern noch ohne Termin beansprucht habe. Sie haben von dieser Krankheit geredet. Dieser Manipulation des Denkens, Casper.« Sie weint und ich will ihre Haut aus Porzellan trocknen, obwohl ich so sehr Angst vor dem Gedanken habe, sie auch nur zu berühren.
»Es ist ein Syndrom, sagen sie.« Ihre Zähne blitzen auf, sie hört nicht auf zu schluchzen.
»Ich habe niemandem erzählt, dass ich davon träume, dich wiederzusehen. Niemandem. Sie denken alle, ich habe unheimliche Angst vor dir.« Sie macht eine Pause, weil sie sich fassen muss, um die Worte wiederzufinden, die ihr anscheinend so schwerfallen.
»Aber meine einzige Angst, seit ich von dir weg bin, ist, dich nicht mehr wiederzusehen.« Sie senkt den Kopf leicht, blickt dann wieder auf und streicht sich die Haare aus dem Gesichtsfeld.
»Und ich bin jetzt hier, was ich selbst nicht glauben kann. Du weißt gar nicht, wie schwer es ist, hier reinzukommen. Ich bin den halben Tag gefahren und die andere Hälfte habe ich damit zugebracht, mit deinem Vater zu reden. Er ist draußen, weißt du? Er hat nicht verstanden, warum gerade ich jetzt hier vor dir stehe.« Sie weint immer noch, aber gleichzeitig lächelt sie so schön, dass meine Brust ganz eng wird.
»Und ehrlich gesagt, habe ich es selbst erst auch nicht verstanden.« Sie hat sich keinen Zentimeter gerührt und doch ist es, als würde sie näher kommen.
»Dich sehen zu wollen, bei dir sein zu müssen, dich zu vermissen, Casper«, sie streckt ihre Hand leicht aus, nur ein kleines Stück und ich komme ihr entgegen, hebe meinen Arm und meine Finger nähern sich ihren, »ist keine Krankheit. Es ist das, was die Idioten in den Schnulzen Liebe nennen.«
ENDE