Geleitwort

„Ens veneni“ – so bezeichnete vor über 500 Jahren der mittelalterliche Arzt und Alchemist Paracelsus eine im wahrsten Sinne des Wortes zentrale Daseinsform des Menschen: Er wird genährt, geprägt, gesund erhalten und geheilt durch die Impulse, die er aus seiner Umwelt aufnimmt. Sie geben ihm Kraft und können ihm schaden – „venenum“ bedeutet gleichermaßen Gift, Heil- und Nahrungsmittel. Die Natur des Menschen wird dadurch entscheidend geprägt.

Nun können wir im Westen seit einigen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Renaissance an Heilmitteln aus der fernöstlichen Heilkunde verzeichnen. Gerade das faszinierende, überaus komplexe und unseren Ansprüchen einer ganzheitlichen Behandlung des Kranken genügende System der chinesischen Medizin hat viele Therapeuten und Patienten hierzulande in den Bann geschlagen.

Zwei Besonderheiten bietet dieses uns hier eigentlich fremde Heilsystem: Eine differenzierte Diagnostik mit seiner Puls- und Zungendiagnose und eine ebenso anspruchsvolle Gesundheits- und Krankheitslehre. Dazu einen Schatz an therapeutischen Methoden, die uns fremd sind wie die Akupunktur und Moxibustion, aber auch scheinbar vertraut wie die Heilkräuter.

Der Bonus des Exotischen führte dazu, dass diese asiatischen Kräuter und Arzneimittel als weitaus wirksamer angesehen wurden als die einheimischen. Dabei sind uns die einheimischen Kräuter weitaus vertrauter und darüber hinaus wirksamer Bestandteil unseres hiesigen Speiseplans: Weihnachtskekse mit Zimt, deftige Gänsekeulen mit Beifuß, fette Wurst mit Majoran und Hopfen im erfrischenden Bier. Holundersaft oder Lindenblüten, Kamillen- und Pfefferminztee, Fenchel- oder Anistee – sie sind uns vertraut. Gerade in Deutschland sind Heilkräuteranwendungen weitaus beliebter als in anderen westlichen Staaten.

Wir können auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken, die von Hippokrates im alten Griechenland über Galenus in römischen Reich, den Perser Ibn Sina, die mittelalterlichen Hexen, Hildegard von Bingen, die Pastoren Kneipp und Felcke bis zu Madaus im 20. Jahrhundert reicht.

Es ist eine große Herausforderung, den Schatz unserer westlichen Heilkräuterkunde mit der Systematik und der Diagnostik der Chinesischen Medizin zu verbinden. Ende der 1980er-Jahre habe ich versucht Brücken zu schlagen, ebenso wie einige andere TCM-Therapeuten in Deutschland und den USA.

Verschiedene Elemente galt es zu verbinden: die alte Kenntnis der Pflanzen, ihre umfassende Anwendung vom alten Griechenland bis in das Europa der Neuzeit und die Vertrautheit unserer Kräuterwelt auf der einen Seite; andererseits die Differenziertheit und der detaillierte Erfahrungsschatz gerade in der Zusammenstellung verschiedener Mittel im Rahmen der TCM. Die Erfahrung darin fehlte.

Beide Welten in der Heilkunde zu vereinen, war und ist eine große Herausforderung für die Erfahrung, das therapeutische Gespür und das phytotherapeutisch-pharmakologische Detailwissen der Autoren und der Autorin. Ich kenne sie seit Jahrzehnten und als solche schätze ich sie.

Ich freue mich sehr, dass hier ein Meilenstein auf diesem Weg gelungen ist. Der Synkretismus beider Erfahrungs- und Wissensschätze gibt dem TCM-Therapeuten das Instrumentarium in die Hand, um für unsere Patienten das passende „venenum“ aus unserer Umwelt zu finden. Die Natur des Menschen, seine ϕυσις, ist die Gesundheit – sie steht im Einklang mit dem Makrokosmos. Und so nähern sich vielleicht auch unsere vertrauten hippokratischen Vorstellungen denen der im Kern daoistischen chinesischen Heilkunde.

Prof. Andreas A. Noll

München, im Frühjahr 2012