Kapitel 5
DIE SACHE MIT DEM OZELOT-BIKINI
Und da ist dieser Mann fortgeschrittenen Alters, der mit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen auf Frau Sievers zustürmt, als empfange er eine Botschaft, die weit über das Irdische hinausgeht. Seine Begleiter folgen irritiert mit Abstand und eher zögerlich auf dem schmalen Plattenweg durch die kleine Gartenanlage in Keitum, die trotz der begrenzten Fläche etwas Parkartiges an sich hat. Es stehen ein paar alte Bäume in diesem Garten, und überall am Rand wuchern mächtige Hortensienbüsche in Karmesinrot, Violett und Altrosa. Im Hintergrund erkennt man das jahrhundertealte schneeweiße Friesenhaus, vom schweren Reetdach in die Knie gezwungen. Über der Eingangstür hängt imposant der Schriftzug »Fisch-Fiete«. Es ist da
s Restaurant. Im Sommer ständig ausgebucht. Mittags sowieso und abends mit zwei Sitzungen. Um sechs und um halb neun. Doch der Weg in die Arme von Frau Sievers, der Inhaberin, geht niemals direkt. Man muss im Vorgarten immer erst einen Bogen um den großen Springbrunnen machen, an dessen Rand ein in Bronze gegossener, nackter Junge steht, einen riesigen Fisch im Arm, aus dessen Maul immer Wasser läuft.
Annegret Sievers ist der Stahlträger unter den Sylter Geschäftsfrauen. Ihr Vater war noch mit dem Fischkarren über die Insel gezogen und hatte sich dann mit dem
kleinen Lokal mutig selbstständig gemacht. Reiner Familienbetrieb. Sie verbrachte ihre Kindheit in der Küche an der Spüle und beim Fischeausnehmen, jetzt steht sie draußen. Vor ihrem Haus. Zirkusdirektorin der Hochgastronomie. Garantin für den Erfolg ihres Restaurants. Löwenbändigerin. Zeremonienmeisterin versnobter Sommergäste mit Millionenvermögen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als von ihr erkannt, mit Namen angesprochen und zu ihrem Tisch geleitet zu werden.
Sie ist eine sehr laute und dabei vergleichsweise zierliche Person, lacht viel, ihre raue Stimme durchdringt selbst gekachelte Wände, und sie lässt nicht den Hauch eines Zweifels aufkommen, dass sie hier über alles und jeden bestimmt. Manchmal schreibt sie ihren Gästen sogar das Essen vor. Zum Beispiel, wenn sie besonders große und fleischige Seezungen hat. Und niemand wagt zu widersprechen. Als Generalistin entgeht ihr nichts, weder nachlässig poliertes Silber noch verboten mehlige Kartoffeln. Zuständig und verantwortlich für alles. Auch für die Fragen des Lebens aller Art. Vor allem die ihrer Gäste, die ihr einfach alles anvertrauen. Fisch-Fiete ist ein gastronomisches Gesamtkunstwerk, das ohne Frau Sievers schlicht nicht existieren kann. An sieben Tagen in der Woche ist sie Gastgeberin. Von morgens neun bis nachts um eins. Sie ist das Lokal, und das Lokal ist sie.
Aber natürlich funktioniert der Laden nicht ohne ihr Personal, das in Jahrzehnten nie gewechselt hat, darunter ist auch die Sandkastenliebe meiner Mutter, Eberhard Krämer. Und auch seine andere beste Freundin Helga von der Meden gehört zum Ensemble. Noch nie habe ich von einem Lokal gehört, bei dem sich die Gäste die Kellner ausleihen und sie bis nach Nizza, St. Moritz oder Mallorca ausfliegen, weil sie etwas haben, das bei Servicepersonal kaum zu finden ist: Liebe zum Beruf. Hingabe. Fingerspitzengefü
hl. Und Allgemeinbildung, die in Kombination mit allem Genannten garantiert, dass man auch mit den großen Bossen, mit Multimillionären und Bundesministern und selbst mit dem Bundespräsidenten auf Augenhöhe bleibt und ein gutes Gespräch führen kann. Eberhard ist zudem noch Konzertpianist, hat in Paris studiert und setzt sich zu fortgeschrittener Stunde auch gern in seiner weißen, gestärkten Kellnerjacke an den Flügel oder tanzt in der berühmten »Veranda« im hinteren neu ausgebauten Teil von Fisch-Fiete zu später Stunde mit den Gästen.
Meine Eltern gehen sehr gern zu Frau Sievers. Erstens wegen der ausgezeichneten Küche, zweitens wegen Frau Sievers, drittens wegen Eberhard und viertens, weil hier alle unsere Kunden zu finden sind. Und so kommt es, dass wir wie immer erst mal eine Runde durch den Garten und anschließend durchs Lokal drehen, von Tisch zu Tisch, Händeschütteln, Konversation, freundliche Begrüßungsformeln, höfliche Fragen nach dem Befinden und ein kleiner Plausch übers Wetter.
An einer größeren Tafel – etwas abseits bei den Hortensien – mit Freunden aus der Schweiz sitzt heute Gunter Sachs. Ich erkenne ihn sofort. Seine dicken, dunkelblonden, betont lässig frisierten Haare, charmantes Lächeln, aufgeknöpftes Hemd, weiße Jeans, sonore Stimme und so entspannt wie keiner. Stammgast des Hauses. Wie Eberhard uns zuraunt, ist er heute mit dem Privatjet eingeflogen. Er lässt immer viel Geld in diesem Lokal. Und bringt in seinem Flugzeug den internationalen Jetset mit. Auch zu Fisch-Fiete. Wer am Sachs-Tisch sitzt, ist automatisch immer eingeladen. Die Rechnung wird diskret beglichen. Egal wie viele dabei waren. Niemals kommt es zu peinlichen Szenen, dass man nach dem Festmahl etwa nach Geld kramen muss oder
sich in Diskussionen verfängt, wer nun was übernimmt. Die Rechnung wird von Frau Sievers per Post nach München ins Büro von Gunter Sachs geschickt und von dort aus ohne jede Beanstandung oder Nachfrage bezahlt. Mit Vorspeisen, Hauptgericht, begleitenden Weinen, Dessert und »Verteiler« kommt da bei Frau Sievers schnell mal die Monatsmiete für eine Dreizimmerwohnung zusammen. Und das gilt nur für einen Abend.
Gunter Sachs ist auch nie knauserig mit Trinkgeld. Er hinterlässt immer große Scheine und hat später auch mal für Eberhard einen Spruch auf der Serviette platziert: »35 Jahre Service von Eberhard Krämer. Ich wünschte, nach Saint Tropez da käm er.« Und für seine andere Lieblingskellnerin, Helga von der Meden, dichtete er: »35 Jahre Service von Frau Meden waren für mich wie ein Garten Eden.« Er ist kultiviert und gebildet, aber er schreibt auch Autogramme auf Geldscheine und fühlt sich in seiner Rolle als Archetyp des superreichen Gentleman-Playboys wohl, der auf der ganzen Welt auf Schritt und Tritt von Fotografen verfolgt wird. Was ihm an der Insel gefällt? »Einfach alles auf Sylt ist wunderschön«, sagte er einem NDR-Reporter ins Mikrofon, »die Mädchen, das Meer, das sorglose Dahingammeln.«
Gunter Sachs ist ein Magnet. Es wird immer ein Riesenrummel um ihn gemacht, wenn er auf Sylt einfliegt. Erst recht, seitdem er vor ein paar Jahren Brigitte Bardot geheiratet hat. Ob Brigitte Bardot jemals auf der Insel war? Die einen sagen Ja. Die anderen sagen Nein. Tatsache ist auf jeden Fall, dass sie Sylt nicht mag. Angeblich ist ihr das Klima zu rau. Und dann fehlt auch noch die Sonnengarantie. Und es sind auch nur Deutsche auf der Insel. Sie hat viele Gründe, Sylt zu meiden. Nicht nur deswegen sind meine Eltern nicht gut auf Brigitte Bardot zu sprechen. In erster Linie ist mein
Vater wütend auf sie, weil sie eine Revolution gegen die Pelzbranche angezettelt hat. Und das auch noch buchstäblich im Alleingang. »Diese Frau ist selbst ein Wildtier, unberechenbar«, sagt mein Vater. »Sie macht uns alles kaputt.«
Brigitte Bardot ist der größte Filmstar überhaupt, der eine ganze Generation Männer fasziniert und mit Begehrlichkeit infiziert, und sie will nicht mehr Schauspielerin sein. Sie hat alles hingeschmissen und führt jetzt einen Feldzug gegen ein jahrtausendealtes Naturgesetz. Dass sich Menschen in Tierfelle kleiden. Und das Schlimmste: Sie meint es ernst. Sie setzt ihre unglaubliche Strahlkraft dafür ein, uns fertigzumachen. Sie ist jetzt achtunddreißig Jahre alt und beendet 1973 ihre Karriere, um Aktivistin zu werden und alle zu kriminalisieren, die aus Pelzen ein Geschäft machen.
Das hat es noch nicht gegeben, dass eine Ikone der Popkultur einen derartig radikalen Schwenk in die Politik macht. Sie ist die Erste. Außer vielleicht Uschi Obermaier. Aber die kämpft an anderen Fronten und ist kein Weltstar. Außerdem hat sie den Tierschutz nicht auf dem Zettel. Viele, viele Jahre später wird mein Vater sagen: »Brigitte Bardot war der Anfang vom Ende.« Dass eine einzelne Frau einfach nur durch ihre Konsequenz und innere Überzeugung in der Lage ist, eine weltweit florierende, jahrtausendealte Traditionsbranche zum Einsturz zu bringen, hätte er nicht für möglich gehalten.
Gunter Sachs wird seine Gründe gehabt haben, warum das mit Brigitte Bardot nichts geworden ist und beide mittlerweile geschieden sind, so sieht das jedenfalls meine Mutter, die einer anderen Sorte Religion anhängt. Niemand sollte anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben. Das sagt sie zumindest gebetsmühlenartig in Richtung meiner Großmutter. Die allerdings auf diesem
Ohr völlig taub ist.
Frau Sievers platziert uns im Fisch-Fiete-Garten ganz in der Nähe von Gunter Sachs und seiner Entourage. Dort sind alle noch beim Aperitif, doch etwas später serviert Eberhard wie immer für die Runde »Langustinos à la Napoleon 63«, ein Gericht, das die Mutter von Frau Sievers in grauer Vorzeit eher aus Zufall erfunden hat, weil nichts anderes da war, als überraschend alte Freunde aus Hamburg vor der Tür standen. Und dessen Rezept wie alle anderen gehütet wird wie ein Schatz. Selbst für Sylter wird keine Ausnahme gemacht. »Familiengeheimnis.«
Aber meine Mutter weiß, wie es geht. Sagt allerdings nicht, woher. Zwiebeln in einem Stieltopf mit Butter glasig werden lassen, dann kommen vierundzwanzig Hummerkrabbenschwänze dazu. Mittlere Hitze. Pfeffer. Salz. Zehn Minuten später fünfhundert Gramm frische Champignons in den Topf geben. Wenn sie genügend Wasser gezogen haben, mit jeweils einem Esslöffel Curry und Mehl abbinden und dann ein halber Liter Sahne drauf. Abgeschmeckt wird das Ganze mit etwas Zitronensaft, Salz und einer Prise Zucker.
»Die besten Gerichte sind die ganz einfachen mit wenigen guten Zutaten«, sagt Frau Sievers immer. So sieht dann auch die Speisekarte aus. Fisch, Kartoffeln, grüner Salat. Fertig. Ihr Mann Peter wirkt im Hintergrund, kümmert sich um die Finanzen und um die exquisite Weinkarte. Denn »ein Fisch muss schwimmen«. Gekochter Steinbutt, Sylter Pannfisch, Seezungen, Steinbeißer und Muscheln à la Paris, die ebenfalls in einem Currysud serviert werden, das sind die Klassiker, die immer gehen.
Wir sitzen und warten auf meine Großmutter. Weiße Tischdecke, Stoffservietten, dezentes Blumenarrangement, Kerze im Messingleuchter. Selten ist es so windstill wie heute. Meine
Oma hat einen Termin bei der Kartenlegerin und verspätet sich ganz offensichtlich.
Sie geht häufiger mal zu Oma Lille, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Oma Lille ist gleichzeitig die Klofrau von Keitum. Meine Großmutter ist ziemlich häufig mit ihr verabredet, um zu erfahren, wie es mit ihrem Leben im Allgemeinen und vor allem mit ihren zahlreichen Bekanntschaften weitergeht. Obwohl sie von sich selbst immer behauptet, »das Zweite Gesicht« zu haben, kann sich meine Oma ihre eigene Zukunft nicht selbst vorhersagen. Das kann sie nur für andere.
Deshalb veranstalten meine Eltern auch jedes Jahr am Neujahrstag ein großes Happening für alle Freunde und deren Bekannte bei uns zu Hause, wo meine Großmutter dann am Fließband als Wahrsagerin im Einsatz ist. Diese Veranstaltung endet jedes Mal in einem großen Gelage, bei dem es alkoholbedingt drunter und drüber geht. Tragödien, Tränen und Trennungen. Und immer wird wild getanzt und ausgelassen gesungen und gefeiert. Und weil sich das nicht ändern lässt, sind meine Eltern dazu übergegangen, nur noch diejenigen ins Haus zu lassen, die zu Fuß gekommen sind. Damit es auf dem Nachhauseweg nicht zu schwerwiegenderen Unfällen kommt. Alles schon da gewesen.
Oma Lille heißt eigentlich Elisabeth Johannsen und wohnt natürlich auch in Keitum, gegenüber vom Reitstall. Ihr öffentliches Toilettenhaus befindet sich in der Nähe vom Keitumer Watt in direkter Nachbarschaft zum Heimatmuseum, das nicht zu verfehlen ist, weil man durch ein ovales Tor gehen muss, das aus den monströsen Kieferknochen eines Walfisches zusammengesetzt ist. Oma Lille sitzt immer an einem kleinen Tisch vor dem Fenster neben dem Eingang im Vorraum der Toilettenabteile und wartet, wer da
kommt. Zu ihr gehen sie alle. Nicht nur auf Toilette. Auch Axel Springer holt sich hier schon mal Rat. Das weiß hier jeder. Das machen viele Berühmtheiten, wenn sie nach Sylt kommen.
Aber Oma Lille behandelt alle gleich, weil sie nämlich gar nicht weiß, wer da vor ihr sitzt. Das Einzige, was Oma Lille aus der Ruhe bringen kann, sind ihre direkten Nachbarn rundherum. Weil viele in ihren alten Häusern statt moderner Toiletten noch immer ein Plumpsklo im Garten haben, schicken sie ihre Sommergäste rüber zu Oma Lilles Wasserklosett. Es werden immer mehr, und sie weigern sich zu bezahlen. Darüber kann sich Oma Lille richtig giftig denken. Aber nur mit Denken ändert man ja nichts.
Was meine Oma heute über ihre Zukunft erfahren hat, teilt sie uns leider nicht mit. Es wird aber etwas Gutes gewesen sein, denn sie bestellt, kaum dass sie sich gesetzt hat, laut und quer durch den Garten ein Glas Champagner und fragt erst hinterher meine Mutter: »Willst du auch eins?« Mein Vater trinkt traditionell vorweg ein kleines Bier, und ich bekomme ohne große Abstimmungsprozedur Apfelsaft.
Noch bevor Eberhard unsere Bestellung aufnehmen kann, wird es plötzlich ganz still im Garten. Ein aufsehenerregendes Paar hat den Plattenweg betreten. Ich drehe mich um und werde wie alle anderen Zeugin eines filmreifen Auftritts. Ein sehr schlanker, alter Mann im Stresemannanzug mit Melone auf dem Kopf und einer weißen Nelke im Knopfloch tritt durch das Tor. Ich könnte schwören, das ist Pan Tau. Und sie, hundert Jahre jünger, im taubenblauen Strickkostüm von Chanel über und über mit langen Ketten behängt, hält seine Hand, als würden sie beim Wiener Opernball die Tanzfläche betreten. Ihre Haare sind aufgetürmt, bienenkorbartig aufgewickelt, keine Strähne hat
diese Frisur jemals verlassen. Wie man das auf Sylt hinbekommt, wo jeder Versuch, eine Ordnung ins Haar zu bringen, angesichts der Windverhältnisse aussichtslos ist, wäre einen Aufmacher in der Sylter Rundschau wert.
Pan Tau und seine Begleiterin werden von Frau Sievers überschwänglich begrüßt. »Herr Dr. Quarz, ich freu mich«, ruft sie durch den Garten, womit für alle Restaurantgäste auch geklärt ist, um wen es sich hier handelt, und man sich wieder entspannt den Tischgesprächen zuwenden kann. Nur meine Mutter schießt ein tonloses »Achtung!« gegen mich und meine Oma ab. »Jetzt! Dr. Quarz!« Was so viel heißt wie: Konzentration aufs Oberleder. Es zählt der gute Eindruck. Jetzt nichts falsch machen! Herr Dr. Quarz ist nämlich der ganz große, oberste Boss einer wichtigen Bank in Frankfurt, die auch auf Sylt eine Filiale hat. Und seine Begleiterin ist definitiv nicht seine Ehefrau, denn die kennen meine Eltern gut. Sie hat bestimmt zehn Pelze von uns im Schrank. Seine Tochter kann es auch nicht sein, denn die sieht ganz anders aus. Und ist vor allem mindestens zehn Jahre älter.
Und da kommt Pan Tau auch auf uns zu, und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er als Erstes mit den Fingern oben auf seine Melone tippen wird, um dann mit der Hand einmal nach links und dann nach rechts an der Krempe entlangzustreichen. Aber das macht er leider nicht, sondern küsst stattdessen zuerst meiner Mutter und dann meiner Großmutter die Hand, um sich danach sofort ausschließlich auf meinen Vater zu konzentrieren.
»Das kann kein Zufall sein«, sagt Pan Tau, »Herr Matthiessen, wie schön. Ich wollte Sie um etwas Besonderes bitten – unter sechs Augen sozusagen. Aber zunächst darf ich Ihnen Fräulein Englisch vorstellen.« Die Chanelfrau nickt
in Richtung Tischdecke und sagt: »Guten Abend.« Mein Vater erhebt sich, und die drei verschwinden im Innern des Lokals.
Es dauert ungefähr zehn Minuten, dann ist Papa zurück, in der Hand eine kleine Papiertüte. Wohin soll er sie legen? Kurz ist er desorientiert, schaut sich um, dann platziert er sie auf seinem Stuhl und setzt sich kurzerhand einfach drauf. Meine Mutter runzelt die Stirn und sieht meinen Vater fragend an, meine Großmutter sagt: »Dr. Quarz, das ist doch dieser Sozi, der dem dicken Kluncker von der Gewerkschaft seine Geschäfte organisiert. Mit der ÖTV. Das schmeckt mir gar nicht.« Aber mein Vater reagiert überhaupt nicht, und erst auf der Rückfahrt im Auto, nachdem meine Oma ausgestiegen ist, übergibt er meiner Mutter die Papiertüte. Die wirft einen Blick rein und sagt: »Peida, das ist doch wohl nicht wahr. Was soll das?«
»Das soll die Schnittvorlage sein.«
»Wofür?«, fragt meine Mutter und zieht an zwei Fingern einen cremefarbenen Damenslip aus der Tüte.
»Für einen Ozelot-Bikini.«
»Hatte die Frau das etwa an?«
»Da ist noch ein Büstenhalter drin«, sagt mein Vater.
»Steckt man sich neuerdings extra Unterwäsche ein, wenn man essen geht?«
»Sie hat alles in der Toilette ausgezogen. Und Frau Sievers hat uns dann die Tüte gegeben.«
»Es ist sehr wenig Stoff«, sagt meine Mutter, die für sich selbst und uns innerhalb der Familie immer nur Sloggi einkauft in der klassischen Ausführung. Alles in Weiß.
»Ja. Ich denke auch. So klein kann man den nicht machen«, sagt mein Vater.
Einen Bikini aus Ozelot haben wir noch nie angefertigt. Es ist insofern keine leichte Aufgabe, weil das Fell ja nicht
elastisch ist. Schon das Anbringen eines Gummibands ist ein Problem, weil das Material dann südlich des Bauchnabels so oder so Falten wirft und die Freundin von Dr. Quarz sicher nicht aussehen will wie Fred Feuerstein. Die ganze Firma beugt sich mit all ihren Mitarbeitern über dieses Projekt. Die Frau muss ja in das Höschen hineinkommen, und trotzdem darf es nicht runterhängen. Das ist Tüftelarbeit.
Ich kaufe Tarzanhefte drüben bei Engel im Papierladen. Fräulein Gierlefsen berät mich bei der Auswahl. Nicht in allen Comics trägt Tarzan eine Fellhose, oftmals ist der Lendenschurz aus Leder. Meine Mutter schlägt vor, die Hose im Schnitt etwas abzuwandeln, wie sie es bei Jane Fonda in »Barbarella« gesehen hat. Da werden die schmalen Seitenteile über die Hüften nach oben gezogen und von den Knochen dort gehalten. Der Entwurf stammt von Paco Rabanne. Man darf sich allerdings nicht so viel bewegen. Sonst rutscht alles wieder runter. Meine Mutter wälzt einen Haufen Modezeitschriften.
Am Ende wird der Steinzeitbikini von Raquel Welch aus dem Film »Eine Million Jahre vor unserer Zeit« zur Vorlage genommen. Und zwar ganz ohne Gummiband. Meine Mutter schlägt vor, das Fell an den Seiten zu knoten. Auch für den BH entscheidet sie, dass es besser ist, das Fell quasi um die Brust zu schlingen und mit Knoten zu befestigen. Das ist auf jeden Fall besser, als auf dem Rücken Ösen anzubringen, die klassisch geöffnet oder geschlossen werden müssen und ihr zu »omahaft« erscheinen. Sie entwirft ein ganz neues Modell, das im Grunde wie ein Tuch funktioniert, das von der Rückseite nach vorne geführt, über den Brüsten übereinandergeschlagen und im Nacken mithilfe eines Knotens geschlossen wird.
Ozelotfell lässt sich ziemlich gut formen. Man durchfeuchtet die Lederseite, spannt sie ü
ber einen Leisten und nagelt das Fell auf der sogenannten Zweckplatte fest, einem überdimensionierten großen Tisch in der Werkstatt, den man über eine Kurbel wenden und von beiden Seiten mit Fell betackern kann. Dort lässt man das Material dann trocknen, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Die Zweckplatte ist eins der wichtigsten Werkzeuge, die ein Kürschner benötigt. Auf ihr werden die Felle zugeschnitten, aufgespannt und geglättet, um sie dann zu einem Kleidungsstück zusammenzusetzen. Feuchte Felle lassen sich auf diese Weise dehnen und in Fasson bringen, etwa für die runde Schulterpartie oder eben wie in diesem Fall als Vorbereitung für die Brüste von Fräulein Englisch. So kann sie dann ihren Busen in die ausgefütterten und extra für sie angefertigten Schalen dieses besonderen Ozelotfells legen. Mit der Unterwäsche aus der Tüte hat der neue Pelzbikini nicht mehr viel gemein. Er ist zwar auch knapp, aber nicht ganz so reduziert wie das Original.
Als Fräulein Englisch den Zweiteiler anprobiert, dürfen nur Dr. Quarz und mein Vater anwesend sein. Dafür zieht meine Mutter wieder den großen Vorhang quer durch den Laden und schließt die Schiebetür zum hinteren Kabuff. Der Bikini ist ganz offensichtlich ein Ankommer. Von Fräulein Englisch hört man gar nichts, aber Herr Dr. Quarz bedankt sich wortreich und überschwänglich. Es dauert nur ein paar Sekunden, und mein Vater kommt hinter dem Vorhang hervor, schlägt den Fellbikini sorgfältig in Seidenpapier ein und legt ihn in einen kleinen, mattgoldenen Karton. Es folgen Fräulein Englisch und Dr. Quarz, der meiner Mutter dreitausend Mark für diese Maßanfertigung bar in die Hand legt und sagt: »Danke schön. Ich brauche keine Rechnung.«
Er und Fräulein Englisch vergessen glatt, die Vorlage, ihre Unterwäsche, wieder mitzunehmen, und fragen
auch Tage später nicht mehr danach. Die Sachen liegen noch eine ganze Weile bei uns hinten im Regal, bis Tante Elvi sie findet, Höschen und BH am ausgestreckten Zeigefinger herumwirbelt, »Na, wer bin ich?« ruft und damit hüftschwingend durch unseren Laden läuft. Danach hat meine Mutter die Wäsche sofort weggeworfen.
Mit Ozelot machen wir sehr gute Geschäfte. Gefleckte Wildware ist ein enorm nachgefragter Artikel. Allerdings auch ein sehr teurer, bei uns gibt es Modelle, die kosten fünfzigtausend Mark und mehr. Man braucht ungefähr vierzehn bis sechzehn Felle für einen gut ausgestatteten Mantel. Ozelot ist sehr gut zu verarbeiten, weil die Wildkatzen vergleichsweise klein sind und eine saubere Zeichnung haben. Mein Vater bevorzugt Ozelots aus Brasilien, die sogenannte Bahiaware, die hat schöne Farben und ein spannendes Muster.
Kein Tier gleicht dem anderen, viele variieren in der Schattierung. Es erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl, um aus sechzehn Fellen am Ende in der Wirkung ein einheitliches Bild zu erschaffen. Die Bauchseiten der Ozelots unterscheiden sich vom Rücken, weil sie weiß sind mit klar gezeichneten schwarzen Streifen, die quer verlaufen, während die Oberseite der Wildkatze golden schimmert und mit schwarzen Flecken in Längsform gemustert ist. Das macht den Reiz der Fellzeichnung aus. Punkte und Streifen, einmal quer, einmal längs.
Damit aus dieser Ware ein Kunstwerk entstehen kann, braucht man viel Erfahrung und einiges Zutrauen. Denn die Felle müssen in Wellenform ausgeschnitten werden, um perfekte Übergänge aus einem Guss zu schaffen. Man muss mit Streifen und mit Punkten arbeiten – in Längsrichtung und im Querverlauf. Und man muss das Weiß und das Gold so zusammensetzen, dass am Ende Symmetrie und Balance
entstehen. Es wundert mich nicht, dass mein Vater manchmal nachts hochschreckt, weil ihm im Traum eingefallen ist, wie er den Ozelot in seiner speziellen Zeichnung noch besser zur Geltung bringen könnte. Natürlich ist es Handwerk. Aber nicht nur. Mein Vater arbeitet sich immer auch selbst in jeden Mantel ein. Deshalb ist es für ihn mehr Handschrift als Handwerk.
Für die Ozelotverarbeitung hat er ein Design entwickelt, in dem der »Kragen«, den jedes Tier in Form eines dicken schwarzen Querstreifens an der Kehle trägt, als Blickfang in das Gesamtbild eingearbeitet wird. Dieser »Kragen« ist in sich von Hunderten kleinen, sternenstaubartigen, glänzenden Punkten durchsetzt. Wenn man den mit anderen Fellteilen kombiniert, entstehen im Schulterbereich eines Modells ganz spezielle, unverwechselbare Motive, die den Pelz wiedererkennbar machen.
Wenn man meine Eltern fragt, wie viele Ozelots sie verkauft haben, können sie keine Antwort geben, so viele sind es. Und obwohl dieser spezielle Artikel so begehrt ist, hat man keinesfalls den Eindruck, das sei Massenware. Jeder einzelne Mantel fällt auf und ist ein Einzelstück, sodass seine Trägerin automatisch zu etwas Besonderem wird. Deshalb hat mein Vater auch sehr über diesen Witz aus der Zeitung gelacht: »Im Bundestag gibt es viele Wölfe im Schafspelz, aber nur eine Ziege im Ozelot.«
Er findet, dass Annemarie Renger in ihrem Mantel wirklich elegant aussieht und insgesamt einen guten Job macht. Obwohl sie eine Frau und dann noch in der falschen Partei ist, weil sie nämlich für die SPD im Bundestag sitzt. Sie trägt Pelz mit Stolz. Und sie ist immerhin Bundestagspräsidentin und seit 1972 die allererste Frau der Welt überhaupt an der Spitze eines frei gewählten Parlaments.
Für dieses Amt hat sie sich selbst vorgeschlagen, weil sie wusste, dass es sonst niemand tun würde. Sie wollte einfach ganz nach oben. Aber niemand wollte sie lassen. Ihren Aufstieg musste Annemarie Renger deswegen allein organisieren.
Zurückhaltung ist nicht ihre Natur, vielleicht präsentiert sie sich deshalb – bisweilen recht würdevoll – in ihrem Wildkatzenmantel, der allen signalisiert: Ich bin gefährlich. Komm mir bloß nicht zu nahe! Annemarie Renger versteht, sich Respekt zu verschaffen. Jedenfalls ist ihr der auffällige Mantel dabei eine echte Stütze. Ein Wollmantel könnte das nie. Helfen kann in solchen Fällen auch eine große Handtasche. Aber grundsätzlich haben Frauen nicht so viele Möglichkeiten, mit äußerlichen Attributen Macht zu demonstrieren. Ein passender Pelzmantel kann da Wunder bewirken. Dabei ist es gar kein Ozelot, den die Bundestagspräsidentin trägt. Mein Vater sagt, es sei ein wunderschöner Jaguar. »Leider nicht von uns.« So ein Jaguar hat eine völlig andere Zeichnung. Die Flecken sind größer, gerundet und bilden zum Teil blumenartige Muster. Trotzdem geometrisch. Eigentlich anthroposophisch. Der Jaguar von Annemarie Renger ist toll. Zusammen mit ihrer Betonfrisur ein Bollwerk.
Gefleckte Wildware ist wirklich sehr speziell. Und scheint auch bei den Menschen etwas auszulösen. Jedenfalls gibt es in Westerland neben dem klassischen gelben Ölzeug auch Plastiküberzieher in Leoprint zu kaufen. Und Strumpf-Sönksen drüben auf der anderen Seite der Friedrichstraße hat Polyesterblusen in Wildkatzenoptik. Aber natürlich ist nichts vergleichbar mit echtem Fell und echtem Ozelot. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hat man damit Möbel und Autositze bespannt, bevor die Kürschner den Artikel entdeckten und diese besondere Ware dann mit einem derartig durchschlagenden Erfolg zu Jacken und
Mänteln verarbeitet haben, dass die Felle mittlerweile richtig knapp werden. Sie sind exotisch. Sie rühren an Urinstinkte. Es ist wie Daktari in der Fußgängerzone.
An der Kleidung kann man den Zustand der Welt ablesen. Immer.
Meine Eltern sind ganz leicht alarmiert. Für den Ozelot besteht akute Ausrottungsgefahr. Das große Reflektieren hat angefangen. In Washington bereitet man ein Artenschutzabkommen vor. 1975 tritt es in Kraft. Ein Jahr später wird es auch in Deutschland wirksam, und der Handel mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten wird verboten. Es drohen empfindliche Strafen. Zur Überraschung aller: Es funktioniert.
Bevor aber die geschützte Wildware aus unserem Sortiment verschwindet, lässt sich Freddy Quinn bei uns noch seine Jeansjacke mit Ozelot füttern. Er hat einen Vertrag mit dem Circus Ringling Brothers and Barnum & Bailey in den USA. Er tritt dort als Löwendompteur mit acht Großkatzen auf. Dafür will er passend angezogen sein und auch äußerlich als Attraktion in Erscheinung treten. Er will Beachtung. Dafür ist Ozelot ideal.
Freddy Quinn lässt seine Jeansjacke da, auf deren Rücken ein plakativer Schriftzug mit dem Zirkusnamen prangt, der von einem riesigen Tiger angesprungen wird. Das Ozelotfutter ist kein Problem. Aber er will zusätzlich noch ein echtes Eisbärenfell haben mit ausgestopftem Kopf wie bei »Dinner for One«. Für so etwas gibt es keinen Großhandel. Mein Vater muss lange telefonieren, um das zu besorgen.
Freddy Quinn gehört zu den Kunden, die immer richtig viel in Auftrag geben. Allerdings kauft er die meisten Pelze nicht für sich selbst, sondern für Frau Blessmann, seine Managerin, die auch seine Geschäfte führt. Lilli
Blessmann und Freddy Quinn kommen schon viele Jahre zusammen nach Sylt. Sie ist ziemlich viel älter als er. Genau genommen dreizehn Jahre. Wir dachten, er sei schwul. Und niemand hätte gedacht, dass die beiden lange schon verheiratet sind. Von der Ehe erfährt die Öffentlichkeit erst Jahrzehnte später, als Freddy Quinn wegen Steuerhinterziehung vor Gericht kommt. Er soll dem Finanzamt 1,8 Millionen Mark vorenthalten haben. Da steht er mit Lilli Blessmann schon kurz vor der goldenen Hochzeit. Nicht einmal meine Mutter hat etwas geahnt, dabei hat sie für so was eigentlich den sechsten Sinn. Aber die beiden gingen in unserem Geschäft derartig formell miteinander um, siezten sich, hielten Distanz, besuchten anschließend am selben Abend zur selben Zeit sogar unterschiedliche Lokale, dass man sich heute fragt: Warum diese Heimlichkeiten? Zu welchem Zweck? Jahrzehntelang? Wer will so leben?
An Absurditäten herrscht auf Sylt kein Mangel, und vor allem in unserem Geschäft kommt es immer wieder zu merkwürdigen Szenen. Neulich musste ich wieder heimlich meinen Vater herantelefonieren, weil ein sehr unangenehmer Mann mindestens zwei Stunden eine Dauerkuhle in unser Kundensofa gesessen hatte. Er war klein und hatte ganz dünne strähnige, ungewaschene, halblange Haare, die links und rechts über die Ohren hingen. Sein Mantel war dünn und fleckig, insgesamt machte er einen ungepflegten Eindruck. Er saß die ganze Zeit in sich zusammengefallen da, als hätte er ein schlimmes Rückenleiden. Er war weder höflich noch freundlich, er ließ sich von meiner Mutter alles Mögliche zeigen, und man wusste nicht, ob er überhaupt genau hinguckte, weil eins seiner Augen abgedriftet war.
Als endlich mein Vater das Geschäft
betrat, war meine Mutter sichtlich erleichtert. Sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, Frau Hass aus der Boutique von nebenan, von Inga-Moden, dazuzuholen, weil sie zwischendrin das Gefühl bekam, ein Obdachloser erschleicht sich hier kostenlosen Kaffee. Aber Frau Hass war auch allein im Geschäft und konnte nicht weg, da hatte ich schon nachgesehen. Deshalb blieb die Rolle der Ladenpolizei an mir hängen. Tatsächlich vermochte es mein Vater ziemlich schnell, zu diesem seltsamen Mann Kontakt aufzunehmen und ein Gespräch in Gang zu bringen.
Der Herr suchte etwas für seine Frau, wusste aber weder die Größe, noch hatte er Vorstellungen, was für ein Pelz ihr gefallen könnte. Er machte auch nicht den Eindruck, als würde ihn das ernsthaft interessieren. Trotzdem war er wild entschlossen, einen Mantel zu kaufen. Nur welchen, das stellte ihn vor Probleme. Nutria? Nerz? Bisam? Blaufuchs? Hamster? Opossum? Der Mann hieß Rudolf Augstein und hatte wohl einen schlechten Tag. Ich kann mich nicht mehr erinnern, für was er sich am Ende entschieden hat, aber eins war vollkommen klar: Rudolf Augstein wollte keinesfalls mit einem Pelz-Matthiessen-Karton durch die Westerländer Innenstadt laufen. »Bringe ich Ihnen heute Abend gern vorbei«, sagte mein Vater, »ich weiß ja, wo Sie wohnen.«
Als meine Mutter im Geschäft den Staubsauger anwirft, fahren wir los. Sie wird noch mindestens eine Stunde zu tun haben, bis die ganze Dekoration steht und sie für heute Feierabend machen und den Laden abschließen kann. Mein Vater hat die heimliche Hoffnung, dass Rudolf Augstein uns vielleicht ins Haus bittet. Ihn interessiert, wie er wohnt. Er verehrt den Gründer des Spiegel, hält ihn für den einflussreichsten Journalisten im Land und ist voller Bewunderung für diesen Mann, der aus dem Nichts
in der Rekordzeit von nur fünfundzwanzig Jahren ein Medienimperium aufgebaut hat und den alle Politiker fürchten.
Also machen wir einen Schlenker über Archsum, wo das alte, weiße Kapitänshaus steht, das Herr Augstein 1967 einer Hamburger Familie abgekauft hat. Es liegt weitab vom Kampener Trubel und Lichtjahre vom Westerländer Kurzentrum entfernt, das der Verleger für eine der größten Bausünden hält, die Nachkriegsdeutschland sich anzulasten hat, und von dem er sich persönlich beleidigt fühlt und sich deswegen konsequent fernhält, wie er der alten Frau Baumann aus Baumannshöhle geklagt haben soll.
Die Geschichte von Augsteins Landsitz, dem Kapitänshaus im Weesterstich, geht bis ins frühe achtzehnte Jahrhundert zurück. Bis die Hamburger kamen und kauften, war es durchgehend in der Hand einer Sylter Seefahrerfamilie. 1923 ertranken Peter Christian Matzen und seine Frau Inken bei einer Sturmflut, die überraschenderweise mitten im Sommer kam, am 30. August, und das Haus fast zerstört hätte. Die Flut kam von drei Seiten. Und sie kam so schnell, dass Inken und Peter Christian keine Chance hatten. Dem Kapitän gelang es noch, seine zehnjährige Enkelin auf einen Pfahl zu setzen, bevor er im Wasser unterging. Das Kind überlebte. Nach dem Krieg wohnte dort im Archsumer Kapitänshaus lange eine Verwandte der Matzens zusammen mit einem mittellosen Ehepaar, das sieben Kinder hatte. Das Haus ist groß genug.
Es liegt auf einer Warft, rundherum sind nur Wiesen und Obstbäume, so weit man schauen kann. Schon von Weitem sieht man das Augstein-Haus hell in der untergehenden Sonne leuchten, sobald man den Hindenburgdamm östlich von Keitum über den Bahnübergang passiert hat.
Daneben ein Fahnenmast. Das Grundstück ist großzügig und weitläufig. Es gibt keine Hecken. Keinen Sichtschutz. Ein paar alte Bäume stehen vereinzelt im Park. Um zum Eingang zu gelangen, muss man unten an der Straße ein breites Holztor öffnen wie bei Bonanza. Dann geht es im Bogen leicht bergauf.
Wir parken direkt vor dem Haus. Als mein Vater klingelt, macht niemand auf. Wir warten eine Weile. Nichts passiert. Hören wir was? Nein. Dann drückt mein Vater beherzt die Klinke, und die Tür ist wie üblich nicht verschlossen. Das Haus ist von innen im klassisch englischen Landhausstil eingerichtet. Die Wände sind mit Stoff bespannt, viel Russisch-Grün und Rot gestreift. Am Ende des dunklen Flurs steht die Tür zur Stube offen. Hier ist alles komplett gefliest und mit historischen Kacheln dekoriert. Die Möblierung ist geschmackvoll und teuer, und mittendrin sitzt schlafend in sich zusammengesunken Rudolf Augstein umgeben von Flaschen und Gläsern. Nicht mehr ansprechbar.
Mein Vater sieht sich ratlos um, richtet sich kurz die Krawatte und stellt dann direkt unter Augsteins rechtem Ellenbogen auf dem Fußboden leise die große Tüte ab, in der sich der goldene Karton befindet, in dem – eingeschlagen in knisterndes Seidenpapier – ein erstklassiger Pelzmantel liegt. Stumm ziehen wir uns zurück und verlassen das Haus. Die Enttäuschung ist meinem Vater anzumerken. Er spricht den ganzen Abend kein Wort mehr. Wahrscheinlich hätte er gern gesehen, wie Frau Augstein ihren neuen Pelz zum ersten Mal anprobiert. Vielleicht wäre er gern wie ein alter Freund begrüßt worden. Vielleicht ist er aber auch verletzt, weil er mit dem »Sturmgeschütz der Demokratie« etwas anderes verbunden hatte.
Der Alkohol. Überall zu viel. Überall wird ständig
nachgeschenkt. Überall wird gefeiert. Polizeikontrollen gibt es nicht. Aber meine Eltern halten sich trotzdem demonstrativ zurück. Die Sylter brauchen einen klaren Kopf, wenn alle anderen benebelt sind. Alkohol nur, wenn keiner zuguckt oder im Freundeskreis. Die von den Feriengästen so hochgeschätzte Grenzenlosigkeit funktioniert nämlich nur, wenn die Sylter eine reibungslose Infrastruktur zur Verfügung stellen. Gerade erst ist Bundeskanzler Willy Brandt in List vom Balkon seines Feriendomizils zwei Meter abgestürzt. Vollkommen betrunken. Eine Freundin von Pfuschis Mutter war dabei, als sie ihn geborgen haben. Es ist das erste Haus, rechts oben auf der Düne, wenn man nach List reinfährt. Links die Wanderdünen, dann ein kleines Tal, das Ortsschild und scharf rechts oben sieht man das Haus und den Balkon im ersten Stock, wo der Bundeskanzler über Bord ging. Er war zu Gast bei seinem Parteifreund, Lists Bürgermeister Horst-Günther Hisam in seinem Privathaus. Also privat. Auf Einladung.
Man muss allerdings wissen, dass Bürgermeister Hisam auch ein großer Bauunternehmer ist. Er kam Anfang der 1960er-Jahre auf die Insel, vorher hat er für die »Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft« des früheren SS‑Oberführers und Himmler-Vertrauten Professor Reinhard Höhn gearbeitet. Als Bauunternehmer machte Hisam in List kurzen Prozess, kaufte den Eingeborenen ein Dünental ab und nannte es »Sonnenland«.
Bürgermeister Hisam haben wir zu verdanken, dass heute in der einst menschenleeren und naturbelassenen Dünenlandschaft südlich von List auf rund vierhunderttausend Quadratmetern zweihundertdreißig Privathäuser stehen. Profitiert hat davon vor allem einer: Bürgermeister Hisam. Privat. Im Winter eine Geistersiedlung.
Im Sommer ein Ferienidyll. Und rund ums Jahr ein Closed-Shop, in dem die Sylter nichts zu melden haben. Die Häuser werden unter der Hand weiterverkauft, die Inselbevölkerung bleibt außen vor. Ich habe noch nie einen Fuß dort reingesetzt, und ich wüsste auch nicht, dass meine Eltern jemals dort waren. Oder irgendjemand anders, den ich kenne.
Eigentlich wollte Hisam gleich gegenüber, direkt am Wattenmeer in der Blidsel-Bucht, südlich seines Privathauses sofort die nächste Großbaustelle aufmachen. »Wegen vielfachen Bedarfs« hatte er mit der Gemeinde List schon einen neuen Bebauungsplan aufgestellt. Für weitere siebzig Häuser im Naturschutzgebiet. Aber das Ding läuft jetzt nicht. Es gibt eine Sylter Bürgerinitiative, und auch Professor Grzimek hat bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt, er befürchtet die »Zersiedlung des international bedeutsamen Naturschutzgebietes Nordsylt«. Professor Grzimek ist ein Umweltschutz-Superstar im Fernsehen und genießt hohes Ansehen auch in der Politik. Gerade erst hat er ein Hühner-Hochhaus in Berlin-Neukölln verhindert, wo zweihundertfünfzigtausend Hennen mitten in der Stadt ihre Eier legen sollten. Seine schützende Hand streckt er auch über Sylt aus, deshalb ist die Baugenehmigung jetzt hinfällig, obwohl die Gemeinde List sie schon erteilt hatte, und Bürgermeister Hisam ist verschwunden. Einfach weg. Mittendrin. Mein Vater sagt, er kommt auch nicht wieder. Weggezogen.
In ganz Deutschland segeln spektakuläre Bauprojekte in die Pleite und die Banken gleich mit. Der Bauboom ist zu Ende. Die Blase ist geplatzt. Zehntausende Neubauwohnungen stehen bundesweit leer. Mit der Konjunktur geht es bergab, der Benzinpreis ist explodiert, alles gerät ins Rutschen. Es gibt sogar Sonntagsfahrverbot. »Und Willy Brandt?«, frage ich. »Der war einfach nur privat hier«, sagt mein Vater. »
Als Mensch.« Als Mensch auf Sylt. Wie alle anderen, die in der Welt eine Menge zu sagen haben und sich hier zusammenfinden. Alles privat. Auf Sylt ist von der Konjunkturkrise übrigens nichts zu spüren.