Kapitel 7
DIE SACHE MIT DEM OPOSSUM
Während sich meine Großmutter oben noch anzieht, betrachte ich im Wohnzimmer ihr Porträt in Kreide, das großformatig über dem Sofa hängt. Sie ist wie üblich als Diva abgebildet. Es liegt etwas Verträumtes in ihrem Blick und gleichzeitig etwas Provokatives. Normale Menschen würden sie auf diesem Gemälde mit Zarah Leander verwechseln. Aber wenn man genau hinsieht, ist es dann eben doch nur meine Oma. Über ihrem schneeweißen Busen ist eine braune Nerzstola drapiert, und sie sieht aus, als würde sie gleich loslegen und »Man nennt mich Miss Vane, die berühmte, bekannte, YES SIR! « schmettern. »Die nicht sehr beliebte bei Onkel und Tante, no, Sir! Man fürchtet, ich könnt die behüteten Neffen im Himmelbett oder Spielsalon treffen, ich könnt sie verführen mit tausend Listen, zu etwas, das sie vielleicht doch noch nicht wüssten. Yes, Sir! So bin ich am ganzen Leibe ich, so bin ich und so bleibe ich. Yes, Sir!«
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Herr Rauter, ihr Untermieter, dieses Lied in einer Dauerschleife auf seinem kleinen Plattenspieler laufen lässt, sodass ich es schon lange auswendig kann. Herr Rauter hat ein steifes Bein vom Krieg und ist nicht mein Fall. Er grinst die ganze Zeit komisch und spricht verwaschen, weil sein Gebiss nicht richtig sitzt. Sein Gesicht ist auf ungewöhnliche Art verzogen, als hätte er ständig Schmerzen. Er ist sehr groß und mager, hat eingefallene Wangen und riecht überhaupt nicht gut. Er trägt immer dieselben Anziehsachen.
Und ganz oft fordert er mich auf, auf sein Holzbein zu klopfen, was er wohl freundlich meint, weil er sonst nicht weiß, was er mit Kindern anfangen soll. Ich mache das dann auch, aber mehr so aus Höflichkeit. Wenn man auf sein Bein klopft, das in einer dicken Filzhose steckt, klingt es nicht nach Holz, sondern eher nach Plastik. Und er sagt dann jedes Mal: »Das ist Fleisch.« Wobei er »Fleisch« wie »Flei‑i-i-isch« ausspricht und dabei sehr verzerrt grinst. Und doch nur aussieht, als hätte er noch mehr Schmerzen. Wie gesagt, Herr Rauter ist nicht mein Fall.
Er versucht, nett zu sein. Aber er verschleißt zu viele Klo­brillen, sagt meine Oma. Weil er sich nicht richtig geschmeidig hinsetzen kann und auf den letzten zwanzig Zentimetern eher fällt. Das wird langsam teuer. Herr Rauter ist vor zwei Jahren fest bei meiner Oma eingezogen, weil sie erkannt hat, dass Ferienvermietung zu viel Arbeit macht und man sich zu sehr nach den Gästen richten muss. Schon allein auf deren Ankunft zu warten war ihr zu viel. Aber meine Oma braucht das Geld. Deshalb wird das kleine Zimmer mit der Dachschräge, dem minikleinen Fenster und dem Waschbecken an der Wand nun fest von Herrn Rauter bewohnt. Er richtet sich mit allem ganz und gar an meiner Oma aus, das macht vieles leichter.
Herr Rauter möchte gern in Westerland auf dem »Friedhof der Heimatlosen« beerdigt werden, erzählt meine Großmutter, wenn das Gespräch mal auf ihren Untermieter kommt. Sie sagt, er sitzt dort häufig auf der Bank, vor und nach der Arbeit, und betrachtet die schlichten Holzkreuze, auf denen nur das Datum vermerkt ist, wann und an welchem Strand die jeweilige Wasserleiche angespült worden ist. Niemand weiß, wer die Leute waren. Dieser kleine Friedhof ist die letzte Heimat für die Heimatlosen. Das scheint Herrn Rauter zu gefallen. Und auch, dass diese kleine Scholle mitten im geschäftigen Trubel Westerlands ein stiller abgeschiedener Ort geblieben ist, nah am Strand, gegenüber der katholischen Kirche.
»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Rauter«, sagt dann meine Oma angeblich immer zu ihm. »Auch wenn Sie sich ins Wasser stürzen. Der Friedhof ist wegen Überfüllung geschlossen.« Sie sagt dann auch: »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.« Und auch: »Der Mensch denkt, und Gott lenkt.« Sie hat da ein größeres Repertoire an Sinnsprüchen, die eigentlich immer irgendwie passen.
Herr Rauter arbeitet in der Friedrichstraße im Schnell­imbiss »Eet gau to«. Der gehört dem Schwager von Herbert Godbersen. »Eet gau to« heißt wörtlich übersetzt »Iss schneller«. Die niedrige Baracke, die den Imbiss beherbergt, ist in der Friedrichstraße zwischen zwei größeren festen Häusern eingeklemmt gegenüber von Tabak-Mackenthun und gilt als Institution auf der Insel, in der sich vor allem am späten Abend häufig meine Eltern noch mit ihren Freunden und anderen Syltern treffen, die auch gerade ihre Läden zugemacht und alle noch Hunger haben.
Herr Rauter sitzt unauffällig hinten in der Ecke auf einem kleinen Stuhl, schneidet Fleisch, Zwiebeln und Paprika zurecht und zieht Schaschlikspieße auf. Manchmal befüllt er auch die beliebten »Schlachtschiffe«. Dafür verwendet er eine halbe ausgehöhlte Salatgurke und Unmengen Fleischsalat. Der ist natürlich hausgemacht. »Das gibt ordentlich Tinte auf’n Füller«, sagt dann der Schwager von Herbert Godbersen, wenn er das »Schlachtschiff« über die Theke reicht. Herr Rauter arbeitet im Sommer sieben Tage die Woche im »Eet gau to«. Wenn er nicht im Imbiss sitzt oder auf dem Friedhof der Heimatlosen, dann beobachtet er durch sein kleines Fenster, wann meine Oma nach Hause kommt und wann sie wieder geht, und spielt dazu Zarah Leander. Dann schallt es auf die Straße hinaus:
»Wo ist ein Mensch, der mich versteht? So habe ich manchmal vor Sehnsucht gefleht. Tja, aber dann gewöhnt ich mich dran. Und ich sah es ein. Davon geht die Welt nicht unter. Sieht man sie manchmal auch grau.«
Manchmal bittet meine Oma Herrn Rauter, den Rasen zu mähen und sich um die Blumen und die Hecke zu kümmern. Das macht er sehr gerne und sehr gewissenhaft. Wenn ich ihn im Garten werkeln sehe, versuche ich, mich unauffällig an ihm vorbei ins Haus zu schleichen, um nicht schon wieder auf sein Bein klopfen zu müssen. »Der bildet sich Schwachheiten ein«, sagt meine Oma manchmal. Und macht dann den Scheibenwischer auf und ab mit der flachen Hand vor ihrem Gesicht. Hin und wieder kommt es auch zu einem Zwischenfall wie letzte Woche, als Herr Bodenhausen-­Merschmeier mit einem Rosenstrauß die Einfahrt heraufkam und Herr Rauter unerwartet aus dem Gebüsch brach, überraschend schnell auf den Verehrer meiner Oma zuhumpelte, ihn mit der schweren Heckenschere bedrohte und dabei hysterisch schrie: »Rut! Rut! Ut mien Hus! Rut! Ick mok Hackfleisch us di.«
Auch das Hackfleisch kommt dann als »Flei‑i-i-isch«.
»Rauter!«, explodierte meine Oma. »Schluss damit! Entschuldigen Sie sich gefälligst!« Da zuckte Herr Rauter zusammen und verschwand über die Treppe in sein Zimmer, was immer etwas dauert, weil die Treppe nach oben schmal und steil ist und Herr Rauter lang und gehbehindert. Dann setzte er wieder den Plattenspieler in Gang, und die ganze Nachbarschaft hat gut davon.
»Es ist ja ganz gleich, wen wir lieben. Und wer uns das Herz einmal bricht. Wir werden vom Schicksal getrieben. Und am Ende ist immer Verzicht.«
Mein Vater sagt schon länger, dass das mit Herrn Rauter so nicht mehr weitergehen kann. Er findet es nicht gut, dass seine Mutter Schlafzimmer an Schlafzimmer mit diesem Mann unter einem Dach wohnt. Ihn stört auch, dass sie ein einziges Badezimmer gemeinsam benutzen. Aber meine Oma sagt immer: »Wo soll einer wie Rauter denn hin?« Da wären schon ganz andere Leute nach dem Krieg einquartiert gewesen. Und manchmal sagt sie auch: »Das erweitert den Horizont.« Oder: »Zum Meer gehören auch die Ufer.« Oder: »Was kann Rauter dafür, dass der Führer ihn kaputt gemacht hat.«
Mit Frau Knop von nebenan liegt sie allerdings inzwischen im Streit. Wegen des toten Rauhaardackels Raudi. »Den hat der Rauter auf dem Gewissen«, sagt Frau Knop giftig jedem, der es hören will. Raudi konnte sich am Ende gar nicht mehr bewegen und hat nur noch geröchelt. Er konnte sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen. Dabei war Raudi gar nicht mal so alt. Irgendwann ging es einfach nicht mehr, da ist dann gegen Abend der Insel-Tierarzt Claus Andersen gekommen und hat den Hund in seinem Körbchen eingeschläfert.
Während Raudi also dem Tod entgegensegelte, haben Frau Knop und der Tierarzt, den hier alle auf der Insel nur »Clausdokter« nennen, eine ganze Flasche Korn leer gemacht. Stundenlang haben sie zusammengesessen. Zuerst hat Frau Knop nur geweint. Dann hat sie nur noch gelacht. Am Ende muss dann wohl auch klar gewesen sein, dass der Hund noch am Leben sein könnte, wenn er nicht so fett geworden wäre. Und als Frau Knop Herrn Rauter wegen Raudi zur Rede stellte, hat er zugegeben, dass er regelmäßig das ganze weggeschnittene Fett vom filetierten Schaschlikflei‑i-i-isch an Raudi verfüttert hat, weil der Hund das so gerne mochte und der gute Speck ja sonst weggeworfen worden wäre.
»Meine Güte, verstehen Sie doch, der Mann ist einsam«, hat meine Oma zu ihrer Nachbarin gesagt. »Können Sie das nicht verstehen? Er hat im Krieg nichts zu essen gehabt. Und jetzt soll er das gute Fett wegschmeißen?«
Frau Knop hat einen feuerroten Kopf bekommen, wollte etwas sagen, ist dann aber wieder in Tränen ausgebrochen. Meine Oma ließ das vollkommen kalt.
»Kaufen Sie sich einen neuen Hund. Ich gebe was dazu.« Frau Knop drehte auf dem Absatz um und kam nicht wieder.
Nach diesem Zusammenstoß hat meine Oma jedoch beschlossen, dass etwas geschehen muss mit Herrn Rauter. Er soll ein bisschen normaler werden. Deshalb will sie Herrn Rauter mitnehmen zu ihrem Termin mit GerdvonGott. Was nun auch der Grund ist, weshalb ich hier in ihrem Wohnzimmer auf meine Großmutter warte. GerdvonGott führt das Werk von Bruno Gröning weiter, dem berühmten Wunderheiler, den sie noch persönlich kannte und der ihre Galle fern­operiert hat, sodass sie jetzt schon seit langer Zeit beschwerdefrei ist. Bruno Gröning ist zwar schon fünfzehn Jahre tot, lebt aber in GerdvonGott weiter. Und der kann sicherlich auch Herrn Rauter helfen. Aber es muss ganz unter uns bleiben. Nicht mal meine Eltern dürfen davon erfahren, denn was wir heute vorhaben, ist verboten, sagt Oma.
Unsere Mission geheim zu halten ist überhaupt nicht schwierig, denn im Pelzgeschäft ist wieder Hochbetrieb und meine Eltern sind überbeschäftigt. Der Grund: Mein Vater hat einen echten Hit gelandet. Er hat einen Mantelschnitt entwickelt, der in allen unterschiedlichen Größen einfach jeder Frau wie angegossen passt. Und weil von der Achselhöhle bis zum Saum ein breiter Streifen butterweiches Nappaleder eingearbeitet ist, sieht jede »gnädige Frau« darin deutlich schlanker aus, als sie in Wirklichkeit ist. Er hat das Modell »Karat« genannt. Es kommt in allen Pelzarten, wird meinen Eltern aber vor allem in der Ausführung »Blackcross« aus den Händen gerissen. Blackcross sind schneeweiße Nerzfelle, die einen schwarzen schmalen Streifen auf dem Rücken haben und nach der Verarbeitung aussehen, als hätte man sich einen Schlittenhund angezogen. Der Husky-Look ist in dieser Saison der Renner. Vor allem bei Zahnarztfrauen.
Neben den klassischen Unternehmerfamilien sind Zahnärzte überhaupt unsere allerbesten Kunden. Sie verdienen von allen Medizinern am besten, und sie geben ihr Geld auch gerne aus. Und wie in jedem Sommer findet auch in diesem Jahr in Westerland die »Sylter Woche« statt, der große Fortbildungskongress der Zahnärztekammer. Da wird die Friedrichstraße mit Zahnmedizinern und Kieferorthopäden geradezu geflutet, und für alle unsere Angestellten gilt dann Urlaubssperre. Und als der Laden gerade am vollsten ist und meine Eltern beide gleichzeitig jeweils zwei Kundenpaare beraten und bedienen, kommt ausgerechnet Oswalt Kolle ins Geschäft, den man auf der Insel nur allzu gut kennt, weil er sich für seinen Sex-Aufklärungsfilm »Dein Kind, das unbekannte Wesen« am Sylter Strand zusammen mit seiner ganzen Familie hat nackt fotografieren lassen. Oswalt Kolle möchte sich bei uns ein Braunbärenfell ausleihen.
Ein richtig großes. Wo noch der Kopf dran ist. Was man sich vor den Kamin legen kann. »Sie wissen schon«, sagt Oswalt Kolle zu meiner Mutter und gibt sich kumpelhaft .
»Ausleihen?«, fragt meine Mutter ziemlich überrascht. »Ausleihen …«, sagt sie danach dann etwas gedehnt, lässt die anderen Kunden stehen und muss sich erst einmal orientieren. Vor ihrem inneren Auge rattert sie alle seine Filme durch: »Was ist eigentlich Pornografie?«, »Zum Beispiel Ehebruch« und vor allem »Deine Frau, das unbekannte Wesen«. Da stellen sich ihr die Nackenhaare auf. Denn sie findet Oswalt Kolle im Grunde ganz unmöglich. Und diese Einschätzung teilt sie mit ihren Freundinnen, die eins ganz bestimmt nicht brauchen: dass ihnen ein Mann erklärt, wie sie als Frauen funktionieren und was beim Geschlechtsverkehr alles als normal zu gelten hat.
Natürlich steht auch bei uns zu Hause »Deine Frau, das unbekannte Wesen« als Buch im Regal. Wie es dahin gekommen ist? Niemand will’s gewesen sein. Klar habe ich es heimlich gelesen und weiß nun alles über mich, falls ich irgendwann mal eine erwachsene Frau sein sollte mit einem ganz normalen Eheleben. Ich weiß jetzt, dass Frauen verliebt sein müssen, bevor sie erotisch reagieren. Männer brauchen das nicht. Die Erregungskurve beim Mann ist mit dem steilen Anstieg der Zugspitze vergleichbar. Die der Frau sieht aus wie der Schwarzwald, schreibt Oswalt Kolle.
Und ein Mann darf eine Frau nicht wie einen Gegenstand behandeln. Er darf nicht den Straßen- und Arbeitsstaub von sich abschütteln und sich dann mit einem Bier vor den Fernseher setzen, sondern er soll in der Küche hinter ihr stehen, während sie das Abendessen zubereitet, sie streicheln und ihr gut zureden. »Dann gießt er zwei Schnäpse ein und stößt mit ihr an.« So beginnen die ersten Schritte auf der »Leiter in den Liebeshimmel«. Also ein Mann kann wirklich viel tun, um seine Frau besser auf den Geschlechtsverkehr vorzubereiten, sagt Oswalt Kolle. Ganz wichtig: Er muss ihr in der intimen Begegnung Zeit lassen und darf sie nicht drängen, »sie nicht beschimpfen und beleidigen«. Er sollte »die Begegnung besonders gut nutzen, wenn die Frau ein wenig beschwingt und gelockert durch Alkohol ist«. Aber er darf sich auch »nicht scheuen, mit seiner Frau zum Psychotherapeuten zu gehen«, wenn es erforderlich erscheint. Weiß ich also Bescheid.
Oswalt Kolle ist für meine Mutter ein rotes Tuch. Und nicht nur, weil sie mit der Zugspitze oder dem Schwarzwald nichts anfangen kann oder weil mein Vater gar nicht der Typ Straßenstaub ist. (Beide trinken auch niemals Schnäpse zu zweit in der Küche.) Es ist vielmehr so, dass Oswalt Kolle ihr eine weitere Last auflegt. Dabei hat sie doch schon alle Kräfte aufgebraucht. Sie, das ultramoderne Aushängeschild einer selbstbestimmten Frau, ohne die in unserer Firma einfach nichts funktionieren würde, die die Hausfrauen-Ehe und das spießige Muttersein aus tiefer Seele ablehnt und es viel erfüllender findet, der Motor einer perfekt geölten Geschäftsmaschine zu sein. Sie ist stark und erfolgreich. Aber ist das sexy?
Bei Oswalt Kolle steht, dass so was den Männern eher Angst einflößt. Die perfekte Frau ist die nackte Frau. Und wie sehr sich die Männer solche Frauen wünschen, kann man jede Woche auf den Titelbildern von Stern, Quick und Spiegel sehen, wo Frauen selbst dann nackt abgebildet sind, wenn es um Tierversuche geht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass fast alle Chefredakteure der Bundesrepublik im Sommer auf Sylt Ferien machen. Und bekanntermaßen steht diese Insel in dem Ruf, modern, populär und vor allem immer nackt, lustbetont und hemmungslos zu sein. Auch das kann man in jeder Illustrierten nachlesen.
Als wäre das alles nicht schon Druck genug, hat nun auch noch Oswalt Kolles gute Freundin Beate Uhse in Westerland ausgerechnet im Gebäude des Kurzentrums ein Fachgeschäft für »Ehehygiene« eröffnet, wo es neben speziell gestalteter Unterwäsche auch noch allerhand Werkzeug zu kaufen gibt und in das noch kein einziger Sylter einen Fuß gesetzt haben will. Zumindest behaupten das ohne Ausnahme die Freundinnen meiner Mutter – übrigens auch im Namen ihrer Männer. »Jetzt sollen wir auch noch Kunststücke können. Was sollen wir hier noch alles leisten?«, hat Hilke Lambrecht von Maybach 13 neulich zu meiner Mutter gesagt, als wir bei ihr unsere Sachen aus der Reinigung abgeholt haben. »Den ganzen Tag hinterm Tresen und nachts ’ne Granate im Bett? Irgendwo ist ja wohl mal eine Grenze.«
»Ich bräuchte das Bärenfell nur für eine Woche«, versucht Oswalt Kolle in sehr höflichem Tonfall das Gespräch mit meiner Mutter wieder in Gang zu bringen, »natürlich bekommen Sie es ohne jedwede Verschmutzung zurück.« Aber meine Mutter denkt sofort an dieses Foto von Burt Reynolds, das gerade um die Welt ging, wie er verführerisch und vollkommen nackt – recht interessant behaart – auf dem Fell eines Braunbären liegt. Mit dem rechten Oberarm stützt er sich lässig auf dem Bärenschädel ab, sein anderer Arm versperrt dekorativ die Sicht auf die wirklich interessanten Dinge. Will sich Oswalt Kolle auch nackt fotografieren lassen? Auf unseren Pelzen? Vielleicht noch im Sand? Sie fragt aber nicht. Sie fragt nie. Sie nennt es »Rücksichtnahme«. Dieser Maxime opfert sie in der Regel auch alle moralischen und ethischen Bedenken. »Moral bezahlt nämlich keine Rechnungen.«
»Ein Bärenfell kann ich so schnell nicht besorgen. Das haben wir nicht auf Lager. Ich kann Ihnen aber eine Opossumdecke zur Verfügung stellen«, sagt sie zu Oswalt Kolle, »das Fell ist dankbar, dicht und schön weich.« Sie sagt nicht, dass Opossums Beutelratten sind. »Eine Felldecke … hm. Ich weiß nicht recht. Na gut. Die tut’s vielleicht auch«, sagt Kolle. Und meine Mutter bereut im selben Moment, dass sie so entgegenkommend war. »Der Mann nimmt sich wirklich einiges heraus. Unverfroren«, wird sie später zu ihren Freundinnen sagen.
Zur selben Zeit lässt meine Oma immer noch auf sich warten. Ich sitze im Wohnzimmer und langweile mich. Wenn es noch länger dauert, kommen wir zu spät zu GerdvonGott. Ich schaue mich um in diesem Raum, der geradezu erdrückt wird von den großen, schwarzen Gründerzeitmöbeln, die früher in ihrem residenzartigen Haus, das sie mit meinem Großvater bewohnt hatte, bestimmt mal dekorativ gewirkt haben. Aus dieser Zeit stammen ebenfalls die viel zu vielen Perserteppiche, die aus Platzmangel zum Teil übereinanderliegen. Auf einigen Beistelltischchen sind auch noch Jugendstil-­Bronzefiguren verteilt, meistens superschlanke Frauen mit langen Haaren, die sich elegant verbiegen.
In ihrer wuchtigen Schrankwand bewahrt meine Großmutter alle zehn Bände von »Angelique« auf. »Angelique und die Versuchung«, »Angelique und die Verschwörung«, »Angelique und die Hoffnung« und so weiter. Jedes Buch hat eine andere Farbe, und die Aufschrift ist voll dramatisch gestaltet, sodass der Inhalt gefährlich erscheint. Meine Großmutter hat mich vor einiger Zeit beiseitegenommen und mir zugeraunt: »Wenn ich mal tot bin, dann sollst du diese Bücher haben.« Und ich habe genickt und dann aber gedacht: Ich hätte lieber das Auto.
Wenn ich bei meiner Oma bin, arbeite ich mich durch Stapel von Illustrierten, die wöchentlich ins Haus kommen, weil sie den Lesezirkel abonniert hat. Vor allem studiere ich gerne die Rückseiten der Regenbogenblätter, weil dort in kleinen Kästchen-Anzeigen seltsame Dinge annonciert werden, die sich per Postkarte auf Rechnung bestellen lassen. Eine Röntgenbrille zum Beispiel, mit der man durch die Kleidung hindurch Menschen nackt sehen kann. Oder eine Mitesser-­Pumpe, mit der man das Unreine aus der Haut saugt. Käthe-Kruse-Puppen als Imitationen, die im Abo kommen und garantiert in nicht allzu langer Zeit sehr wertvoll sein werden. Halbedelsteine, die den Kontakt zu Verstorbenen herstellen. Eine Paste, die überall Haare wachsen lässt, egal wo man sie aufträgt. Meine Oma bestellt häufiger etwas davon. Gerade hat sie ein Spieluhren-Abonnement abgeschlossen. Die Glasvitrine, in die die Miniaturen einsortiert werden sollen, wurde schon geliefert.
Endlich steigt meine Oma die Treppe herab. Sie trägt ein Kleid aus schwerer Baumwolle mit einem Einsatz aus weißer Spitze von Schulter zu Schulter. Sie ist ganz in Weiß. Auch die Schuhe. Das ist Pflichtfarbe, wenn man bei GerdvonGott vorsprechen will. Weiß ist die Farbe der Unschuld und Reinheit. Wer nicht in Weiß kommt, kann nicht geheilt werden. Deshalb musste ich heute auch in meinem weißen Levis-Jeansanzug kommen, der noch ganz neu und hart ist und am Hals scheuert. Herr Rauter trägt lediglich ein weißes Oberhemd, die Hose ist grau. Etwas anderes hat er einfach nicht. »Wird schon gehen«, sagt Oma und verlädt uns in ihr Auto.
Wir fahren zum Neuen Kurzentrum, wo ganz oben mit Blick aufs Meer und auf die Musikmuschel GerdvonGott seine »Gemeinschaftsstunden« abhält. Ich weiß den Weg. Auch innerhalb des Gebäudes. Man muss durch den unheimlich zugigen Korridor gehen und kommt auch an Beate Uhses Sexshop vorbei. Ich kenne mich ganz gut aus in diesem bulligen Hochhaus, diesem Betonbunker, weil der Vater von meiner Klassenkameradin Kathrin Buchheister hier eine Vermietagentur hat und gleichzeitig Hausmeister ist und Kathrin deswegen für alle Durchgänge und Apartments die Schlüssel hat. Heimlich haben wir früher dort in Eigentumswohnungen gespielt, deren Besitzer gerade nicht auf der Insel waren.
In einer solchen Wohnung habe ich die erste Mikrowelle meines Lebens gesehen und konnte mir nicht erklären, was das sein könnte. Wir haben damit gespielt, wie wir mit allem gespielt haben, was wir damals in den Wohnungen vorfanden. Aber Kathrin und ich haben niemals etwas geklaut, so klug waren wir dann schon noch. Aber wir haben dort die eine oder andere Zigarette geraucht und dabei in eine teure Seidenbluse ein Loch gebrannt. So was eben. Was man als Kind so macht.
Ein paar Jahre später, so hält sich hartnäckig das Gerücht, soll in einem dieser Apartments der Kremlflieger Mathias Rust versteckt worden sein. Die Redakteure vom Stern wollten den Zwanzigjährigen exklusiv, ausführlich und in aller Ruhe befragen, nachdem er – als Weltsensation – 1987 mit einem Kleinflugzeug auf dem Roten Platz in Moskau gelandet war, um den Weltfrieden zu retten. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik war er ein paar Tage verschwunden. Es heißt, er wurde hier ins Kurzentrum nach Westerland gebracht. In eine Wohnung, die angeblich damals dem Verleger John Jahr gehört haben soll. Hier hat ihn niemand vermutet und niemand gesucht.
Dass hier direkt am Strand nicht noch mehr von diesen tristen, anonymen Wohnklötzen stehen oder gar ein hundert Meter hoher Wolkenkratzer mit sagenhaften fünfundzwanzig Stockwerken, wie es bereits beschlossene Sache war, das haben nicht die Sylter, das hat allein die Schleswig-Holsteinische Landesregierung verhindert. Westerlands Stadtvertreter hatten sich längst einverstanden erklärt mit weiteren gigantischen Bauprojekten, der Errichtung von »Atlantis«, einer Art New York am schönsten Strand von Deutschland. Doch Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg machte kurzen Prozess und verweigerte seine Zustimmung. Mehr noch, das CDU-geführte Innenministerium entzog der Stadt Westerland sogar ganz und gar »die Befugnis zur Erteilung von Baugenehmigungen« und strafte die Provinzpolitiker ein für alle Mal ab.
Doch für das Neue Kurzentrum kam die Entscheidung zu spät, das wird man nun auch nicht mehr abreißen, es wird auf ewig hässlich das Gesicht Westerlands prägen. In überregionalen Zeitungen wird es nur »das Grauen« genannt (FAZ) oder »die groteske Bausünde« (Hamburger Abendblatt). Selbst fünfzig Jahre nach Fertigstellung erleiden Erstbesucher der Insel immer noch einen Schock, wenn sie das Kurzentrum sehen. Mein Vater sagt, die Schönheit anderer deutscher Städte wurde im Krieg unwiederbringlich von Bomben zerstört, aber in Westerland haben wir das ganz allein hingekriegt – ohne Waffengewalt. Kurz nach dem Atlantis-Desaster ist er dann selbst 1. Stadtrat geworden. Vorsitzender der Sylter Unternehmer war er schon. Besonders schön hat er die Stadt dann aber auch nicht gemacht. Er ist einer der Väter der Fußgängerzone. Na ja.
Der monströse Apartmentsilo am Hauptstrand ist auf jeden Fall der perfekte Ort für die »Gemeinschaftsstunde« mit GerdvonGott. Anonym. Versteckte Eingänge. Anfahrt über die Tiefgarage. Meine Großmutter hat mich für dieses Treffen als Assistentin des Meisters angeheuert. Während GerdvonGott auf einem mit allerlei Fratzen verzierten hölzernen Thron sitzen wird, zusätzlich erhöht durch ein Podest, zu dem eine kleine Treppe hinaufführt, soll ich neben ihm am Boden kauern und huldvoll eine Messingschale halten, in die die Leute vorher ihre Fürbitten geworfen haben. Ungefähr zwanzig Patienten sind für diesen Nachmittag angemeldet. »Alle sind unheilbar krank«, sagt meine Oma, »GerdvonGott ist ihre letzte Hoffnung.«
Das Ganze läuft dann so ab: Meine Großmutter begrüßt die Kranken an der Wohnungstür und bittet sie, ihren Heilwunsch aufzuschreiben und den Zettel in die Messingschale zu werfen. Zu diesem Zweck stehe ich regungslos und lächelnd neben der Tür. Dann weist sie ihnen einen Platz zu. Es stehen Stühle bereit, die in drei Reihen im Halbkreis angeordnet sind. Bevor GerdvonGott erscheint, wird meine Großmutter die Beladenen einweisen. Sie müssen die richtige Sitzhaltung einnehmen, die Beine locker aufstellen, nicht überkreuzen, die Hände entspannt auf den Oberschenkeln platzieren, eher nahe der Leiste, nicht zu weit Richtung Knie. Die Handflächen müssen nach oben zeigen, sonst kann der Heilstrom nicht eindringen. Bevor GerdvonGott erscheint, müssen alle die Augen schließen und ganz fest an ihre Gesundheit denken und dazu brummende Geräusche machen. Die multiplikative Energie wird den Heilstrom dann verstärken.
In der ersten Reihe sitzt Hülya Yilmaz, die mit mir zusammen in die sechste Klasse geht. Sie ist schon ziemlich lange auf der Insel, und ich habe sie niemals ohne ihr Korsett gesehen. Sie ist entlang der Wirbelsäule vom Nacken bis zum Becken und vorne vor dem Brustkorb eingespannt in eine Art Stahlkäfig wie Frida Kahlo. Dieses Korsett hält sie aufrecht. Die Stahlbänder sind kaum verdeckt vom immer gleichen hellbeigen Rollkragenpullover, der so dünn ist, dass man die glänzenden Stangen durchscheinen sieht. Ihr Kinn liegt in einer Plastikschale, die mit dem Korsett vorne fest verschraubt ist, weshalb Hülya beim Sprechen Probleme hat, weil sie den Mund kaum aufmachen kann. Ich kenne sie nicht gut, ich habe nichts mit ihr zu tun. Sie ist komplett humorlos und eine echte Streberin. Ich glaube, sie sitzt nachmittags nur zu Hause und lernt, damit sie am nächsten Tag uns allen etwas vormachen kann.
Hülyas Vater ist ein bekannter Arzt in der Nordseeklinik, hoch angesehen. Über ihn gibt es leider nicht viel zu erzählen, außer dass er jede Woche zum Friseur geht. »Jeden Freitag! Stell dir das mal vor, Peida«, hat Harry Häßler gesagt, der Herrenfriseur, der im Salon Koch auch meinem Vater regelmäßig die Haare schneidet. »Jede Woche Messerschnitt. Und dann auch immer akkurat rasiert. Das ist seine Kultur.«
»Zigeuner?«, fragt mich meine Oma, als Hülya und ihr Vater außer Hörweite sind. »Türken«, sage ich. »Türken sind schwierig«, sagt Oma, »die haben einen ganz anderen Gott, die Mohammedaner.« Was sie meint, ist, das könnte mit der Heilung ein Problem werden. Dann ist da noch ein weiteres Kind, das ich kenne. Es ist der kleine Bruder meiner Freundin Petra und heißt Hauke, neun Jahre alt. Er spricht niemals mehr als ein einziges Wort. Er sagt entweder »voll« oder er sagt »null«. Mich hat schon immer fasziniert, dass man damit eigentlich gut durchkommt. Neulich wollte ich mit Petra zum Strand. »Wir können deinen Bruder nur mitnehmen, wenn er auch wirklich nicht nervt.«
»Null!«, hat Hauke gesagt.
»Du nimmst auf jeden Fall deine Schwimmflügel mit«, stellte Petra klar.
»Voll.«
Wegen seiner Einsilbigkeit hat Haukes Mutter ihn auch schon zu Dr. Fenger geschleppt. »Einsilbigkeit ist kein Krankheitsbild«, meinte der Arzt.
»Kannst du mich gut verstehen, Hauke?«
»Voll.«
»Möchtest du dich nicht gern auch mal richtig unterhalten?«
»Null.«
»Gehst du gerne in die Schule?«
»Null.«
Und als er dann bei seiner Mutter nachfragte, ob Hauke in der Schule überhaupt mitkommt, antwortete sie: »Woher soll ich das wissen? Er redet ja nicht.«
Das war’s dann bei Dr. Fenger.
Vielleicht wird es ja heute was mit GerdvonGott.
Während nun also alle Anwesenden immer lauter brummen und den Heilstrom erwarten, macht sich GerdvonGott bereit für seinen Auftritt und zieht noch mal seinen weißen Kaftan glatt. Er ist ein kleiner, gedrungener Mann, den die Sonne über die Jahre ziemlich verbrannt hat, sodass sein Gesicht und sein Hals aussehen wie eine alte Ledertasche. Seine Nase ist groß und fleischig und hat viele kleine Löcher, als wäre mein Vater mit seinem scharfen Schnittmusterrädchen mehrfach kreuz und quer darübergefahren. Am besten gefällt mir seine Frisur, die ihm als lockige Mähne im Nacken sitzt. Sie macht ihn flippig.
Oma behauptet, er habe dieselben Wunderheilerkräfte wie Bruno Gröning, mit dem GerdvonGott früher angeblich zusammengearbeitet hat und der Mitte der Fünfzigerjahre ein echter Superstar gewesen sein muss. Das war wohl die erste echte Massenhysterie nach dem Krieg. »Wo Ärzte versagten, da war Bruno Gröning«, behauptet meine Oma. »Er war wie Jesus. Er vollbrachte ein Wunder nach dem nächsten.« Und wie Jesus wurde er auch von der Polizei verfolgt. Er musste mehrfach vor Gericht, ihm wurde sogar offiziell »Heilverbot« erteilt. Wegen fahrlässiger Tötung einer Siebzehnjährigen bekam er acht Monate auf Bewährung.
Das hielt die Menschen aber nicht davon ab, Bruno Gröning weiterhin zu bestürmen. Mehr als dreißigtausend Leute standen jeden Tag vor seiner Tür, damit er ihnen durch seine Heilwellen helfen möge. Querschnittsgelähmte konnten wieder gehen, Blinde wieder sehen, mongoloide Kinder waren plötzlich normal, und die Gallensteine meiner Großmutter waren auch von jetzt auf gleich verschwunden. Selbst die Staatsanwälte, die ihn vor Gericht stellten, ließen ihm heimlich Briefe zukommen mit der Bitte um eine Audienz für erkrankte Angehörige.
Bei seinen Massenversammlungen verteilte er Kugeln aus Stanniolpapier, in denen entweder Haare von ihm drin waren, Blutstropfen oder auch Fußnägel. So eine original »Gröningkugel« ist heute ein Vermögen wert. Oma behauptet, wir würden eine solche Kugel heute zu Gesicht bekommen. GerdvonGott besitzt eine, hütet sie aber wie einen Schatz. Seine ganze Heilkraft bezieht er aus diesem Stanniolpapier. Seit Gröning tot ist, hilft die Folie, sein Werk fortzusetzen. Der Meister selbst starb völlig ausgebrannt in Paris im Jahr 1959. Und »ausgebrannt« ist hier wirklich wörtlich zu nehmen. Als die Ärzte ihn operieren wollten, stellten sie fest, dass seine inneren Organe verkohlt waren. Als hätte ein Feuer in ihm gewütet. Bruno Gröning war nicht mehr zu helfen. Er hatte sich im unermüdlichen Einsatz für die Erkrankten im wahrsten Sinne des Wortes aufgeraucht. Aber seine Seele heilt weiter. Jetzt aus der Ferne. Die Heilwellen werden durch seinen Stellvertreter auf Erden verstärkt und in die Kranken hineingesendet. Das alles erzählt mir meine Großmutter, die sich im Laufe der Jahre zur Gröning-Expertin hochgelesen hat, im Flüsterton bei einem Glas Sherry, während in ihrem Wohnzimmer viele Kerzen brennen und draußen der Wind ums Haus pfeift und an den Dachpfannen rüttelt. Viele Jahre später entfaltet dieser Gröning-Mythos immer noch seine Wirkung und wird in zahlreichen Texten und sogar Filmen aufgearbeitet, die sich als Dokumentationen ausgeben und von seinen Anhängern ins Netz gestellt werden. Nicht totzukriegen, dieser Gröning.
Deshalb warten wir in dieser Wohnung hoch oben über dem Meer nun ganz gespannt auf den Auftritt seines lebendigen Stellvertreters. Kurz bevor GerdvonGott endlich durch die Tür tritt, entsteht im Raum eine seltsame atmosphärische Dichte. Vielleicht liegt das auch an Oma, die als Letzte Platz genommen hat. Ganz rechts außen. Als Meditationsprofi kneift sie die Augen fest zusammen und brummt los, was das Zeug hält. Sofort sammeln sich auch alle anderen Anwesenden in absoluter Konzentration, und jetzt vibriert die Luft. Auf einmal ist es kein Spaß mehr. Ich möchte hier raus.
Aber da betritt GerdvonGott den Raum. Das Brummen wird lauter. Er schwebt auf mich zu in seinem fließenden Gewand. Er jagt mir Angst ein. Er fliegt geradezu die Stufen hinauf zu seinem Sessel, wo er sich mit elegantem Schwung niederlässt und mit dem Heilungsprozess beginnt.
»Den Körper hat man in die Erde gelegt. Aber er ist nicht tot«, sagt GerdvonGott mit leiser Stimme. Das Brummen verstummt. Alle schauen zu ihm auf.
»Bruno Gröning war ein Übermensch. Er war auf der Bahn Christi. So wie man Jesus gekreuzigt hat, so hat man auch ihn gekreuzigt.« Er macht eine Pause und schaut in die Runde. Von draußen hört man Möwenschreie und das rhythmische Aufschlagen der Brecher am Hauptstrand.
»Schenken Sie mir Ihr Leiden. Ich nehme es an. Machen Sie Ihren Körper frei! Ich sende die Heilwelle. Nehmen Sie sie auf. Und wenn sie so weit durch den Körper gefahren ist, lassen Sie mehrere Tage verstreichen. Horchen Sie in Ihren Körper hinein.«
Jetzt hebt er die Hände und wird eindringlich: »Lassen Sie die Körpersäfte fließen. Lassen Sie mich eintreten. Blockieren Sie nicht die Energie.« Dann schickt er einen feurigen Blick zu mir auf den Fußboden und ruft: »So rein wie diese Kinderseele, so unverbraucht wie dieser Leib, so unverdorben wird die Erneuerung alles und jeden erfassen. Nehmen Sie die jugendliche Kraft dieses gesunden Kindes in sich auf.« Mir stockt der Atem. Ich kann deutlich fühlen, wie die Leute mich geradezu aussaugen. Doch es kommt noch schlimmer.
GerdvonGott nimmt ein großes Messer aus einer Falte seines Gewands und schlitzt sich mit scharfer Klinge plötzlich den Unterarm auf. Ich bin starr vor Schreck. Die Leute schreien und schlagen sich vor Entsetzen die Hände vors Gesicht. »Kein Blut«, schreit GerdvonGott und reckt seinen Arm in die Höhe. »Ich öffne euren Körper. Ich werde euch heilen. Und es fließt kein Blut!«
Tatsächlich sieht man ganz deutlich den langen Schnitt an der Innenseite seines Unterarms. Und da ist kein Tropfen Blut. Es ist wirklich nicht zu fassen.
GerdvonGott erhebt sich, sein Kopf berührt fast die Zimmerdecke, alle sind unter Schock.
Und jetzt erzählt er die Geschichte, wie Gott früher versucht hat, ausgerechnet hier auf Sylt das »wahrhaft Gött­liche« vor den Menschen zu verstecken, weil er ihnen nicht zugetraut hat, damit sorgsam und verantwortungsvoll umzugehen. Zuerst hat Gott geplant, es ganz tief unten auf dem Meeresboden zu verstecken. Aber da ist Neptun, der Herr der Meere, aus den Fluten aufgestiegen und hat zu Gott gesagt: »Hier ist es nicht sicher genug.« Danach hat Gott versucht, das wahrhaft Göttliche tief in den Dünen zu vergraben. Da war dann plötzlich der Herr der Winde, Odin, zur Stelle. Er warnte, dass der Sturm die Dünen abtragen und das wahrhaft Göttliche freilegen könnte.
Daraufhin hatte Gott eine noch bessere Idee. Er versteckte das Göttliche in den Menschen selbst. Denn er wusste, dort würden sie es nicht suchen. Und da liegt es nun. Gut verborgen in uns selbst. Aber GerdvonGott weiß, wo es zu finden ist, und kann uns helfen, es freizulegen, und jeder Mensch ist dadurch in der Lage, sich selbst zu heilen.
Dann macht er mir ein Zeichen, dass ich ihm die Messingschale reichen soll. Was ich dann auch etwas zögerlich mache. Zettel für Zettel arbeitet er ab. Er sagt, er wird dafür sorgen, dass mit ein paar »Weckrufen« das wahrhaft Göttliche in jedem Kranken sein Werk verrichten wird. Dann ruft er auf: »Schlaganfall: Kristalle auflegen. Blasenschwäche: jeden Tag im Meer baden. Ständig Kopfschmerzen: musizieren. Sohn hat sich losgesagt: Kristalle auf ein Bild legen. Phantomschmerzen wegen fehlenden Beins: übrig gebliebenen Fuß in Eiswasser stellen. Kehlkopfkrebs: frisst sich selbst auf. Kind spricht nicht: Meerwasser trinken. Tumor in der Niere: unblutige Fernoperation erfolgt in der Nacht. Offene Beine: bei offenem Fenster schlafen. Asthma: den Wind umarmen. Verkrüppelte Wirbelsäule: unblutige Fernoperation erfolgt in der Nacht.«
Was die Fernoperation betrifft, so erklärt GerdvonGott mit donnernder Stimme, steht Bruno Gröning im Jenseits mit weltweit anerkannten Kapazitäten wie Professor Sauerbruch in Kontakt, die für ihn die notwendigen Operationen durchführen, wenn der Kranke schläft und nicht bei Bewusstsein ist. Man müsse anschließend allerdings drei Tage das Bett hüten.
Zum Schluss der Gemeinschaftsstunde lässt GerdvonGott dann die Stanniolkugel kreisen, die Bruno Grönings getrocknetes Blut enthält. Sie ist in etwa so groß ist wie ein Ei. Man soll sie dort platzieren, wo man die Ursache des Leidens vermutet. Sie wandert durch die Reihen, und die Leute sind sehr ehrfürchtig, wenn sie sie in die Hand nehmen. Meine Großmutter ist etwas unschlüssig, welches Leiden sie ansprechen soll, und presst die Kugel schließlich an ihr Herz. Was Herr Rauter damit macht, kann ich nicht erkennen, er sitzt zu weit hinten. Ich frage mich, ob er derjenige war, der das mit den Phantomschmerzen aufgeschrieben hat. Denn eigentlich hatten wir ihn doch mitgenommen, damit er von seiner Einsamkeit geheilt wird.
Zum Ausklang hält GerdvonGott noch einen kurzen Abschlussvortrag über die Heilkraft der Nordsee. »Lasst die Säfte fließen«, fordert er seine Anhänger auf, womit er meint, dass man lediglich mit einem grobmaschigen Wollpullover bekleidet, also untenrum frei, möglichst viele Spaziergänge am Flutsaum machen soll. »Kein Gummiband darf die Energiebahnen des Körpers blockieren, kein Büstenhalter den Fluss unterbrechen. Atmet das Salz des Meeres, fühlt Gott in der Naturgewalt. Und schweiget still über unsere Gemeinschaftsstunde. Damit die Heilung wirken kann.«
Lautlos löst sich die Runde auf, und ich frage mich, ob Haukes Mutter tatsächlich ihrem Sohn ab heute Meerwasser zu trinken gibt. Da muss ich Petra fragen.
Meine Oma schickt mich mit einem knappen »Tschüss« nach Hause und verschwindet mit Herrn Rauter im Aufzug. Damit GerdvonGott nicht vielleicht doch noch auf die Idee kommt, mich anzusprechen, gehe ich um die Ecke und nehme den langen Weg über die Treppe. Es ist schon ganz schön spät, als ich unten ankomme. Sofort werde ich vom heftigen Wind im Erdgeschoss des Kurzentrums fast umgerissen und dann durch die Ladenpassage wie durch einen Windkanal gepeitscht, dass mir die Hosenbeine flattern. Wenn draußen gerade mal drei Windstärken blasen, dann wütet in der Ladenpassage ein veritabler Sturm. An den Kamineffekt hatten die Baulöwen aus Stuttgart ganz offenbar nicht gedacht, als sie diese schnurgerade innen liegende Ladenzeile planten, wo man niemals wirklich schlendern kann. Ich fliege geradezu an Beate Uhses Sexshop vorbei, wo die Verkäuferin in diesem Moment eine riesengroße Felldecke auf dem Boden des Geschäfts ausbreitet und sie mit einem Plakataufsteller dekoriert: »Es müssen sich die Frauen legen/schon um ihrer schönen Leiber wegen/Doch vor dem Griff an ihre Bluse/greif erst mal zu Beate Uhse.«
Mit einem kräftigen Schubser befördert mich eine heftige Windbö schließlich hinaus auf die Straße, und ich laufe durch die Innenstadt zu meinen Eltern ins Geschäft. Was dann in der Nacht passiert, gehört zu den gruseligsten Dingen, an die ich mich überhaupt erinnern kann. Mitten in der Nacht läuft plötzlich mit fettem Strahl Wasser aus der Dusche in unserem Kinderbad. Es läuft und läuft und lässt sich nicht abstellen. Der Hahn ist zugedreht. Und trotzdem sprudelt das Wasser. Ich denke sofort an Bruno Gröning und hoffe, dass er mich nicht gerade fernoperiert. Meine Eltern schlafen. Das Wasser läuft.
Die ganze Nacht bekomme ich kein Auge mehr zu, horche in mich hinein und versuche meine inneren Organe zu lokalisieren. Vor allem meine Galle. Ich bin mir sicher, dass sich in dieser Nacht tote Chirurgen an mir zu schaffen machen, und bin wie gerädert, als gegen Morgen endlich das Wasserrauschen stoppt. Vielleicht muss ich ja auch sterben, weil ich jetzt keine drei Tage Bettruhe durchführen kann. Das würden mir meine Eltern niemals erlauben.
Ein paar Kilometer weiter steht meine Großmutter in einem zerstörten Badezimmer und blickt in ein großes dreckiges Abflussrohr. Herr Rauter war mitten in der Nacht aus seinem Bett aufgestanden, ins Bad gepoltert, hatte dort rumgeschrien und dadurch meine Großmutter geweckt, die allerdings benommen von den vielen Schlaftabletten, die sie ständig einnahm, nicht standsicher das Bett verlassen konnte und in Wirklichkeit auch dachte, sie würde einfach nur schlecht träumen, und deswegen liegen blieb. Herr Rauter tobte und schrie unterdessen weiter und riss dann offenbar mit unheimlichem Getöse die ganze Toilette aus der Verankerung. Es soll dort etwas Bedrohliches tief dringesessen haben, das ihn ständig provoziert hat. »Er sagt, dass da drin jemand gesungen hat ›Ich steh im Regen und warte auf dich‹. Das wollte er rausholen«, erzählt meine Oma am nächsten Tag meinen Eltern. Der arme Rauter.
Meinem Vater reißt endgültig der Geduldsfaden. Rauter muss weg. Es wird dann aber noch vier Monate dauern, bis es meinem Vater endlich gelingt, zusammen mit Dr. Fenger, Herrn Rauter bei meiner Oma aus dem Haus zu bekommen. Auf Sylt gibt es ja keine Irrenanstalt. Und dass er keine Angehörigen hat, muss man ja auch erst mal amtlich feststellen lassen. Ich weiß nicht, wo er hingekommen ist. Oma ist empört und erzählt auf der Insel herum, mein Vater habe den armen Herrn Rauter einfach »wegorganisiert«. Und das habe in Deutschland ja Tradition. Gleichzeitig hat sie aber über Frau Weber, die in der Maybachstraße 3 ganz allein den größten und besten Heizungs- und Sanitärbetrieb führt, eine neue Toilette bestellt, designt von Luigi Colani, deren Rechnung – auch für den Einbau – sie an meinen Vater hat schicken lassen. Meine Mitschülerin Hülya hat ihr Korsett übrigens nicht abgelegt. Und Hauke spricht nach dem Treffen mit GerdvonGott jetzt überhaupt nicht mehr. Ich habe ihn allerdings öfter in der Trinkkurhalle auf der Westerländer Promenade gesehen. Dort gibt es Meerwasser mit Orangengeschmack.