Neujahr
Was mache ich bloß hier?
Damit meine ich nicht hier
im britischen Januar, diesem niemals enden wollenden grauen und dunklen Monat, der sich zieht wie Kaugummi. Diese Aneinanderreihung der deprimierendsten Tage des Jahres, die aus bereits aufgegebenen Neujahrsvorsätzen und einem Instagram-Feed bestehen, der vor frohen »Neues Jahr! Tolle neue Projekte!«-Botschaften irgendwelcher Berühmtheiten geradezu überquillt. Dadurch werde ich ganz sicher nicht #inspiriert, und sie animieren mich auch nicht dazu, mir die angepriesenen Fitnessvideos oder Angeberbücher (Entschuldigung, ich meine natürlich gesegneten Bücher) zu kaufen, ganz im Gegenteil, sie bewirken nur, dass ich mich #ueberfordert mit einer Familienpackung Käseflips aufs Sofa fallen lasse.
Nein, ich meine hier
im Sinne von im Hier und Jetzt, kurz vor meinem Geburtstag, an dem ich älter als vierzig werde und alles ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Jetzt mal ehrlich, wie kann das sein? Als hätte ich eine Ausfahrt verpasst. Als gäbe es irgendwo ein über vierzig
-Ziel, auf das meine Freunde und ich zusteuerten, die Jugend in der einen Hand, die Träume in der anderen, voller Erwartungen und Möglichkeiten. Ein bisschen, wie wenn man im Urlaub aus dem Flugzeug steigt und gemeinsam mit allen anderen über die Rollbänder rauscht, wusch, den Gepäckausgabeschildern folgend, gespannt darauf, was einen hinter der automatischen Tür erwartet
.
Aber es sind eben nicht die Bahamas mit ihren tropischen Palmen, das Ziel heißt über vierzig
, und dazu gehören ein liebevoller Ehemann, wunderbare Kinder und ein fantastisches Zuhause. Wusch.
Eine erfolgreiche Karriere, gläserne Schiebetüren und Kleidung von Net-a-Porter. Wusch.
Glück und Zufriedenheit mit einem erfolgreichen Leben, in dem alles seine Ordnung hat und genauso ist, wie man es sich immer ausgemalt hatte, inklusive eines Instagram-Accounts, in dem es vor #ichbinsofroh- und #ichliebemeinleben-Botschaften nur so wimmelt.
Das Ziel ist nicht – ich wiederhole: nicht
– #woistesfalschgelaufen und #waszumteufelistmitmeinemlebenlos?
Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Bett und sehe mich im Zimmer um, mein Blick bleibt an den Umzugskartons in der Ecke und den beiden großen, noch ungeöffneten Koffern hängen. Ich habe immer noch nicht alles ausgepackt. Ich starre sie an, versuche mich aufzuraffen und sinke dann zurück in die Kissen. Das kann warten.
Stattdessen fällt mein Blick auf das neue Notizbuch auf meinem Nachttisch. Gerade erst gekauft. Dem Artikel zufolge, den ich gelesen habe, liegt der Schlüssel zum Glück im Verfassen einer täglichen Dankbarkeitsliste.
Wenn Sie alles aufschreiben, wofür Sie dankbar sind, werden Sie sich insgesamt besser fühlen, negative Denkmuster durchbrechen und Ihr Leben verändern
.
Ich nehme das Notizbuch und einen Stift in die Hand und schlage die erste Seite auf. Meine Augen starren auf das weiße Blatt, mein Kopf ist leer.
Wenn Sie ein wenig Inspiration benötigen, hier ein paar Tipps für den Anfang:
Ich atme.
Das kann ja wohl nicht ernst gemeint sein, oder? Atmen? Dankbarkeit schön und gut, aber ohne zu atmen, wäre ich schlicht und einfach tot.
Das inspiriert mich wirklich überhaupt nicht
.
Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie nicht gleich wissen, was Sie aufschreiben sollen. Beginnen Sie einfach mit einer Sache, und arbeiten Sie sich langsam zu den fünf Punkten pro Tag vor.
In Ordnung. Ich schreibe einfach das Erstbeste auf, was mir einfällt.
1. Meine Flugmeilen
Okay, das gehört vielleicht nicht ganz
zu den gesegneten und spirituellen Dingen, die der Verfasser des Artikels im Sinn hatte, aber Sie wissen ja nicht, wie glücklich ich über die gesammelten Meilen war, als ich letzte Woche zurück nach London geflogen bin.
Zehn Jahre lang habe ich in Amerika gelebt, fünf davon mit meinem Verlobten in Kalifornien. Kalifornien ist einfach großartig. Sonne, so viel das Herz begehrt. Flipflops im Januar. Unser kleines Café mit Buchladen, in das wir unsere gesamten Ersparnisse investiert hatten, mit köstlichem Frühstück und Wänden voller Bücher. Ich war glücklich, verliebt und freute mich auf die Hochzeit. Die Zukunft streckte sich vor uns aus wie eine bonbonfarbene Wimpelkette. Alles würde so werden, wie ich es mir immer erhofft hatte.
Aber dann scheiterte krachend unser Unternehmen und mit ihm auch unsere Beziehung: alles zurück auf null. Aus der Traum, meinen Prinzen zu heiraten und mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen, zusammen mit unseren süßen Kindern und einem Hund aus dem Tierheim – und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Stattdessen musste ich das, was von meinem Leben noch übrig war, zusammenkratzen, meine Flugmeilen gegen ein Upgrade eintauschen und tränenüberströmt den Atlantik überqueren. Wenn ich schon pleite und mit gebrochenem Herzen zurückfliegen musste, dann doch zumindest mit Schlafkomfort, Käseplatte und kostenlosen Getränken, vielen Dank!
Mein vom Gin berauschtes und mit Käse und Kräckern
vollgestopftes Ich plante, nach London zurückzukehren, eine Wohnung zu mieten, diese mit Duftkerzen auszustatten und mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Mein Einwanderungsvisum lief eh bald ab, die Zeit war reif für einen Neuanfang, einen, der mich nicht ständig daran erinnerte, was ich verloren hatte. Außerdem hatte Dad mir großzügigerweise ein Darlehen angeboten, damit ich schnell wieder auf eigenen Füßen stehen konnte. Mein American Dream hatte sich ausgeträumt: Es war Zeit, nach Hause zu fahren.
Aber es hatte sich viel verändert, seit ich das Land verlassen hatte, und ich stellte schnell fest, dass die Mieten sich verdoppelt, nein, vervierfacht hatten. Auch die Single-Freundinnen mit ihren Gästezimmern und billigen Weinflaschen gab es nicht mehr – wie oft hatten wir früher zusammen getrunken und uns gegenseitig lautstark darin bestärkt, dass X doch eh ein Vollidiot sei, ohne den man viel besser dran wäre, also
keine Panik
! Wir hatten alle Zeit der Welt! Dabei spulten wir immer wieder dieselbe Liste an Berühmtheiten ab, die viel älter waren als wir und es dennoch geschafft hatten, den Mann ihrer Träume zu ergattern, ein Kind zu gebären und im
ok!
-Magazin mit einer Geschichte über das Wunder der Geburt abgedruckt zu werden,
bevor es zu spät ist
.
[1]
Mittlerweile sind alle meine Freundinnen verheiratet, und in die Gästezimmer sind Babys, Etagenbetten und Sticker mit Kinderliedern eingezogen, statt Wein trinken sie Kräutertee, und um 21:30 Uhr geht es ins Bett. Ich hatte also die Wahl: Couchsurfing mit einer Tasse Kamillentee oder … zurück zu meinen Eltern.
Bitte nicht falsch verstehen, ich liebe meine Eltern. Aber das alles war sicher nicht Teil des PLANS
. Während der letzten zwei
Jahrzehnte kam es zu keinem Zeitpunkt in meinen Zukunftsplänen vor, als Single über vierzig in mein altes Kinderzimmer zurückzuziehen – auch wenn meine Mutter mein Einzelbett gegen ein Doppelbett eingetauscht und sogar mit zueinander passenden Laura-Ashley-Lampen dekoriert hatte.
Mein altes Kinderzimmer war für Heimatbesuche mit dem amerikanischen VerlObten
gedacht, der eigentlich in Kürze zum gut aussehenden Ehemann
befördert werden sollte; für nostalgiegeprägte Weihnachtsfeste auf dem Land mit unserer wachsenden Schar an rotwangigen Sprösslingen. Für Wochenenden, an denen die Eltern
auf ihre geliebten Enkel aufpassen, während wir uns in eins dieser angesagten, überteuerten Boutique-Hotels verabschieden, mit altmodischen Glühbirnen über der Bar, einem Bio-Menü mit irgendwelchem Fleisch aus Weidehaltung und Massagen, die ruhig etwas kräftiger sein dürfen.
2. Zimmergesucht.com
Davon erzählte mir meine beste Freundin Fiona, die wiederum durch ihre Nanny davon erfahren hatte. »Das solltest du wirklich machen, Nell! Das klingt doch wirklich nach jeder Menge Spaß!«, rief sie mir fröhlich von der anderen Seite ihrer Arbeitsplatte aus Carrara-Marmor zu, die ihre frisch renovierte offene Küche krönte. Hier saß ich also zusammengesunken, deprimiert und vom Jetlag gebeutelt und nippte an einem dünnen, fürchterlich schmeckenden Kräutertee, da Fiona mir netterweise angeboten hatte, die ersten Tage nach meiner Ankunft in London bei ihr unterzukommen.
Fiona findet immer, dass mein Leben sich nach jeder Menge Spaß anhört. Vielleicht kommt es einem wirklich so vor, wenn man es mit der Sicherheit einer glücklichen Familie im Rücken betrachtet. So wie auch Bungee-Jumping, das Leben in einem sechzig Quadratmeter kleinen Tiny House oder die Haare lila färben lustig klingt, wenn man es nicht selbst machen muss
.
Also, jetzt bitte nicht falsch verstehen. In manchen Phasen meines Lebens hatte ich tatsächlich Riesenspaß. Nur eben nicht in der aktuellen.
»So kann man es auch sehen«, erwiderte ich spöttisch und warf Izzy, meinem fünfjährigen Patenkind, das sich gerade über sein Porridge hermachte, ein Lächeln zu. Mir kamen da ganz andere Wörter als Spaß in den Sinn, aber Tante Nell sollte wohl besser nicht das böse S-Wort sagen.
»Dein Patenkind findet auch, dass es sich nach Spaß anhört, nicht wahr, mein Schatz?«, rief Fiona aufgeregt, griff nach einer Schüssel und gab ein paar frische Blaubeeren, Chia-Samen und einen Klecks Manuka-Honig hinein.
Ich mag Fiona sehr – wir sind seit dem Studium miteinander befreundet –, aber sie lebt in einem vollkommen anderen Universum als ich. Glücklich verheiratet mit David, einem erfolgreichen Rechtsanwalt, hat sie sich mittlerweile in einem komfortablen Mittelschichtleben in Südwestlondon eingerichtet. Dazu gehören neben zwei wohlerzogenen Kindern, die auf eine Privatschule gehen, auch ein geschmackvoll eingerichtetes Haus und diese perfekt geschwungene, blonde Haarpracht, die nur durch das professionelle Föhnen und die Farbe eines guten Haarstylisten erreicht werden kann.
Bevor sie Kinder hatte, reiste sie als Museumskuratorin um die ganze Welt, das hat sie jedoch alles bei der Geburt ihres Ältesten, Lucas, aufgegeben. Mittlerweile verbringt sie ihre Tage mit unzähligen Schulveranstaltungen, dem ständigen Neugestalten des Hauses, Urlaubsplanungen für die ganze Familie in hübschen Fünfsternehotels und Pilates.
Währenddessen zurück auf Planet was zum Teufel ist mit meinem Leben los
:
»Du triffst dabei bestimmt total spannende Leute.«
Fiona meinte es wirklich nett und wollte mich vermutlich einfach nur bestärken, sodass ich es nicht übers Herz brachte, ihr zu offenbaren, dass ich schon bei dem Gedanken daran,
im Schlafanzug spannende Leute zu treffen, Ausschlag bekam. Ich wollte mir keinen Kühlschrank mit irgendwelchen Fremden teilen. Geschweige denn ein Badezimmer. Das war vielleicht in unserer Jugend noch lustig gewesen, jetzt aber ganz sicher nicht mehr. Jetzt war es deprimierend, zermürbend und geradezu beängstigend. Ich könnte schließlich von irgendeinem seltsamen Mitbewohner im Schlaf ermordet, dann in Stücke gehackt und auf die Geranien gekippt werden.
zerstückelt in der Horror-WG: das grausame Ende einer Frau über vierzig
.
Sie hatte noch so viel vor im Leben, erklären die schockierten Eltern, die sich zumindest ein Enkelkind erhofft hatten.
Ich versuchte meine Befürchtungen in Worte zu fassen, aber Fiona unterbrach mich unwirsch. Ihrer Nanny hätte es schließlich sehr gut gefallen, und sie habe dabei auch eine ganze Menge neuer Freunde kennengelernt. Dass ihre Nanny um die zwanzig und aus Brasilien war, erwähnte ich nicht, natürlich war es für sie toll. In diesem Alter war einfach alles toll. Besonders, wenn man so aussah wie Fionas Nanny.
»Jetzt komm schon, ich helfe dir beim Suchen«, verkündete Fiona, zog ihr iPad hervor und schloss die Angebotsseite der Warenhauskette John Lewis. Wenige Sekunden später klickte sie sich bereits begeistert durch die verschiedenen Fotos wie beim Online-Shoppen. Was es ja irgendwie auch war. Nur dass es nicht um eine hübsche Nachttischlampe oder einen Kaschmirschal ging, sondern um ein Zuhause für ihre arme, nutzlose Freundin.
»Oh, schau mal! Ich habe hier was! Das sieht doch perfekt aus!«
3. Artus
Das Zimmer lag in einer Maisonette aus der Zeit Edwards des VII
. in Richmond, einem grünen Stadtteil Londons, der für sein beschauliches Leben und seine Familienfreundlichkeit bekannt
ist. Ich hatte mir, ehrlich gesagt, ein etwas zentraleres und weniger nach »verheiratet mit Kindern« aussehendes Ambiente erhofft, aber dieses Zimmer war frei, und ich konnte es mir leisten. Hinzu kam, dass es bei der Besichtigung noch größer wirkte als auf den Fotos und sogar einen kleinen Balkon hatte. Es gab allerdings einen Haken.
»Und hier ist das gemeinsame Badezimmer.«
Nachdem mir Edward, der Wohnungsbesitzer und mein potenzieller Vermieter, das Zimmer gezeigt hatte, blieb er vor der Badezimmertür stehen.
»Gemeinsames?«
»Keine Sorge, ich klappe die Klobrille runter – das ist eine der Hausregeln«, witzelte er, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein.
Zuerst dachte ich, das sei nur ein Spaß. Dann aber entdeckte ich seine Zahnbürste in einem Glas am Waschbecken, und mir wurde schwer ums Herz.
»Okay, gut.« Ich versuchte, nicht an mein eigenes Bad in Kalifornien zu denken. Das hier sollte ja schließlich jede Menge Spaß bringen. Fast so wie in Friends
, nur dass wir die vierzig schon überschritten hatten und ich kein bisschen wie Jennifer Aniston aussah. Ich zwang mich zu einem breiten Grinsen. Das würde ich schon hinbekommen.
»Und? Hast du noch irgendwelche Fragen?«
Edward wirkte älter als ich, er hatte dunkle, gewellte Haare, die an den Schläfen bereits grau wurden, und trug eine eckige Brille, aber ich hatte den leisen Verdacht, dass er ungefähr in meinem Alter sein musste. Das passiert mir in letzter Zeit häufiger. Wirklich total abgefahren. Ich lese einen Artikel über Menschen mittleren Alters, als ginge es da um meine Eltern oder so, dann stelle ich plötzlich fest – oje, die sind ja genauso alt wie ich! Wie kann das sein? So sehe ich doch wohl wirklich nicht aus. Zumindest glaube ich das.
Oder vielleicht doch
?
»Äh … gibt es sonst noch irgendwelche Regeln?« Ich bemühte mich, lustig zu klingen, und folgte ihm zurück in die Küche.
»Ja, ich habe sie dir ausgedruckt, damit du einen Blick darauf werfen kannst …« Er griff in eine Schublade, zog einen Ordner hervor und überreichte ihn mir.
»Oh.« Darin waren ungefähr zwanzig Seiten in Plastikhüllen. »Wow, das sind aber eine Menge Regeln.«
»Ich finde es sinnvoll, alle Erwartungen klar zu formulieren. So entstehen nicht so leicht Missverständnisse.«
Ich ließ meinen Blick über die Seiten schweifen. Es war das Übliche zu lauter Musik, Ordnung, Respekt und abgeschlossenen Türen.
»Es gibt auch einen Teil zum Thema Umweltbewusstsein und Energiesparen.«
»Ja, klar, selbstverständlich.« Da waren wir sicher auf einer Linie. Ich hatte die letzten fünf Jahre in Kalifornien gelebt, einen Toyota Prius gefahren, Bio-Lebensmittel gekauft (wenn ich sie mir leisten konnte) und besaß eine nicht zu verachtende Kollektion an wiederverwendbaren Einkaufstaschen aus Bambus. »Umweltschutz ist mir sehr wichtig«, versicherte ich ihm.
»Dann mach doch bitte das Licht aus, wenn du ein Zimmer verlässt, nimm eine Dusche, anstatt zu baden …«
»Kein Baden mehr?« Meine Brust zog sich zusammen.
»Eine Fünf-Minuten-Dusche benötigt nur ein Drittel des Wassers von einem Vollbad, es ist also deutlich umweltverträglicher.«
»Ja, natürlich.« Ich nickte, er hatte ja recht, aber wir lebten schließlich nicht in Kalifornien, wo Dürre herrschte, sondern in England, wo es immerzu regnete. Letztes Jahr stand das Haus meiner Eltern sogar zweimal unter Wasser.
»Ich wäre dir auch dankbar, wenn du das Thermostat für die Zentralheizung nicht verstellen würdest.«
Automatisch zog ich meinen Mantel ein wenig enger um mich. Ich fröstelte, sogar hier drinnen. Ich berührte einen Heizkörper, er war eiskalt
.
»Noch nicht einmal im Januar?«
Jetzt reichte es aber, wer, bitte schön, heizt denn nicht im Januar?
»Es steht auf 12,5 Grad, das ist die effizienteste Einstellung.«
Ich war an dem Punkt, dass ich nur noch Scheiß drauf
dachte. Scheiß drauf
war seit der Sache mit dem amerikanischen Verlobten
zu meinem Lebensmotto geworden. Das kostet nämlich noch weniger Kraft, als zu fluchen.
»Ja, also dann vielen Dank. Ich werde mir noch ein paar andere Zimmer ansehen …«
Genug ist genug. Okay, mein Leben war ein einziges Durcheinander. Nichts lief wie geplant. Die Zeit wurde knapp, und es sollte für mich eben nicht sein. Ich befand mich immer noch außen vor, wartete noch auf irgendetwas wie »sie lebte glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage«, wenn es das denn überhaupt gibt. Ich war weder Ehefrau noch Mutter. Jedoch auch keine erfolgreiche Karrierefrau
, was, wenn man einer Zeitung Glauben schenken darf, deren Namen ich mich weigere zu nennen, der Grund für alle Frauen ab einem gewissen Alter
ist, in dieser Position zu sein. Ich war eine arbeitslose Verlagslektorin, die ihre gesamten Ersparnisse in ein Unternehmen gesteckt hatte, das genauso gescheitert war wie ihre Beziehung. (Wo wir gerade dabei sind, weiß eigentlich irgendwer, warum wir nie von Karrieremännern sprechen?)
Ich entsaftete nicht, backte oder kochte auch keine gesunden Mahlzeiten in meiner wundervollen Küche, vermutlich weil ich gerade überhaupt keine Küche, geschweige denn ein eigenes Zuhause hatte und wohl auch nicht so der Typ dafür bin. Ich hatte keine Ahnung, was der Brexit überhaupt bedeutete, und, ehrlich gesagt, war es mir auch ziemlich egal. Achtsamkeit war nicht gerade meine Sache. Und auch Yoga nicht. Verdammt, ich kam ja nicht einmal bis zu meinen Zehen hinunter. Und ich war auch nicht auf Social Media aktiv und hatte Tausende Fotos von meinem perfekten Leben zu bieten, die von allen gelikt wurden
.
»Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.« Ich machte einen Schritt in Richtung Tür.
»Da wäre noch eine Sache …«
Ich wartete gespannt.
»An den Wochenenden bin ich nicht hier.«
Stille. »Wie bitte?«
Das war der Augenblick, in dem Edward mir von seiner Ehefrau und den Zwillingen erzählte. Verheiratet? Er musste bemerkt haben, wie mein Blick zu seinem nackten Ringfinger wanderte, da er irgendetwas davon murmelte, er habe ihn neben dem Spülbecken zu Hause liegen lassen. »Zu Hause« hieß auf dem Land, dort waren sie »wegen der Schule« hingezogen, aber unter der Woche blieb er in London, um Pendelkosten zu sparen. »Ich fahre immer freitagmorgens und komme nicht vor Montagabend zurück, in der Zeit hast du die Wohnung für dich.«
Moment, schnell rechnete ich nach. Hieß das etwa, dass ich nur an drei Tagen pro Woche die Wohnung mit ihm teilen musste? Und sie vier Tage lang ganz für mich allein hätte?
»Bis auf Artus.«
»Artus?«
Als es seinen Namen hörte, kam ein beeindruckendes, haariges Etwas in die Küche geschossen und stieß mich mit seinem riesigen, wedelnden Schwanz fast um.
»Artus, sitz. Sitz!
«
Artus dachte jedoch überhaupt nicht daran und sprang weiterhin glücklich sabbernd an mir hoch, während sein Herrchen versuchte, ihn irgendwie in eine sitzende Position niederzuringen.
»Meine Frau Sophie ist Allergikerin, deshalb bleibt er bei mir«, keuchte Edward. »An den Wochenenden würde ich ihn dann bei dir lassen … deshalb habe ich auch die Miete dementsprechend angepasst.«
Ich sah Edward an. Seine Brille saß schief, und sein Pullover
war mit einer feinen Schicht weißer Haare bedeckt, die sich auch im gesamten Raum verteilten und die Küche in eine Art riesige Schneekugel aus Hundehaaren verwandelten, während sein Ärmel in Artus’ Maul verschwand.
»Okay, gut. Wann kann ich einziehen?«
4. Ich bin nicht an Unterkühlung gestorben
Sich mit den kleinen Dingen zufriedengeben, heißt es, aber mein Vermieter machte Skiurlaub. Am Wochenende kam er aus Kent, um mir die Schlüssel und Artus zu übergeben, dann musste er schleunigst zum Flughafen nach Heathrow, um mit seiner Familie Silvester in Verbier zu feiern. Sobald er weg war, stellte ich das Thermostat auf vierundzwanzig Grad hoch. Jetzt ist es kuschelig warm, und ich liege nur in Unterwäsche auf meinem Bett. So kann ich mir einbilden, ich wäre wieder in Kalifornien.
Bei dem Stichwort bekomme ich feuchte Augen. Nein, ich möchte nicht daran denken. Ich habe schon ein paar Tage nicht mehr geweint, und dabei soll es auch bleiben.
Ich schniefe und sehe Artus an, der auf dem Teppich am Fenster schläft, dann wende ich mich wieder meinem Notizbuch zu. Es fehlt noch ein Eintrag auf meiner Dankbarkeitsliste, um meine fünf des Tages vollzubekommen, aber ich bin zu müde. Der Jetlag steckt mir immer noch in den Knochen. Mir will einfach nichts einfallen. Ich lege das Notizbuch zurück auf den Nachttisch. Es heißt schließlich nicht umsonst tägliche Übung. Morgen bin ich sicher viel besser drauf und fühle mich inspirierter.
Ja, dieses Jahr werde ich mein Leben vollkommen neu erfinden. Neues Jahr, neues Glück und so. Und dann sieht meine Dankbarkeitsliste nächstes Jahr ungefähr so aus:
Wofür ich dankbar bin:
- Meinen liebevollen Ehemann, der mir jeden Tag mit frischen Blumen und fantastischem Sex zeigt, wie sehr er mich liebt.
- Die Kuscheleinheiten mit meinem eigenen kleinen Wunder, das seinen stolzen Großeltern gezeigt hat, dass Mummy doch keine Versagerin über vierzig ist, der die Zeit davongelaufen ist.
- Eine erfolgreiche und gelungene Karriere, die sowohl Zufriedenheit als auch ein sechsstelliges Gehalt mit sich bringt, das ich für hübsche Kleidung aus den Modezeitschriften ausgeben werde, anstatt stundenlang nach einer günstigeren Alternative auf eBay zu suchen.
- Ein Pinterest-taugliches Zuhause, in dem ich jede Menge toller Dinnerpartys für meine Freunde schmeiße, die von meinem Händchen für Inneneinrichtung und meiner Gabe, köstliche und reichhaltige Speisen zuzubereiten, so beeindruckt sind, dass sie mich liebevoll Haushaltsgöttin nennen.
- Dieses Gefühl der inneren Stärke und Ruhe, das durch Yoga in meinen neuen Lululemon-Outfits kommt, und zu wissen, dass ich endlich angekommen bin und nicht allein in Schuhen aus Zeitungspapier sterben muss.