Der Tag danach
Mein Kopf fühlt sich an, als müsste er jeden Augenblick explodieren.
Eins steht fest: Ich werde nie wieder etwas trinken! Den ganzen Januar werde ich keinen Tropfen Alkohol anrühren. Ich gebe zu, dass es ein bisschen spät dafür ist, da die erste Januarwoche schon rum ist, aber besser spät als nie, oder?
Oder?
Gestern Abend wollte ich zu Hause bleiben und mir selbst ein besonderes Geburtstagsmenü kochen, so zumindest der Plan, aber als ich dann endlich ankam, hatte mich der Wunsch, eine Haushaltsgöttin zu sein, schon wieder verlassen. Außerdem ließ die Wirkung der GT s nach, und alles kam mir auf einmal ein bisschen traurig vor.
Also ging ich lieber mit Artus spazieren. Bisher war ich noch nicht dazu gekommen, meine neue Nachbarschaft näher kennenzulernen, und so liefen wir im Zickzack durch unbekannte, von Laternen beleuchtete Straßen. Es fühlte sich seltsam an, zurück in London zu sein, da es überhaupt nicht mehr das London aus meiner Erinnerung war. Bevor ich nach New York ausgewandert war, hatte ich eine Wohnung über einem Geschäft gemietet, mitten in der Stadt und mit allem, was dazugehört, Verkehr, Lärm und Luftverschmutzung – hier, in diesem Stadtteil, war es viel ruhiger, es gab gepflegte Reihen von ebenerdigen Bungalows und elegante viktorianische Reihenhäuser mit gefliesten Wegen in Schachbrettmuster .
Im Vorbeilaufen schaute ich in die Fenster, las in ihnen wie in einem Bilderbuch. Drinnen zeigten sich mir Schnappschüsse aus dem Familienalltag. Eine Mutter stand an einem Fenster im ersten Stock und kämmte ihrer Tochter nach dem Baden die Haare; ein Paar saß gemütlich auf dem Sofa und sah fern, das Flackern des Bildschirms spiegelte sich auf ihren Gesichtern; ein Mann mit einem Rucksack schloss die Haustür hinter sich und wurde mit »Daddy ist da!«-Rufen empfangen.
Ich blieb stehen. Wenn es eine Metapher für mein Leben gab, dann diese hier. Ich draußen, den Blick auf die anderen drinnen gerichtet. Rührende Szenen häuslicher Glückseligkeit. Ein leichter Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, und ich zog mir die Wollmütze tiefer ins Gesicht. Ich war tatsächlich draußen, und es war bitterkalt.
Und trotzdem …
Okay, jetzt muss es raus, ich wollte ja offen und ehrlich sein.
Auch wenn sich eine Seite in mir unglaublich nach genau dieser Glückseligkeit sehnt, gibt es eine andere, die Angst davor hat. Die Seite, die früher ihrem Tagebuch geschworen hat, niemals so enden zu wollen wie die eigenen Eltern. Die mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las und von Liebe und Leidenschaft träumte, und davon, ferne Länder zu bereisen. Die Seite, die ein ungewöhnliches Leben führen wollte, frei, aufregend und voller Abenteuer, anders eben  …
Plötzlich zog mich Artus’ flexible Hundeleine mit sich, ich drehte mich um und sah, wie er vor einem riesigen Haus in Position ging und einen dicken Haufen in die Auffahrt setzte.
Da stand ich also und sammelte Hundescheiße ein.
Ich versuchte nicht weiter über Metaphern für mein Leben nachzudenken, fuhr mit meiner Hand, die wiederum in einem Handschuh steckte, in die Tüte und begann die Hundescheiße vom Boden zu schaufeln. »Schaufeln« im wahrsten Sinne des Wortes, da Artus’ Magen nicht ganz in Ordnung ist und man seine Scheiße nicht einfach aufheben kann, sondern sie tatsächlich vom Asphalt kratzen muss. Ich unterdrückte gerade meinen Würgereiz, als plötzlich der Hausbesitzer im Fenster auftauchte und mich und Artus anstarrte. In der Mensch-Hund-Beziehung läuft irgendetwas gründlich falsch. Wenn Außerirdische auf der Erde landen sollten, wer hätte dann ihrer Meinung nach wohl das Sagen? Ganz sicher nicht die Menschen!
Ich kratzte weiter … endlich, dachte ich erleichtert, geschafft …, mit meinem iPhone leuchtete ich auf die Auffahrt, um sicherzugehen. Schau mir ruhig zu, Eigentümer dieses riesigen Erwachsenenhauses. Ich sehe vielleicht aus wie eine Versagerin, aber ich bin eine sehr verantwortungsvolle Person! Ein Gefühl des Triumphs stieg in mir auf.
Gefolgt von Ekel und Entsetzen, als der Lichtstrahl vom Asphalt zu der Tüte mit der Hundescheiße wanderte.
O mein Gott! Gerissen! Ich hatte die Tüte mit meinen Fingern zerstört! Mein glitzernder Kaschmirhandschuh, den ich gerade erst zu Weihnachten bekommen hatte, war voller Scheiße! Ich zerrte ihn mir von der Hand! Mist! Mist! Mist !
Mir war zum Heulen zumute. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden geworfen und laut geweint. Vielleicht sollte ich es einfach tun? Ich stellte mir den Hausbesitzer vor, wie er seiner Frau in der Küche zurief: »Liebling, da liegt eine seltsame Frau bei uns in der Auffahrt, sie ist voller Hundescheiße und weint hysterisch. Ich verstehe sie durch die doppelt verglasten Scheiben nicht so gut, aber ich glaube, sie faselt irgendetwas davon, dass heute ihr Geburtstag ist. Vielleicht sollten wir besser die Polizei rufen, sonst macht sie den Kindern noch Angst.«
Aber Artus hatte etwas anderes im Sinn. Er heulte auf, als er ein Eichhörnchen entdeckte, und sauste los, ich wurde bei seiner Verfolgungsjagd über den Bürgersteig mitgerissen und versuchte ihn unter keinen Umständen loszulassen. Natürlich fing er das Eichhörnchen nicht. Es verschwand auf einem Baum, und Artus stand unten und bellte wie verrückt. Armer Artus, irgendwie tat er mir ein wenig leid. Man sollte doch annehmen, dass er das mittlerweile gelernt haben könnte. Andererseits hatte es auch ganz schön viele Jahre gedauert, bis ich gelernt hatte, dass, wenn ein Mann verschwindet, also meine Anrufe nicht mehr erwidert, es auch nichts nützt, wie verrückt zu bellen, das heißt, ihm unendlich viele Nachrichten zu schicken.
Ist ja eigentlich das Gleiche. Zumindest fast.
Wir drehten uns um und wollten gerade nach Hause gehen – ich malte mir bereits aus, wie ich mir ein heißes Bad einlassen und danach mit meinem iPhone ins Bett steigen würde, um mir Fotos von Sonnenuntergängen anzuschauen und zu erfahren, was die anderen zu Abend gegessen hatten –, als plötzlich aus dem Pub an der Ecke Fish-and-Chips-Geruch zu mir herüberwehte. Heute war immerhin mein Geburtstag.
Drinnen saßen ein paar Leute aus der Nachbarschaft und gönnten sich ein Gläschen. Ich band Artus an einem Tischbein in der Ecke fest, ging mir die Hände waschen und bestellte ein Glas Weißwein und eine Portion Fish and Chips an der Bar. Als ich fünf Minuten später wiederkam, befürchtete ich, Artus hätte den Tisch bereits durch den halben Pub gezogen. Stattdessen saß er gehorsam dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und bekam die Ohren von einem kleinen Jungen mit einer Mütze gekrault.
»Das gefällt ihm«, sagte ich lächelnd.
Der Junge schreckte auf, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Oh, ist das Ihr Hund?«
Ich wollte gerade verneinen, erklären, dass er meinem Vermieter gehörte, als etwas in mir sich umentschied. »Ja, das ist mein Hund.«
»Wie heißt er?«
»Artus.«
Der kleine Junge strahlte über das ganze Gesicht und zeigte dabei eine Zahnlücke. »Wie König Artus?«
»Ganz genau!« Ich nickte, sah zu Artus hinüber, der ruhig dasaß und geradezu majestätisch wirkte, während ihm der Kopf gestreichelt wurde. Der Name passte perfekt. »König Artus.«
Die Augen des Jungen leuchteten, und seine Hände versanken tief in Artus’ Fell. »Ich hätte auch so gern einen Hund, aber Mummy lässt mich nicht. Sie sagt, wenn überhaupt ein Tier, dann einen Hamster.«
»Hamster können auch eine Menge Spaß machen.«
Er sah nicht gerade überzeugt aus. »Aber doch nicht so wie König Artus«, antwortete er.
»Da hast du recht«, gab ich zu.
»Oliver, da bist du ja!«
Eine männliche Stimme ließ uns beide aufblicken.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du wohl steckst …«
Ein Mann schlenderte von der anderen Seite des Pubs zu uns herüber, es wirkte, als wäre er gerade erst von draußen hereingekommen. Er trug eine Daunenjacke, einen dicken Schal und Handschuhe, hatte kurze, dunkle Haare und sah Oliver zum Verwechseln ähnlich. Das war sicher sein Vater.
Oliver fasste aufgeregt nach seinem Arm. »Rate mal, wie er heißt! König Artus! Genau wie in dem Film, den wir zusammen gesehen haben.«
»Er stört Sie doch hoffentlich nicht, oder?«
»Nein, nein … überhaupt nicht.«
Er hatte wirklich schöne Augen. So ein helles Blau, wie ausgewaschener Jeansstoff.
»Das ist gut.« Er lächelte und zwinkerte dann seinem Sohn zu. »Komm jetzt bitte, wir sind spät dran.«
Er war attraktiv, auf väterliche Weise.
»Kraul ihm doch mal die Ohren, das mag er besonders gern!«
Pflichtbewusst ging er in die Knie, zog einen seiner Handschuhe aus und kraulte Artus’ Ohren. Dieser genoss die Aufmerksamkeit sichtlich. »Was meinst du? Krault er jetzt auch meine?«, fragte er mit ernstem Gesicht und schief gelegtem Kopf, sodass Oliver kichern musste .
»Okay, jetzt müssen wir aber wirklich los, sonst bringt mich deine Mum noch um. Sie wartet am Kino auf dich.«
»Tschüss, König Artus … tschüss.« Oliver winkte uns beiden zu.
»Tschüss.« Ich erwiderte sein Winken. »Viel Spaß im Kino.«
»Danke.« Der Mann lächelte und nahm seinen Sohn an die Hand.
Ich sah ihnen nach, und einen Augenblick lang wünschte ich mir, ich sei die Frau, die vor dem Kino wartete. Nicht nur, weil sie so süß aussahen, Vater und Sohn, Hand in Hand. Sondern auch, weil mir aufgefallen war, wie knackig er in seiner Jeans ausgesehen hatte …
Nell, also wirklich!
Ich war erstaunt über mich selbst. Er war der erste Mann, den ich seit dem amerikanischen Verlobten überhaupt bemerkt und sogar attraktiv gefunden hatte. Sofort verließ mich der Mut aber auch schon wieder, da er schließlich der Ehemann einer anderen war. Das war in meinem Alter leider keine allzu große Überraschung, da die meisten interessanten Männer schon vergeben waren.
Aber irgendwo ganz tief in meiner verwundeten Seele flackerte ein kleines Fünkchen Hoffnung auf, dass es für mich vielleicht doch noch nicht ganz vorbei war.
Wofür ich dankbar bin:
  1. Meinen Wein, der so köstlich war, dass ich noch zwei weitere Gläser bestellt habe.
  2. Artus’ Fähigkeit, sich an den Rückweg zu erinnern.
  3. Ibuprofen.
  4. Dieses Bild des gestrigen Abends, das auf einmal vor meinem inneren Auge auftauchte. Ohne es hätte ich mich vermutlich nicht mehr daran erinnert, dass in dem ganzen Hundescheiß-Chaos die verräterische Kacktüte mitsamt meinem Handschuh zurückgeblieben war. Ich musste also zurückgehen und mich zerknirscht entschuldigen, um ihn zurückzubekommen.
  5. Die Tatsache, dass noch keine »Gesucht«-Poster mit meinem Gesicht darauf in der Nachbarschaft aufgetaucht sind. [2]