Sonntagsessen
Heute wache ich durch eine Gruppen-WhatsApp meiner Freunde auf, die mich zum Mittagessen bei einem Italiener im Zentrum einladen. Nachträglich zum Geburtstag.
Ich: Super! Wie viel Uhr?
Holly: Können wir 11:30 sagen? Olivia macht um 2 Mittagsschlaf.
Max: Freddy hat vorher Fußball. Wir können erst ab eins.
Fiona: Kinderschwimmen ist von 12–2, alles danach ist uns recht.
Ich bin versucht zu schreiben, dass ich um drei Uhr Mittagsschlaf mache, was noch nicht einmal gelogen wäre, da ich immer noch mit diesem verfluchten Jetlag kämpfe, aber stattdessen halte ich mich zurück und lasse sie die Sache mit Mittagsschlafzeiten, Schwimmkursen und Fußball untereinander ausmachen. Was, gemessen an der Anzahl der WhatsApp-Nachrichten, die auf meinem Telefon ankommen, die Brexitverhandlungen einfach erscheinen lässt.
Schließlich zeichnet sich eine Lösung ab, und ich springe gut gelaunt unter die Dusche. Ich freue mich wirklich darauf,
alle wiederzusehen, aber als Artus mir beim Fertigmachen zuschaut, überkommen mich plötzlich Schuldgefühle.
»Keine Sorge, es dauert sicher nicht so lange«, verspreche ich und kraule ihm das Ohr.
Ich fahre in die Innenstadt. Seitdem ich wieder in London bin, war ich noch kein einziges Mal richtig aus, also habe ich mich schick gemacht. Sogar einen kleinen Absatz wage ich. Es ist immerhin mein Geburtstag, wenn auch nachträglich. Als ich beim Italiener ankomme und die Mengen an Geschwisterkinderwagen neben der Tür sowie ein Hinweisschild sehe, dass es eine Spielfläche im Untergeschoss gibt, bin ich allerdings, ehrlich gesagt, ein wenig enttäuscht. Ich mag Kinder wirklich gerne, aber ich hatte mir doch ein wenig mehr erhofft …
Ich öffne die Tür, ohrenbetäubender Lärm … mehr Ruhe?
Ein Kellner erlöst mich und führt mich zu unserem Tisch, ich bestelle mir eine Karaffe Wein und schenke mir ein ordentliches Glas ein.
»Hallo, wunderschönes Geburtstagskind!«
Ich sehe auf und entdecke Fiona, die sich mit ihren Kindern im Schlepptau einen Weg durch den Raum bahnt. Sie stürzt sich auf mich und drückt mich fest. »Es tut mir so leid, dass ich gestern absagen musste, ich habe mich schrecklich gefühlt …«
»Keine Sorge, ist schon gut, ich weiß ja, wie beschäftigt du bist«, sage ich und erwidere ihre Umarmung.
»Ich hatte total vergessen, dass ich Annabel versprochen hatte, ihr mit den Einladungen zu helfen …«
»Annabel?«
»Eine Mutter aus Izzys neuer Schule. Sie organisiert diese riesige Wohltätigkeitsveranstaltung.«
»Das klingt ja wirklich viel wichtiger als mein Geburtstag«, witzle ich. »Ist ja auch egal, ich freue mich, dass ihr heute alle dabei sein könnt.«
»Ja, ich mich auch. Wie fühlst du dich?«
»Alt«, antworte ich mit einem Lächeln
.
Sie gibt mir einen Klaps. »So ein Quatsch! Du siehst doch noch genauso aus wie mit fünfundzwanzig.«
Fiona ist wirklich süß, aber sie hat auch angefangen, die Dinge eine Armlänge von sich entfernt zu halten und dabei zu blinzeln. Mich nimmt sie vermutlich auch nur leicht verschwommen wahr. Ist ja vielleicht auch nicht das Schlechteste. Meine Theorie ist, dass mit dem Alter unsere Sehkraft schwindet, damit wir uns selbst nicht mehr ganz so klar und deutlich erkennen müssen, also quasi als eine Art Selbstschutz.
»Izzy, gibst du Tante Nell unsere Geburtstagskarte?«
Izzy trägt Feenflügel und springt jetzt auf meinen Schoß, in ihren Händchen hält sie eine Karte für mich.
»Danke dir, kleine Fee.« Ich grinse und öffne den Umschlag. »Alle Achtung, so eine ordentliche Handschrift.«
»Kann ich auch gucken?« Sie streicht sich die blonden Locken aus den Augen, die groß und blau und von enorm langen Wimpern gerahmt sind, die ihre Wangen berühren. Izzy hat samtweiche Haut und muss sich nicht vor einem klaren und deutlichen Blick fürchten. Aber sie ist schließlich auch erst fünf.
»Vielen Dank, Izzy.«
»Lucas, hast du das Geschenk?«
Lucas ist sieben und drückt seine Matchbox-Autos an sich, als wolle ihm sie jeder hier im Restaurant stehlen. Er schüttelt den Kopf.
»O nein, dann liegt es sicher noch auf dem Küchentisch«, sagte Fiona mit einem Seufzen. Sie sieht Lucas an. »Hast du vergessen, es mitzunehmen, Schatz?« Lucas nickt. Er ist kein Mann großer Worte, genau wie sein Vater.
Glücklicherweise taucht in diesem Augenblick David auf, der noch den Wagen parken musste, er wedelt mit einem hübsch verpackten Geschenk, das er auf dem Rücksitz gefunden hat. Fiona macht immer sehr schöne Geschenke. Als wir uns kennenlernten, hatten wir beide gleich wenig Geld zur Verfügung und schenkten uns immer gegenseitig Duftkerzen. Aber dann
heiratete sie David, und die Dinge änderten sich. In vielerlei Hinsicht ist sie die Alte geblieben, aber ihre Geschenke kommen seitdem immer aus teuren Boutiquen. In diese Art von Läden traue ich mich erst gar nicht hinein, da alles sofort von den Kleiderbügeln fällt, sobald ich sie nur angucke, und auch die Verkäuferinnen beäugen mich immer so misstrauisch, weil sie vermutlich gleich erkennen, dass ich mir eh nichts von den Sachen leisten kann.
»Meine Güte, der ist ja wundervoll«, hauche ich, während ich einen butterweichen Kaschmirschal auspacke. »Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.«
»Gefällt er dir?«
»Er ist großartig!
«, rufe ich und umarme sie und die Kinder.
Fiona sieht zufrieden aus. »Ich habe ihn in Annabels Laden gekauft, sie hat mir bei der Auswahl geholfen. Sie hat so einen wahnsinnig guten Geschmack. Ich kann es kaum erwarten, dass ihr euch kennenlernt. Du magst sie bestimmt auch!«
»Ja, ich würde mich freuen, sie kennenzulernen.« Ich lächle, aber als zum wiederholten Mal Annabels Name fällt, verspüre ich auch einen leichten Groll. Erwischt. Der Schal ist wunderschön. Mach dich nicht lächerlich.
»Oh, guckt mal, jetzt sind wir komplett!«
Als die Tür aufgeht und Holly und Adam mit Olivia zeitgleich mit Max und Michelle und ihren drei Kindern ankommen, denke ich nicht weiter darüber nach, die nächsten fünf Minuten wird geküsst und umarmt und festgestellt, wie groß doch die ganzen Kinder mittlerweile geworden sind und wie schön es ist, sich endlich wiederzusehen.
Das ist tatsächlich wunderbar. Es geht doch nichts über ein Treffen mit alten Freunden. Man macht einfach da weiter, wo man beim letzten Mal aufgehört hat. Als wäre man mitten im Gespräch, obwohl wir uns seit letztem Sommer nicht mehr gesehen haben und es jede Menge zu erzählen gibt. Neue Häuser, Beförderungen und Kinder
.
»Nummer vier, wir müssen echt verrückt sein!«, sagen Max und Michelle und lächeln sich über Teller mit Penne all’arrabbiata hinweg an, während Adam versucht, kostenlosen juristischen Rat von Dave über ein Ferienhaus in Frankreich, das sie kaufen wollen, zu ergattern, indem er ihm die Salamischeiben von seiner Pizza anbietet. Fiona und Holly packen währenddessen stapelweise Tupperdosen mit Reiskeksen und Blaubeeren aus, die sich im ganzen Restaurant verteilen.
Ich bestelle noch eine Karaffe Wein.
»Und wie läuft es bei dir, Nell?«
Nachdem die Kellner unsere Teller weggeräumt haben, gehen die Kinder hinunter in den Spielbereich, Freddy passt auf sie auf, der im Gegenzug das neue iPhone seines Vaters nutzen darf – am Tisch kehrt Ruhe ein.
»Was gibt es Neues?«, fragt Holly, die ich bei meinem ersten Aushilfsjob in London kennengelernt habe. Wir haben uns bei Ofenkartoffeln aus der Mikrowelle und Excel-Tabellen sofort angefreundet. Sie streicht sich ihren perfekt geschnittenen, dunklen Bob hinter die Ohren und sieht mich erwartungsvoll über den Tisch hinweg an.
Ich zögere. Die einzigen Neuigkeiten, die ich auf Lager habe, sind eine geplatzte Verlobung, ein Zimmer zur Untermiete und meine momentane Arbeitslosigkeit. Nicht gerade dasselbe wie Beförderungen und neuer Nachwuchs.
»Erzähl mir alles über das Café …«
»Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?«
»Wann fliegst du zurück?«
Meine Freunde löchern mich mit Fragen, und ich überwinde mich schließlich, ihnen reinen Wein einzuschenken. Fiona musste mir hoch und heilig versprechen, Stillschweigen zu bewahren. Ich kam mir viel zu sehr wie eine Versagerin vor. Aber sie sind schließlich meine ältesten Freunde, sie werden mich sicher nicht verurteilen.
Das mache ich schon selbst
.
»Tja, also, die Sache ist die … Wenn ich den Witz machen würde, ich hätte vergessen, meinen Ring einzupacken, ja, dann wäre das wohl gar kein Witz …« Ich halte inne, überlege, wie ich es am besten formulieren soll, dann platzt es einfach aus mir heraus. »Wir haben uns getrennt, und ich wohne jetzt wieder in London.«
Betretene Gesichter.
»Wusstest du davon?«, fragt Holly und wirft Fiona einen vorwurfsvollen Blick zu, die rot wird und das Gesicht hinter ihrem Weinglas versteckt. »Nell, warum hast du mir nichts erzählt?«
»Aber das mache ich doch gerade, oder etwa nicht?«
Ich möchte Holly schließlich nicht unter die Nase reiben, dass sie nie Zeit hat, wenn ich sie anrufe. Holly ist so eine Art Wonder Woman. Wenn sie nicht gerade Olivia irgendwo hinfährt, trainiert sie für einen Triathlon oder ist gerade auf dem Weg zu einer wichtigen Besprechung im Krankenhaus, in dem sie als Klinikmanagerin arbeitet und tagaus, tagein mit Leben und Tod konfrontiert ist. Sie ist so erfolgreich und organisiert und fähig
, dass ich sie irgendwie auch nicht mit meinen erbärmlichen Liebeskummergeschichten belästigen wollte.
»Bitte, sag jetzt nicht, er hat eine andere«, entfährt es Max.
»Max!«, ruft Michelle und stößt ihn unwirsch an.
»Woher willst du wissen, dass es kein anderer Mann ist?«, kontere ich.
»Was? Er hat einen anderen?«
»Max
!« Der gesamte Tisch brüllt jetzt, und David wirft eine Serviette nach ihm.
Auf Max ist Verlass. Ein echter Witzbold.
»Nell muss uns doch nicht erzählen, warum«, sagt Michelle und wirft ihrem Mann einen wütenden Blick zu. Michelle ist vielleicht gerade einmal 1,50 m groß, aber sie hat das feurige Temperament ihrer winzigen sizilianischen Großmutter geerbt und kann ganz schön ungemütlich werden. Max sieht angemessen zerknirscht aus
.
»Schon in Ordnung, ist keine große Sache«, schwindle ich und zucke mit den Achseln. »Er hat wohl kalte Füße bekommen.«
»In Kalifornien?«, fragt Holly.
Ich muss lächeln, auch wenn es sich ganz tief in mir drin ziemlich mies anfühlt.
»Tja, er ist wirklich ein echter Idiot, wenn er dich einfach so gehen lässt«, sagt Max in seiner loyalen Art.
»Sein Verlust ist unser Gewinn«, fügt Fiona hinzu, nimmt meine Hand und drückt sie sanft. »Du weißt gar nicht, wie sehr sich Izzy darüber freut, ihre Patentante nun häufiger zu sehen.«
»Freddy auch«, sagt Michelle. »Wenn es dir nichts ausmacht, am Rande eines Fußballfelds zu frieren. Er ist wie besessen davon.«
»Ich kann es kaum abwarten«, erwidere ich lächelnd.
»Er ist nicht wie besessen, er hat Talent«, korrigiert Max sie. »Ganz sein Vater. Du weißt ja, dass ich professioneller Spieler hätte werden können, aber diese Knieverletzung …«
»Bitte, Max. Nicht schon wieder die alten Geschichten!« Am Tisch wird es laut, und alle machen sich darüber lustig, dass Max standhaft behauptet, er hätte besser werden können als Beckham, wenn da nicht sein kaputtes Knie gewesen wäre. Eindeutig interessanter als mein katastrophales Liebesleben.
Dann kommen die Kinder wieder, und ein Schokoladenkuchen mit einer Kerze steht plötzlich auf dem Tisch, alle singen Happy Birthday
und lassen sich den wirklich vorzüglichen Geburtstagskuchen schmecken. David übernimmt großzügig die Rechnung, bevor sie jemand von uns zu Gesicht bekommt, und dann verabschieden wir uns voneinander, während alle wieder in ihre Autos steigen und Fiona und Max sich entschuldigen, dass sie mich wegen der Kindersitze nicht nach Hause fahren können.
»Wir müssen in die entgegengesetzte Richtung, aber wir können dich schnell an der U-Bahn absetzen«, bietet Holly an.
»Nein, lasst ruhig – nach der Pizza kann ich einen Spaziergang
gut gebrauchen«, sage ich lächelnd und winke ihnen nach, wie sie mit hochgedrehter Heizung davonbrausen.
Allein auf dem Bürgersteig, kommt mir alles auf einmal unerträglich still vor. Ein weiterer Nachteil des Singledaseins: Man hat auf dem Rückweg niemanden zum Lästern. Über Adams neuen Ziegenbart zu lachen oder sich die lustigen Sachen in Erinnerung zu rufen, die Izzy zu den Kellnern gesagt hat, oder sich einfach nur zu fragen, wie hoch Davids Bonus letztes Jahr wohl ausgefallen ist.
Oder sich beim Lachen mit den Blicken zu suchen, nur um den anderen spüren zu lassen, dass man sich liebt und zusammengehört.
Automatisch gucke ich auf mein Telefon. Keine neuen Nachrichten.
Okay, so ist es eben, kein Grund, hier in der Kälte rumzustehen und sich den Tod zu holen.
Ich lege mir meinen wunderschönen neuen Schal um und ziehe einen Handschuh an, dann mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn.
Wofür ich dankbar bin:
- Meine wunderbaren Freunde.
- Die Restaurantauswahl, da ich so meinen Geburtstag auch mit ihren Kindern feiern konnte, wovon zwei meine Patenkinder sind, die ich viel zu selten sehe. Es hat wirklich Spaß gemacht.
- Die Spielfläche im Untergeschoss (als der Spaß zu viel wurde).
- Ricola-Bonbons, da mein Hals von dem ganzen Geschrei schmerzt.
- Artus, der an der Tür auf mich wartete, um mich zu Hause willkommen zu heißen.