Leben und Tod
»Du möchtest, dass ich über Tote schreibe?«
Wir hatten uns am Vormittag in der Nähe seines Büros getroffen, in einem dieser auf rustikal gemachten Cafés. Mit blank gescheuerten Holztischen, Kreidetafeln und frisch gebackenen Brownies, die offen ausgestellt werden, sodass jeder daraufhusten und -niesen kann.
Sadiq hielt im Kauen seines gegrillten Halloumi-Fladenbrots inne. »Tja, das ist bei Nachrufen nun mal so, Nell. Die Leute müssen tot sein.«
Ich kenne Sadiq schon fast zwanzig Jahre. Als ich zum ersten Mal nach London gezogen bin, war er einer meiner Mitbewohner, damals arbeitete er als Junior-Reporter bei einer Boulevardzeitung. Heute ist er der Lifestyle-Redakteur bei einer der großen Sonntagszeitungen.
»Die Freiberuflerin, die das bisher gemacht hat, ist zum Reiseressort gewechselt, also musste ich direkt an dich denken.«
Ich lächelte. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das als Kompliment gemeint war.
Die Kellnerin stellte zwei weitere Flat Whites vor uns. Auf Sadiqs Milchschaum prangte ein kleines Herzchen. Auf meinem nicht.
»Ich habe kein Herz bekommen.«
»Was?« Sadiq schluckte sein letztes Stück Brot herunter und nahm einen Schluck Kaffee.
Wenn das mal kein Schicksalsläuten war. Ein Zeichen. Das
war’s für mich. Keine Liebe mehr. Nichts als der Tod am Horizont.
Ich beobachtete Sadiq dabei, wie er das kleine Herz schluckte, ohne es überhaupt zu bemerken. Warum sollte er auch? Sadiq ist schließlich nicht auf der Suche nach Zeichen des Universums. Er ist glücklich verheiratet, hat zwei wunderbare Kinder und eine beeindruckende Karriere vorzuweisen. Jeder würde sein Leben als Erfolg bezeichnen. Ich könnte wetten, dass er noch nicht einmal sein Horoskop liest.
»Nichts weiter«, sagte ich schnell und schüttle verlegen lächelnd den Kopf. »Wirklich nett, dass du an mich denkst.«
»Hast du also Interesse daran oder eher nicht?«
»Ja, auf jeden Fall«, sagte ich mit einem Nicken. »Bist du dir denn sicher, dass ich dafür die richtige Erfahrung mitbringe? Ich bin ja schließlich Lektorin und keine Journalistin.«
Sadiq zerstreute meine Bedenken sofort. »Es geht im Grunde darum, ein Leben auf tausend Wörter zu reduzieren. Das kannst du bestimmt ausgezeichnet. Und das Beste an Nachrufen ist, die werden immer benötigt«, fügte er gut gelaunt hinzu.
»Jetzt weiß ich wieder, warum wir uns so gut verstanden haben«, erwiderte ich mit einem Lächeln.
»Ich bin dir ja schließlich noch einen Gefallen schuldig.«
»Ach ja?«
»Wenn du nicht gewesen wärst, wäre das mit Patrick nie etwas geworden. Weißt du noch, wie du mir gesagt hast, er wäre das Beste, was mir je passiert ist? Und ich Idiot konnte das in dem Moment gar nicht sehen.«
Zwanzig Jahre war das her: Sadiq und ich saßen Nacht für Nacht zusammen auf meinem Futon, tranken billigen Wein und rauchten Marlboro Lights. Während eines unserer Gespräche hatte Sadiq sein Coming-out, auch wenn ich es schon vorher geahnt hatte. Genauso wie die Tatsache, dass er sich in den schüchternen, blauäugigen Iren verguckt hatte, der hinter der Bar in unserem Lieblingspub arbeitete
.
Ich lächelte. »Du brauchtest nur einen kleinen Schubs.«
Er gab der Kellnerin seine Kreditkarte, um die Rechnung zu begleichen, dann nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und sagte: »Tja, und jetzt bist du an der Reihe.«
Wir einigten uns auf ein nicht gerade hohes Honorar, das zusammen mit Dads Darlehen und meiner günstigen Miete jedoch zum Leben reichen sollte. Und schon sitze ich in der U-Bahn, auf dem Weg zu einem Interview mit der Witwe eines angesehenen Dramatikers. Sein Nachruf war eigentlich für nächste Woche geplant, aber die Zeitung hat sich entschieden, ein ganzes Feature für Februar daraus zu machen, also erhoffe ich mir, dass ich ein bisschen von dem einfangen kann, was Sadiq »Leben« nennt. Eine zugegebenermaßen ironische Wortwahl, wenn man das Thema des Beitrags bedenkt, aber anscheinend besteht das Risiko bei Nachrufen darin, nur Erfolge aufzulisten.
In Bezug auf mein Leben bedeutet das: eine Sorge weniger. Mein Nachruf würde zum heutigen Stand auf einen Post-it-Zettel passen.
Die Adresse liegt ganz in der Nähe der Portobello Road, ich stehe vor einem hohen, schmalen, fliederfarbenen Haus. Während ich die Eingangstreppe hinaufsteige, übe ich meine Einleitung: »Mein herzliches Beileid … Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen …« Auf der U-Bahnfahrt habe ich mir noch schnell die Rechercheergebnisse von Sadiq angeschaut. Es sieht so aus, als sei dieser Monty Williamson ein echtes Original gewesen. Er hat, zusammen mit seiner Frau, ein faszinierendes Leben geführt, die ganze Welt bereist und jede Menge berühmte Leute gekannt. Ich bin furchtbar aufgeregt. Die Witwe hat sicherlich viele spannende Geschichten zu erzählen. Dennoch muss ich mich sehr rücksichtsvoll verhalten. Die Frau ist schließlich schon über achtzig und hat gerade ihren Ehemann verloren. Sie ist vermutlich ziemlich zerbrechlich
.
Und schwerhörig wohl auch, die Arme, denke ich, nachdem ich minutenlang geklingelt habe und niemand öffnet. Ich klopfe laut gegen die Tür. Dann höre ich Schritte, und plötzlich wird die Tür aufgestoßen.
»Hallo, ich heiße Nell Stevens und bin wegen des Interviews …«
»Entschuldigen Sie, haben Sie schon lange geklopft? Ich war gerade mit Malen beschäftigt und habe dabei einen Podcast gehört.«
Mit meiner Vorstellung einer zerbrechlichen, Hände ringenden und mich schlurfend begrüßenden Witwe liege ich völlig falsch. Vor mir steht eine große, lebhafte Frau mit dicken grauen Haaren, die zu einem attraktiven Bob geschnitten sind. Sie trägt roten Lippenstift, eine Latzhose mit Farbspritzern darauf und mit Pailletten besetzte Turnschuhe.
»Erzählen Sie mir jetzt nicht, Sie hätten eine Oma mit Blauschimmer in den Haaren und Trauerkleidung erwartet.« Sie lacht über meinen Gesichtsausdruck. »Ein wenig Glitzer ist mir lieber, Ihnen nicht?«
Dort vor ihrer Tür weiß ich bereits, dass ich sie mögen werde.
»Entschuldigen Sie, was sind das bloß für Manieren, kommen Sie doch herein …«
Sie öffnet die Tür ein bisschen weiter und lässt mich herein, streckt mir ihre knochigen Finger, an denen jede Menge Ringe glitzern, entgegen und drückt fest meine Hand. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Ich muss grinsen. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«
Wofür ich dankbar bin:
- Sadiq, der mir nicht nur Arbeit angeboten hat, sondern mich gleichzeitig gerade noch vor der Hölle bewahrt hat, eine Stunde lang unter einer Decke liegend dem Klang eines Gongs lauschen zu müssen
.
- Monty Williamsons Witwe dafür, dass sie so fabelhaft ist.
- Den Barista bei Starbucks, der mir meinen Latte macchiato für den Nachhauseweg zubereitet hat. Wer braucht ein Herz aus Schaum, wenn er ein lachendes Pandagesicht haben kann?