Tod durch Blauschimmer
Ich gebe zu, es ist nicht gerade mein Traumjob
. Niemand würde sagen: »Wenn ich groß bin, möchte ich über tote Leute schreiben.« Aber wenn man ehrlich ist, sind manche der faszinierendsten Leute auf Erden bereits tot, und einige der langweiligsten leben noch, ich weiß, über welche ich lieber schreiben möchte.
Es ist Freitagabend, anstatt auszugehen, verpasse ich meinem ersten Nachruf den letzten Schliff. Es hat länger gedauert, als ich erwartet hätte, da ich in den Strudel namens Google geraten bin. Gerade recherchierte ich noch die Theaterstücke von Monty Williamson, und im nächsten Augenblick suchte ich bereits nach »Anzeichen einer Sepsis«, da ich einen juckenden Ausschlag am Ellbogen hatte, oder nach »Vertragen Hunde Äpfel?«, da Artus in einem Moment der Unaufmerksamkeit eine Apfelkitsche aus meinem Papierkorb stibitzt hatte.
Ist ja auch egal, ich bin fast fertig. Ich drücke auf das Abspielsymbol auf meinem iPhone, um das vor wenigen Tagen aufgezeichnete Interview erneut zu hören, und die Stimme der Witwe erfüllt den Raum …
»Bitte, nenn mich doch Cricket.«
»Cricket wie der Sport?«
»Nein, das Insekt, Cricket wie Grille«, sie lacht. »Eigentlich Catherine, aber als Kind war das mein Spitzname, und der ist hängen geblieben. Mein Mann meinte immer, ich sei so schrill.«
Cricket lebt in einem Haus, wie man es sich für einen
Dramatiker nicht besser ausmalen könnte. Dort stehen deckenhohe Regale mit Büchern, die in die letzten Ecken und Winkel geklemmt wurden, an den Wänden hängen Fotografien und gerahmte Theaterposter, Schmuck und Kunsthandwerk aus weit entfernten Ländern; eine Stammesmaske, bemalte Wandteller, exotisch aussehende Teppiche. Das Ganze hat etwas Chaotisches an sich, wie bei jemandem, der ein improvisiertes Leben geführt hat.
Auch unser Interview verlief eher unkonventionell.
»Bitte, nimm doch Platz, mach es dir gemütlich«, forderte Cricket mich auf, nachdem ich ihr ins Wohnzimmer gefolgt war, wo das Interview aufgezeichnet werden sollte.
Ich sah mich nach einer Sitzgelegenheit um, aber alles war mit Laken voller Farbkleckse bedeckt.
»Da ist ein Sofa drunter.«
»Du streichst gerade?« Als mein Blick auf die Leiter und die verschiedenen Farbeimer fiel, die dort herumstanden, verstand ich plötzlich. »Als du von Malen sprachst, hatte ich an Öl- oder Wasserfarben gedacht.«
»Um Himmels willen«, sie lachte vergnügt, »das Haus braucht mal wieder einen neuen Anstrich, also dachte ich, wenn nicht jetzt, wann dann?«
Ich weiß nicht mehr, was mich mehr überraschte. Die Tatsache, dass eine über achtzigjährige Frau mit Pinsel und Farbrolle auf der Leiter stand, oder dass sie so guter Dinge war, obwohl ihr Mann gerade erst gestorben war.
»Ich wollte dieses Zimmer schon immer gelb streichen, aber Monty war strikt dagegen – welcher Farbton gefällt dir besser?« Sie zeigte auf zwei Probeanstriche an der Wand. »Links siehst du Hummelgelb und rechts toskanische Sonne.«
»Hm … ich glaube, mir gefällt Hummelgelb besser.«
Sie sah zufrieden aus. »Zwei Seelen, ein Gedanke. Wer würde nicht gerne in einem Raum sitzen, der mit einer Farbe gestrichen wurde, die einen so tollen Namen trägt.« Sie grinste und
verschwand dann in die Küche, um Teewasser aufzusetzen und Kekse zu holen. »Köstliche Schokoladenkekse, die ganz furchtbar schlecht für uns sind.«
Ich mochte Cricket auf Anhieb. Sie war scharfsinnig und ehrfurchtslos, mitten im Interview kramte sie auf einmal alte Fotoalben hervor und unterhielt mich mit Skandalen und Intrigen aus der faszinierenden Karriere ihres Mannes, dabei ließ sie ganz nebenbei die Namen von Bühnen- und Bildschirmstars wie Feenstaub in unser Gespräch rieseln. Zugleich war sie jedoch schonungslos ehrlich. Wenn der Vorhang erst einmal gefallen war, bestand das Leben nicht mehr nur aus Glitzer und Glamour. Verrisse. Finanzielle Entbehrungen. Krebs. Sein Leiden zum Ende hin, Erleichterung und Schuldgefühle angesichts seines Todes. Der Stoff, aus dem das wahre Leben nun mal ist. Sie sprach über all das, was es nicht ins Fotoalbum schafft.
»Ich traf Monty, als ich es schon aufgegeben hatte, mich noch einmal zu verlieben. Es kam sehr unerwartet. Ich war schon fast fünfzig und dachte, mir sei jede Leichtigkeit bereits abhandengekommen. Ehe und Kinder hatten einen großen Bogen um mich gemacht … oder war ich diejenige, die den Bogen gemacht hatte?« Sie lächelte, der Schalk blitzte in ihren Augen, und ich stellte fest, dass ich mich viel mehr für Cricket interessierte als für ihren berühmten späten Ehemann.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Ich war damals Schauspielerin – allerdings keine besonders gute, sollte ich vermutlich hinzufügen –, und mein Bedarf an leidenschaftlichen Affären und zum Scheitern verurteilten Liebesabenteuern war bereits gedeckt. Mehrfach war ich verlobt gewesen; einmal hatte ich sogar schon das Hochzeitskleid gekauft, ein grauenhaftes Teil aus Netzstoff, wenn ich mich recht erinnere …« Sie schauderte bei dem Gedanken daran. »Zum Glück hat mich der Bräutigam davor bewahrt, das verfluchte Ding zu tragen, da er mir wenige Tage vor der Zeremonie gestanden hat, schon mit einer anderen verheiratet zu sein. Du
kannst dir vorstellen, was das damals für einen Aufruhr verursachte.«
Sie lachte herzlich.
»Aber das gehört definitiv zu den guten Dingen am Älterwerden: Die grausamsten Dinge verwandeln sich mit der Zeit in die lustigsten.«
Ich musste an meine eigene geplatzte Verlobung denken. Würde ich irgendwann wirklich darüber lachen können?
»Danach entschied ich, dass ich genug hatte. Die Liebe war einfach nichts für mich. Ich schaffte mir eine Katze an und begann, Bratsche zu lernen …«
»Warum gerade Bratsche?«
»Warum nicht?«
Ich lächelte. »Warum nicht« klang nach einem guten Lebensmotto.
»Ich war glücklich. Aber dann sprach ich ein paar Monate später für eine Rolle vor und traf Monty, und plötzlich fiel alles in sich zusammen. In mancher Hinsicht war das ein Glück, da ich, wie sich später herausstellte, allergisch gegen Katzen war und überhaupt keinen Ton halten konnte. Noch Tee?«
Also tranken wir mehr Tee, und während die schwache Februarsonne der Dämmerung wich, erzählte mir Cricket, dass die beiden, obwohl sie mehr als dreißig Jahre zusammen gewesen waren, erst mit über siebzig geheiratet hatten. »Aber das auch nur, weil es Monty gesundheitlich schlechter ging und er die ganzen Steuersachen vermeiden wollte. Wir haben in New York geheiratet. Ohne Aufsehen. Nur wir beide. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass wir jedem, der uns so auf den Treppen des Rathauses sah, vorkommen mussten wie ein steinaltes Liebespaar, ich mit meinen grauen Haaren und Monty mit seiner Gehhilfe, aber ich habe mich gefühlt, als wäre ich wieder achtzehn. Verstehst du, trotz allem war ich verrückt nach ihm …«
Ihr Blick verlor sich in der Ferne, sie stand wieder auf den Stufen des Rathauses
.
»Hat dich schon einmal jemand so verrückt gemacht, Nell?«
Ich zögerte einen Augenblick, da nun der Fokus auf mir lag.
»Ja.« Ich nickte.
»Und?«
»Er war nicht verrückt nach mir.«
Sie sah mir in die Augen. »Du Arme!«
Sie sagte es so gefühlvoll, dass mir fast die Tränen kamen. Ich hatte alles in mich hineingefressen und gute Miene zum bösen Spiel gemacht, mich abgebrüht gezeigt und die Sache heruntergespielt, da es der einzige Weg für mich gewesen war, damit umzugehen. Ich hatte Angst, vollkommen zusammenzubrechen, wenn ich mich öffnete. Zum Glück fragte sie nicht nach Einzelheiten, und ich behielt alles, außer der Information, dass kürzlich meine Verlobung in Amerika geplatzt und ich deswegen zurück nach London gezogen war, um ein neues Leben zu beginnen, für mich.
»Und ich bin schon über vierzig.«
»Na und? Ich bin über achtzig.«
Trotz allem konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»Mach dir keine Sorgen übers Älterwerden, dann schon lieber übers Langweiligwerden.«
Es gelang mir überhaupt nicht, mir Cricket in langweilig vorzustellen.
»Das einzige Problem am Älterwerden ist, dass man nach und nach seine Freunde und seine geliebten Menschen verliert«, sprach sie weiter. »Sie sterben einfach weg, einer nach dem anderen. Monty zu verlieren war sehr schwer für mich, aber ich habe immerhin einen Großteil meines Lebens ohne ihn verbracht. Als wir zusammenkamen, war er ein richtiges Arbeitstier und ständig auf Reisen. Ich habe mich daran gewöhnt, auch ohne ihn zu sein … Meine Freundinnen zu verlieren war in mancher Hinsicht schlimmer.«
Sie stand auf und griff nach einem der Fotos auf dem Beistelltischchen. Darauf waren vier Frauen zu sehen, die alle in
Liegestühlen saßen und in die Kamera lächelten. Die mit den dunklen Haaren war unverkennbar Cricket in deutlich jüngeren Jahren.
»Sie waren wie Schwestern für mich.« Cricket starrte einen Moment lang auf das Foto, dann ging sie die Frauen einzeln durch. »Das ist Sue. Sie war meine beste Freundin. Wir haben uns in London ein Studentenzimmer geteilt und auch später noch jeden Tag miteinander gesprochen, manchmal sogar mehrfach. Veronica habe ich kennengelernt, als wir zusammen im selben Theaterstück gespielt haben … wir gingen jeden Mittwoch gemeinsam eine Matinee anschauen. Und Cissy arbeitete in unserer Stadtteilbibliothek, in die Monty häufig zum Lesen und Schreiben ging. Am Anfang war ich furchtbar eifersüchtig auf sie, wirklich wahr. Ich dachte, er könnte sich für sie interessieren. Sie war so unglaublich gut aussehend.« Cricket lächelte. »Aber dann wurden wir die besten Freundinnen. Sie empfahl mir immer Bücher, die ihr besonders gefallen hatten …« Sie verstummte, schwelgte in ihren Erinnerungen. »Sie waren immer für mich da. Ich vermisse sie so sehr.«
Während ich ihr zuhörte, wurde mir bewusst, dass wir einander auf eine seltsame Art ähnelten. Ich verstand gut, wie sie sich fühlte. Meine Freunde waren zwar nicht gestorben, sie hatten nur geheiratet und Kinder bekommen, aber ich vermisste sie schmerzlich.
»Schluss jetzt mit den trüben Gedanken.« Sie schüttelte sich und stellte das Foto zurück. »Ich habe sicher schon viel zu viel deiner Zeit in Anspruch genommen.«
»Nein, überhaupt nicht«, protestierte ich, aber es wurde langsam spät. Ich bedankte mich bei Cricket für das Interview, und nachdem wir uns schon voneinander verabschiedet hatten, rief sie mir hinterher: »Ach ja, es war übrigens Sue, die mich gewarnt hat, niemals der Blauschimmer-Armee mit ihren konservativen Ideen beizutreten.« Sie winkte fröhlich. »Sie meinte, die wäre tödlich.«
Wofür ich dankbar bin:
- Googles 52,5 Millionen Einträge zu »Welche Fragen kann man einer Witwe stellen?«
- Es ist keine Sepsis.
- Zu wissen, dass der Tod, auch wenn er genauso wenig vermieden werden kann wie Steuern, nicht vom Blauschimmer kommt.