Ein unerwarteter Gast
Nach dem Gespräch mit Cricket bin ich entschlossener denn je, meine Freunde häufiger zu sehen, also verabrede ich ein Treffen mit Fiona auf dem Spielplatz. David hat Lucas zum Judo gebracht, also besteht tatsächlich eine Chance, dass wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand bringen und zwischen den obligatorischen Rutschpartien und dem Eingegrabenwerden im Sandkasten, wie es sich für Patentanten nun einmal gehört, den einen oder anderen Gesprächsfetzen einflechten können.
Es ist kalt und regnerisch, also ziehe ich verschiedene Pullover übereinander und als letzte Schicht noch eine billige Regenjacke darüber. Ich habe sie erst vor Kurzem völlig verzweifelt erstanden, nachdem mir mal wieder ein Schirm im Wind umgeschlagen war. Sie ist grün, aus Plastik, und ich sehe darin aus, als hätte ich mir einen dieser Müllsäcke übergezogen, der normalerweise für Gartenabfälle gedacht ist.
Außerdem finde ich auch noch ein paar alte grüne Gummistiefel von Edward in dem Stauraum unter der Treppe. Sie sind mir ein wenig zu groß und übersät mit Teerölspritzern, da Edward darin den Zaun gestrichen hat, aber immerhin besser als meine Turnschuhe. Oder meine Flipflops, die scheinbar die einzige Art von Sommerschuhen sind, die ich aus Kalifornien mitgebracht habe.
Als ich mit wehender Jacke und schlappenden Gummistiefeln aus dem Haus stürme, fällt mein Blick in den Spiegel, ich sehe mich mitleidig an. Dann rede ich mir selbst gut zu:
Wen kümmert schon die Mode? Ich gehe schließlich auf einen Spielplatz, wo ich meine beste Freundin treffe und mit meinem tollen Patenkind im Sand spielen kann. Wer sollte mir da schon über den Weg laufen?
Ich ziehe mir noch schnell eine Wollmütze über und eile zur U-Bahn. Trocken und warm zu bleiben ist alles, was zählt.
»Oh, sieh nur, da ist Annabel.«
Verflucht!
Sie taucht wie eine Göttin aus den Nebelschwaden auf dem Spielplatz auf. Ein sonnengebräunter Traum an Perfektion in ihrer Moncler-Jacke, den Skinny-Jeans und den Le-Chameau-Gummistiefeln. Ich sehe sie an, während sie in Zeitlupe auf uns zugleitet, die Kinder teilen sich vor ihr wie das Rote Meer, neben ihr eine Miniaturversion ihrer selbst, die ihre Tochter sein muss, sowie eine gehorsam hinter ihr her trottende Französische Bulldogge in einem gesteppten Barbour-Mäntelchen.
Sie küsst Fiona herzlich auf die Wangen, dann dreht sie sich zu mir um und sieht mich mit dieser besorgten Neugierde an, die normalerweise etwas Unappetitlichem im Salat vorbehalten ist.
Irgendwo, stillschweigend, wurden die Fronten geklärt, so kommt es mir zumindest vor.
»Das ist meine Freundin Nell«, stellt Fiona mich überschwänglich vor.
»Hallo.« Ich sehe aus dem Sandkasten, in dem mich Izzy vergraben hat, zu ihnen auf und winke kurz.
»Ich habe schon so viel von dir gehört.« Sie lächelt mich an. Ihr Lächeln ist genauso perfekt wie alles andere an ihr.
»Geht mir genauso.« Ich erwidere ihr Lächeln, stehe auf und klopfe mir die nassen Sandklumpen ab, während ihre Tochter zu Izzy hinüberläuft, um sie zu begrüßen.
»Clementine, Liebes, nicht in den Sandkasten«, weist Annabel sie scharf zurecht, bevor sie freundlich hinzufügt: »Mummy
möchte nicht, dass du dreckig wirst. Warum spielt ihr nicht Hüpfekästchen? Das macht sicher Spaß.«
Izzy sieht mich fragend an. Ich weiß, was sie gerade denkt. Hüpfekästchen macht überhaupt keinen Spaß. Tante Nell im nassen Sand einzugraben macht viel mehr Spaß. »Nun geh schon, du kannst mich später verbuddeln«, flüstere ich ihr zu und zwinkere.
»Sogar deinen Kopf?«
»Aber klar doch«, verspreche ich.
Izzy grinst zufrieden, und die beiden Mädchen laufen brav auf die andere Seite des Spielplatzes.
»Ich freue mich so, dass ihr euch endlich kennenlernt«, sagt Fiona aufgeregt, als ich zu den beiden stoße. »Ich habe Annabel alles über dein wundervolles Café erzählt.«
»Na ja, wundervoll würde ich es nun nicht gerade nennen.« Ich verziehe das Gesicht und bin ein wenig peinlich berührt von Fionas stolzem Lächeln.
»Ach, das Café, das schließen musste?« Annabel sieht mich mitfühlend an. »Wie schade.«
»Ja, genau das.« Ich bin ein wenig empört.
»Ich weiß genau, wie schwer es ist, ein Geschäft zu führen. So viele scheitern daran.«
Okay, ich bin vielleicht zu sensibel. Sie versucht nur, nett zu sein.
»Annabel hat ein überaus erfolgreiches Geschäft für Inneneinrichtung geführt, bevor sie ihren eigenen Laden aufgemacht hat«, erzählt Fiona begierig. »Vielleicht kann sie dir ja ein paar Tipps geben, dich wieder ins Spiel bringen.«
»Danke, aber … nein, ich denke eher nicht.« Ich lächle höflich.
»Sehr weise.« Annabel nickt. »Ich sage immer zu meinem Mann Clive: Erfolg trennt wirklich die Spreu vom Weizen.«
Ich lächle weiter, brauche einen Augenblick, um es zu bemerken. Was hat sie da gerade gesagt? Wer ist hier die Spreu?
Ich etwa
?
»Aber wenn du einmal Tipps in Sachen Styling benötigst, helfe ich dir natürlich gern«, fährt sie fort und mustert mein Outfit, während sie einen Schluck von ihrem Soja-Latte nimmt.
»Annabel hat einen unglaublichen Geschmack«, redet Fiona unbeirrt weiter.
»Hältst du mich etwa für nicht stylish genug?«, kontere ich, ignoriere Annabels geringschätzigen Blick und ziehe ein Gesicht, das Fiona zum Lachen bringt. »Und was ist mit dem Müllsack, den ich damals beim Glastonbury Festival getragen habe?«
»Oh, wie konnte ich das nur vergessen? Ich hatte ja auch einen an.« Sie kichert.
»Wir haben eine ganze Rolle davon aufgebraucht!«
»Das ganze Wochenende über war ich von Kopf bis Fuß voller Matsch. Als ich meine Wäsche mit nach Hause gebracht habe, hat meine Mutter sie sicher zehnmal gewaschen.«
»Meine hat einfach alles weggeschmissen!«
Bei dem Gedanken daran brechen wir beide in lautes Gelächter aus.
»Fiona, du musst unbedingt bald zu Besuch kommen und unseren neuen Pool ausprobieren«, unterbricht uns Annabel. »Izzy wird er bestimmt auch gefallen.«
Fiona hört auf zu lachen und wendet sich wieder ihrer neuen Freundin zu.
»Annabel ist gerade in ein Haus mit einem Pool im Garten gezogen«, erklärt sie mir.
»Ist das nicht zu kalt?«
Annabel schaut mich an, als wäre ich die letzte Idiotin. »Er ist beheizt.«
»Ja, natürlich«, sage ich schnell.
Wie meine Heizdecke.
»O ja, das fände Izzy sicher toll«, sagt Fiona. »Sie schwimmt immer besser.«
»Super, dann bring du doch auch deinen Bikini mit, und wir machen uns einen tollen Frauentag.
«
»Das klingt fantastisch!« Fiona grinst mich an. »Das klingt doch wirklich nach einer Menge Spaß, oder, Nell?«
Ich werfe einen Blick zu Annabel hinüber, der ihr Unbehagen sichtlich anzumerken ist. Es mag für Fiona nicht so offensichtlich sein, aber uns beiden ist vollkommen klar, dass die Einladung keine Begleitpersonen beinhaltet.
»Und du natürlich auch, Nell«, fügt sie mit einem bemühten Lächeln hinzu.
»Klingt gut!«, erwidere ich.
Natürlich ist das gelogen. Ich kann mir nicht vorstellen, was daran auch nur im Ansatz Spaß machen könnte, mich im Bikini neben jemand so Perfektem wie Annabel zu zeigen, aber ich weiß, wie viel es Fiona bedeutet, dass wir uns gut verstehen.
»Da seht ihr es! Ich wusste doch, dass aus euch gute Freundinnen werden!«, sagt Fiona, während Annabel und ich uns vernichtende Blicke zuwerfen. Fiona schlingt die Arme um uns und zieht uns beide dicht an sich heran.
Wofür ich dankbar bin:
- In einem Alter zu sein, in dem es mir nichts mehr ausmacht, genauso auszusehen wie das, was die Müllabfuhr dienstags abholt.
- Nicht meine Fassung verloren und Annabel gesagt zu haben, sie könne mitsamt ihrem Swimmingpool dahin verschwinden, wo der Pfeffer wächst.
- Meinem Patenkind dafür, dass
- sie mich zum Lachen bringt, wenn ich sie – »höher, Tante, Nell, noch höher« – auf der Schaukel anschubse, was mich in Angst und Schrecken versetzt, ihr aber derart Freude macht, dass sie ein Hyänenlachen von sich gibt, während sie mit rasanter Geschwindigkeit auf den Asphalt zurast.
- sie mir zeigt, dass ich vermutlich am besten genauso
mit dieser Angst einflößenden Mitte-des-Lebens-Sache umgehen sollte. Lachen wie eine Hyäne, während ich partner-, geld- und kinderlos auf einen einteiligen Badeanzug und Hitzewellen zusteuere, den Wind in den bald ergrauenden Haaren, während die Zeit immer schneller abläuft, bevor ich auf dem Asphalt, auch bekannt als zu spät
[3]
, aufschlage.