Begleitung
Eigentlich hat Liza ja recht – ich sollte mich mehr bemühen auszugehen –, also habe ich vor ein paar Tagen die Sache in die Hand genommen.
»Ein Konzert?« Fiona wich hinter ihrer Kücheninsel zurück, als ich sie mit den Neuigkeiten überraschte.
»Ja, ein Achtzigerjahre-Revival.«
Als Jugendliche waren Fiona und ich Fans der Achtzigerjahre-Bands. Aber wir entdeckten diese gemeinsame Liebe erst, als wir beide zu einer Kostümparty für Erstsemester mit toupierten Haaren, Halstüchern und Latzhosen erschienen. Sie ging als Siobhan von Bananarama und ich als Kevin von den Dexys Midnight Runners. Als ich Wind davon bekam, dass sich ganz viele unserer damaligen Lieblingskünstler zu einer Erinnerungstour zusammengefunden hatten, war ich furchtbar aufgeregt.
»Wann ist es denn?«
»Diesen Samstag. Und weißt du was? Ich habe uns zwei Karten ergattert!«
Das würde die geschenkten Bücher und Kerzen der letzten Jahre ausgleichen. Fiona liebt diese Bands. Ein paar der größten Stars von damals sind dabei. Sie würde ausflippen vor Freude.
Stille. Plötzlich zweifelte ich an meinem Impulskauf. Ich hätte vorher fragen sollen.
»Oh, Nell, ich hätte wirklich Lust. Aber an dem Abend habe ich schon etwas vor. «
»Sogar, wenn Robert De Niro wartet?« Ich versuchte, einen Witz zu machen, um meine Enttäuschung zu überspielen.
»Es tut mir wirklich leid, aber ich gehe ins Savoy
»Oh, wow, nicht schlecht!«
»Nicht wahr?«, stimmte sie mir zu. »Samstag findet dort diese Wohltätigkeitsveranstaltung statt, von der ich dir erzählt hatte, Annabel hat sie organisiert.«
Meine Begeisterung zerplatzte plötzlich wie ein Ballon.
»Annabel?«
»Ja, das Unternehmen ihres Mannes hat dort einen Tisch gebucht, aber er ist jetzt doch auf Dienstreise, und deshalb hat sie mich gefragt, ob ich nicht ihre Begleitung an dem Abend sein möchte …«
»Okay, natürlich, ich verstehe.«
»Es tut mir leid.«
»Ach, mach dir keine Sorgen. War ja auch wirklich ziemlich kurzfristig. Ich dachte nur …« Ich verstummte. Kam mir plötzlich vor wie die größte Idiotin. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Dass wir uns Latzhosen anziehen und uns die Haare toupieren würden wie mit achtzehn? Fiona konnte doch nicht einfach so zu einem Konzert mit ihrer verzweifelten alten Idiotenfreundin gehen. Sie hatte schließlich eine schicke Wohltätigkeitsveranstaltung im Savoy zu besuchen. Mit Annabel.
»Wie sieht es denn mit Holly aus?«, schlug Fiona vor.
»Mag sie Musik aus den Achtzigern?«
»Mag die nicht jeder?«
»Mach dir keinen Kopf. Ich finde sicher jemanden, der ein kostenloses Ticket möchte.«
Von wegen. Alle meine Freunde hatten schon Pläne oder konnten keinen Babysitter bekommen. Ich dachte tatsächlich darüber nach, allein hinzugehen. Als ich noch in New York lebte, hatte ich gern allein Vormittagsvorstellungen im Kino besucht. Aber allein auf ein Konzert zu gehen und einige der besten Lieder meiner Jugend vor mich hin zu schmettern kam mir irgendwie anders vor, also entschied ich mich, die Karten weiterzuverkaufen und zu akzeptieren, dass ich vermutlich um die hundert Pfund dabei verlieren würde.
Dann kam mir eine Idee.
»Ich war schon seit Jahren nicht mehr auf einem Popkonzert!«
Cricket sieht mich auf dem Weg in die Veranstaltungshalle aufgeregt an.
»Hoffentlich gefällt dir die Musik.«
»Ja, das tut sie! Ich habe mir im Uber schon Now that’s what I call the 80s heruntergeladen und auf dem Weg hierher ein paar Lieder anstelle meines Podcasts gehört.«
»Nicht schlecht!«, sage ich beeindruckt.
Ich hatte Cricket erst ganz kurzfristig eingeladen. Ein paar Stunden bevor das Konzert beginnen sollte, ich wollte die Karten gerade auf eBay weiterverkaufen, als ich daran denken musste, wie sie erzählt hatte, dass sie niemanden mehr hätte, um etwas zu unternehmen, seitdem alle ihre Freundinnen gestorben waren. Also schickte ich ihr aus einem Impuls heraus eine E-Mail. Sie antwortete sofort, dass sie sich freuen würde, mich zu begleiten, dann setzte sie sich in ein Taxi, um mich zu treffen.
»Das Lied über Wien hat mir besonders gefallen. Monty und ich sind so gern dort in die Oper gegangen …«
Am liebsten würde ich ihr jetzt jede Menge Fragen stellen, aber sie steht schon an der Bar, um uns Getränke zu holen, danach gehen wir zu unseren Plätzen. Meine Sorge, ob Cricket die ganzen Stufen bewältigen würde, war natürlich völlig unbegründet. Sie läuft mit großen Schritten die Treppen hinauf. Am besten ist jedoch, dass sie noch immer ihre Latzhose mit Farbspritzern trägt, als hätte sie meine E-Mail mitten beim Anstreichen bekommen und nicht die Zeit gehabt, sich umzuziehen. Sie könnte nicht passender gekleidet sein.
»Oh, Mann, ist das ein Spaß! «
»Ja«, erwidere ich und beeile mich, mit ihr Schritt zu halten. Definitiv mehr Spaß, als ich in letzter Zeit hatte. Ich schaue mich im Publikum um, das vor Erwartung brodelt. Eine Mischung aus Jung und Alt, aber Cricket ist mit Abstand die Älteste, was ihr allerdings überhaupt nichts auszumachen scheint. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, ob sie es überhaupt bemerkt hat.
»Warst du mit deinem Partner oft auf Konzerten?«
»Nein, Ethan mochte keine Livemusik«, sage ich und stelle dabei fest, dass ich zum ersten Mal seinen Namen ausspreche. »Er fand den Klang auf Konzerten immer so schlecht und wollte die Alben deshalb lieber zu Hause hören.«
»Und das allein ist Grund genug, ihn nicht zu heiraten, Liebes.« Sie lächelt, und trotz des Schmerzes, der mich durchzuckt, erwidere ich ihr Lächeln.
»Wir waren in vielen Dingen unterschiedlich«, gebe ich zu.
»Unterschiede können eine Ehe zusammenhalten oder zerbrechen lassen. Häufig sind die Unterschiede, die man zu Beginn so sehr liebt, der Grund dafür, warum man denjenigen fünf Jahre später kaum noch ertragen kann.«
Ich muss lachen. Zum ersten Mal kann ich tatsächlich darüber lachen.
Ungeduldig trommelt sie mit den Fingern auf ihren Knien. »Wann geht es denn endlich los?«
»Keine Ahnung, bestimmt bald.«
»Oh, ist das schön …« Ihre Augen weiten sich, und sie nimmt ihr Telefon heraus und beginnt, Fotos zu machen, dann lehnt sie sich zu mir herüber. »Wie wäre es mit einem schnellen Selfie von uns?«
»Einem Selfie? «
»Ja, wenn man ein Foto von sich selbst macht, so etwa«, erklärt sie unschuldig und bringt das Telefon vor uns in Position. »Bitte lächeln!«
Am Ende knipsen wir eine ganze Reihe Selfies, während wir darauf warten, dass das Konzert endlich beginnt, und unterhalten uns dabei über Gott und die Welt. Sie erzählt Geschichten über Monty und davon, wie die beiden Karten angeboten bekamen, um sich eine neue Band anzusehen, sich jedoch dann fürs Kino entschieden, da sie noch nie zuvor von ihr gehört hatten – »Und dann waren es die Beatles, kaum zu glauben, oder?« –, über ihren neuen Podcast, den sie gerade hört – »am liebsten höre ich True Crime« –, bis hin zu einer Ausstellung im Victoria and Albert Museum  – »Ich weiß nicht, ob du dich dafür interessierst, aber ich bin Mitglied und kann eine Begleitperson kostenfrei mitnehmen …«
Es ist richtig erfrischend. So sehr ich meine Freundinnen auch mag, ihre Gespräche über Kinder, Ehemänner und Einrichtungsfragen haben nichts mit mir zu tun. An meinem Geburtstagsmittagessen ging es um Einzugsbereiche für Schulen, das war wie eine Art schwarzes Loch, in dem alle verschwanden, bis uns der Kellner mit geriebenem Parmesan und einem überdimensionierten Pfefferstreuer erlöste.
Dann werden die Lichter gedimmt, Scheinwerfer blitzen, plötzlich steht eine meiner Lieblingsbands auf der Bühne, es wird gesungen und getanzt, und sofort steht Cricket auf. Ein paar Leute hinter ihr fordern sie auf, sich wieder zu setzen, aber sie antwortet höflich: »Wenn ich mich jetzt hinsetze, stehe ich vielleicht nie wieder auf«, und bewegt sich begeistert weiter im Takt.
Richtig so. Mit über achtzig hat sie es sich verdient, auf einem Konzert zu tanzen.
Ich hingegen bin nicht mutig genug und bleibe auf meinem Stuhl sitzen, ich fühle mich wie festgenagelt durch die laserähnlichen Blicke in meinem Rücken. Jetzt mal ehrlich, wie kann man zu einem Konzert gehen und nicht tanzen wollen? Ich muss an mein jugendliches Fan-Ich denken, das Poster an den Wänden hängen hatte und sich die Haare toupierte. Was würde es von mir halten, wenn es mich so hier sitzen sehen würde ?
Das gibt den Ausschlag. Scheiß drauf!
Als sie zu einem ihrer größten Hits ansetzen, nehme ich mir Cricket zum Beispiel und springe auf. Mit über vierzig habe ich es auch verdient zu tanzen.
Wofür ich dankbar bin:
  1. Einen fantastischen Abend.
  2. Crickets Unversehrtheit, nachdem sie beim Tanzen den Halt verlor und ihren Rotwein über die mies gelaunte Frau hinter uns kippte, was selbstverständlich nur ein blödes Missgeschick war und sicher nicht mit Absicht geschah – keine Ahnung, was die Frau meinte.
  3. Kevin, den Uber-Fahrer, der mich nach Hause brachte, als ich mir – ich fühlte mich zwar wieder wie achtzehn, musste mir jedoch eingestehen, dass ich keine achtzehn mehr war – beim Tanzen den Rücken verknackst hatte.
  4. Die Achtzigerjahre.