Großer kleiner Bruder
Morgen ist Muttertag, also schreibe ich meinem kleinen Bruder Rich, um ihn daran zu erinnern, dass er unsere Mutter anruft. Stattdessen ruft er mich an.
»Oh, Mist, das habe ich ja ganz vergessen.«
»Ich weiß.«
»Woher?«, fragt er anklagend.
»Weil du es jedes Jahr vergisst.«
»Hast du ihr eine Karte geschickt?«
»Ja.«
Er stöhnt.
»Und ein paar Blumen«, füge ich hinzu, ich kann nicht anders.
Ich halte das Telefon weiter von meinem Ohr weg, da er jetzt noch lauter stöhnt. Jedes Jahr dasselbe. Selbst als ich in Amerika gelebt habe und mich mit der unfähigen Post herumschlagen und den Blumenladen im Ort meiner Eltern wegen der Zeitverschiebung im Morgengrauen anrufen musste, jedes Jahr sende ich eine Karte und Blumen. Und jedes Jahr »vergisst« er es bequemerweise.
»Hast du gesagt, dass sie auch von mir sind?«, winselt er, obwohl er ganz genau weiß, dass ich auch immer seinen Namen mit auf das Kärtchen schreiben lasse, das mit den Blumen geliefert wird. Mum zuliebe, nicht ihm.
»Schwesterherz?«, fragt er besorgt, als ich nicht sofort antworte
.
Ich spiele mit dem Gedanken, ihn dieses Mal schmoren zu lassen, dann gebe ich nach. »Natürlich.«
»Ich wusste es«, sagt er freudig, und ich spüre förmlich, wie er ins Telefon grinst. »Kommst du eigentlich Ostern auch?«
Mein Herz zieht sich zusammen. Ostern. Der nächste Anlass, den alle mit ihren besseren Hälften und Kindern feiern, während ich nach Hause zu meinen Eltern fahre und allein in meinem alten Kinderzimmer übernachte.
»Weiß ich noch nicht, du schon?«
»Ja. Ich bringe Nathalie mit.«
»Wer ist Nathalie?«
»Meine Freundin!« Er klingt beleidigt.
»Hieß die nicht Rachel?«
»Wir haben uns getrennt. Sie war verrückt.«
»Warum sagen Männer eigentlich immer, ihre Exfreundinnen wären verrückt gewesen?«
»Vielleicht, weil es stimmt?«
»Heißt das also, dass auch Ethan mich verrückt nennen wird?«
»Vollkommen durchgedreht«, witzelt er, dann wird er sich bewusst, dass ich das vielleicht nicht so lustig finden könnte. »Nell, es tut mir leid … Die Sache mit Ethan tut mir leid. Mum hat mir erzählt, dass die Hochzeit abgesagt ist.«
»Sie kann es kaum erwarten, die Einzelheiten zu erfahren.«
»Ich weiß, das bringt sie noch um«, antwortet er, und ich bin mir sicher, dass er dabei lächelt. Zumindest in Bezug auf unsere Eltern sind wir immer einer Meinung.
»Aber er war schon eine komische Type.«
»Ich dachte, du magst ihn?«, erwidere ich entrüstet.
»Das musste ich doch sagen, oder? Du wolltest ihn schließlich heiraten.«
»Du hast gesagt, er sei lustig.«
»Das stimmt auch, aber lustig ist nicht dasselbe wie nett, oder?
«
Ich verstumme, denke an Ethan, der nach außen hin immer so charmant und lustig war, aber nur ich habe den Menschen dahinter kennengelernt.
»Vielleicht hast du recht«, stimme ich ihm vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben zu.
»Oje, ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«, sagt er lachend, und ich lache mit, auch wenn ich mir da selbst nicht mehr so sicher bin.