Muttertag
Das Leben ist ein Hindernisparcours. Sobald man ein Hindernis hinter sich gebracht hat, wartet schon das nächste, und in letzter Zeit nimmt es häufig die Form eines weiteren Grußkarten-Anlasses an, um mich daran zu erinnern, was ich alles nicht habe.
Letzten Monat Valentinstag, diesen Monat der britische Muttertag, und immer, wenn ich aufwache, sind meine gesamten Social-Media-Kanäle überschwemmt mit Fotos von Blumensträußen, Frühstück-im-Bett-Tabletts und süßen, selbst gebastelten Karten mit Glitzerkleber, das ist natürlich alles toll, aber ich fühle mich dadurch noch ausgeschlossener und wertloser.
Auch wenn ich den leisen Verdacht hege, dass der Glitzerkleber über die ganzen Sofas verteilt ist und jede Menge panischer Dads sich gerade fragen, wie sie wohl die Kinder unterhalten sollen, damit Mummy ihr wohlverdientes Ausschlafen genießen kann.
Um mich aufzuheitern, rufe ich meine eigene Mutter an, die von ihrem Blumenstrauß begeistert ist. »Wie ich auch Richard schon gesagt habe, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen«, flötet sie gut gelaunt ins Telefon, und ich versuche, gegen das wohlbekannte, unschöne Gefühl des Neids anzukämpfen, dass mein Bruder mir zuvorgekommen ist und das gesamte Lob kassiert hat. Das ist kein Wettbewerb, versuche ich mich selbst zu beschwichtigen.
»Hast du meine Karte bekommen?
«
»Nein, wann hast du sie denn losgeschickt?«
»Letzte Woche. Wie ärgerlich. Sie muss in der Post verloren gegangen sein.«
»Na ja, da kann man nichts machen«, beruhigt sie mich, bevor sie hinzufügt: »Die von Richard ist angekommen.«
»Von Richard?«
»Ja, er hat mir eine dieser computeranimierten Karten online gesendet. Das war wirklich geschickt und, wie er sagte, auch noch viel besser für die Umwelt, weniger Müll.«
Ich werde meinen kleinen Bruder umbringen.
»Kommst du denn eigentlich über Ostern, oder hast du zu viel Arbeit?«
Ich fühle mich schuldig. Bisher war ich noch gar nicht bei meinen Eltern. Ich habe mir jede Menge Ausreden einfallen lassen, um nicht hinfahren zu müssen. Nicht, weil ich sie nicht leiden könnte, nein, ich wollte mich nur nicht dem Schwall an besorgten Fragen aussetzen, der mich nur aufregen und gleichzeitig zum Weinen bringen würde.
»Tja, das ist so eine Sache …«, fange ich an.
»Ich wollte nur mal nachhaken, da wir jede Menge Anfragen auf Airbnb haben.«
Mein Schuldgefühl verfliegt sofort: »Du willst mein Zimmer vermieten?« Und ich dachte, sie wollte gerne ihre Tochter sehen.
»Na ja, Ostern ist eine unserer gefragtesten Zeiten«, antwortet sie, dann erzählt sie mir von dem netten, älteren Ehepaar aus Zürich, mit dem sie sich per E-Mail geradezu angefreundet hat. »… und als ich erwähnt habe, wie sehr ich Andrea Bocelli bewundere, hat sie geantwortet, er wäre im September in Zürich und sie hätten noch zwei Karten übrig!«
Mums Stimme klingt vor Aufregung ganz erstickt.
»Also habe ich gedacht, falls du nicht kommst …«
»Natürlich komme ich«, unterbreche ich sie, bevor mein Zimmer ausgebucht ist.
»Großartig!«, ruft sie begeistert, aber mir kommt es vor, als
würde sich ein kleiner Anflug von Enttäuschung hineinmischen. Mum ist schon seit Jahren hin und weg von Andrea Bocelli. »Schön, endlich mal wieder die ganze Familie hier zu haben. Es ist schon eine Ewigkeit her.«
Es war letzten Sommer. Ethan und ich waren extra eingeflogen, um Mums siebzigsten Geburtstag zu feiern. Richard und ich hatten eine Überraschungsparty für sie organisiert. Na ja, ich habe die Party geplant und Richard das Craft Beer gestellt. Familie und Freunde kamen, und ich trug ein neues Kleid und verbrachte den Abend damit, stolz Ethan und meinen Verlobungsring vorzuführen und so auch die Gerüchte über meine sexuellen Neigungen einiger älterer Verwandter zu entkräften (»Sie lebt immerhin in Amerika, musst du wissen …«).
Wir hatten einen DJ
angeheuert, der die Lieblingslieder meiner Mutter rauf und runter spielte. Ich weiß noch genau, wie ich Ethan einen Augenblick stehen ließ, um auf die Toilette zu gehen, und meine Eltern zu den The Four Seasons mit Frankie Valli tanzten, als ich wiederkam. Dad konnte den gesamten Text von Can’t take my eyes of you
auswendig, und Mum lachte und wurde rot dabei. Ich weiß noch, wie ich ihnen zusah und stolz darauf war, was sie alles gemeinsam geschaffen hatten – sogar auf meinen bescheuerten kleinen Bruder, der zu viel von seinem eigenen Bier getrunken hatte und in die Rosenbüsche kippte –, und wünschte mir das auch für mich.
Aber als ich zu Ethan am anderen Ende des Raums hinübersah, spürte ich irgendwo ganz tief in mir, dass wir das niemals erreichen würden.
Sechs Monate später zog ich aus.
Ich quatsche noch einen Augenblick mit Mum, bevor wir uns verabschieden. Kurz darauf schickt sie mir ein Foto von dem Blumenstrauß. Er ist wirklich schön. Wie auch die anderen Muttertagssträuße, Karten und Geschenke, von denen meine Freunde Fotos posten. Das führt allerdings nur dazu, dass ich mich frage, wo mein Platz in dem Ganzen ist
.
Wenn ich schon nicht zum Club der Mütter gehöre, wo könnte ich sonst Mitglied sein?
»Du musst deinen eigenen Club gründen«, schlägt mir Cricket gut gelaunt vor und hält die Krempe ihres lilafarbenen Filzhuts fest, während wir um die Ecke biegen und fast von einem heftigen Windstoß aus östlicher Richtung weggepeitscht werden. »Ich werde dein erstes Mitglied.«
Es ist schon spät am Nachmittag, und wir laufen die Einkaufsstraße entlang, zwischen uns eine bis zum Rand mit Büchern gefüllte blaue IKEA
-Tasche. Ich hatte Cricket nach dem Telefonat mit meiner Mutter angerufen. Ich wusste, dass sie im Gegensatz zu meinen anderen Freundinnen nicht damit beschäftigt sein würde, den Tag mit ihrem Ehemann und den Kindern zu verbringen, und da ihre eigene Mutter vor ein paar Jahren gestorben war, dachte ich, dass heute sicher auch kein leichter Tag für sie sein würde.
Sie freute sich sehr, von mir zu hören, nicht wegen der Bedeutung des Tages, sondern weil sie entdeckt hatte, dass Monty »ein paar« seiner Bibliotheksbücher nie zurückgegeben hatte, und nun Hilfe gebrauchen konnte, um das nachzuholen. Die meisten Bibliotheken hatten sonntags geschlossen, diese hier jedoch nicht.
»Sind wir bald da?«, frage ich und fasse noch einmal um, da mir der Tragegriff in die Handfläche schneidet. Im Gegensatz zu Cricket habe ich keine gefütterten Lederhandschuhe an – »ein Geschenk von Harrods«.
»Es ist nicht mehr weit.«
»Das Ding wiegt eine Tonne!« Ich werfe Cricket einen Blick zu. Sie ist vielleicht doppelt so alt wie ich, aber sie verfügt über diese altmodische Art von Durchhaltevermögen, das man sich nicht im Fitnessstudio antrainieren kann, sondern das von der alten Schule des Sich-nicht-Beschwerens und Niemals-Aufgebens kommt
.
»Da sind wir schon!« Sie hält vor einem viktorianischen Gebäude aus rotem Backstein. Stufen führen zum Eingang hinauf, und wir stellen die Tasche auf dem Boden ab, um zu Atem zu kommen.
»Unter ›ein paar‹ Bücher hatte ich mir, ehrlich gesagt, etwas anderes vorgestellt.« Ich seufze erleichtert und bewege dankbar meine Finger.
»Tja, das ist es ja eben. Monty hat zeit seines Lebens nicht so richtig verstanden, dass man ein Buch auch zurückgeben muss, wenn man es ausleiht.«
»Was du nicht sagst.« Ich werfe einen Blick in die Tasche, in der sich genügend Bücher befinden, um ein komplettes Regal zu füllen. »Die meisten davon sind gebundene Bücher«, fällt mir dabei auf.
»Er war kein Taschenbuchleser. Er betonte immer, wie sehr er das Gefühl eines gebundenen Buches in seiner Hand mochte.«
»Verständlich«, stimme ich zu, bücke mich und nehme eins der Bücher aus der Tasche. Es fühlt sich wertig an, aber nicht im finanziellen Sinne gemeint. »Ich benutze meist einen Kindle, aber das ist nicht dasselbe. Ich vermisse meine Bücher. Die meisten davon sind in Amerika geblieben … es war einfach zu teuer, sie alle zu verschiffen.« Mit dem Daumen fahre ich die Seitenkanten entlang. »Ich habe viel in Amerika zurückgelassen«, füge ich hinzu.
Cricket sieht mich mitfühlend an, und ich bemühe mich zu lächeln. Sie hat eigentlich mehr Gründe, traurig zu sein, als ich. Wenn sie es schafft, fröhlich zu sein, muss mir das doch auch gelingen.
»Weißt du was? Monty hat mich bei unserer ersten Verabredung hierhergebracht«, sagt sie dann und sieht an dem Gebäude hinauf.
»Was? In die Bibliothek?«
»Er sagte, ich müsste seine erste Liebe kennenlernen; er wollte mir wohl zeigen, wogegen ich ankommen musste.
«
Ich richte mich auf, höre ihr gut zu. »Aber nicht etwa deine Freundin Cissy, oder?«
Cricket sieht amüsiert aus. »Glaub mir, ich war auch sehr gespannt. Ich weiß noch genau, wie er mich an die Hand nahm und mit mir die Treppen hinaufstieg, und ich dachte die ganze Zeit, was um Himmels willen …? Als wir schließlich in der zweiten Etage ankamen, zog er mich in eine der entlegensten Ecken, direkt neben einer Reihe von Bogenfenstern, und zeigte mir seine heiß geliebte Shakespeare-Sammlung. Ein ganzes Regal mit seinen Werken …«
Sie hält inne, wird von ihrer Erinnerung überwältigt.
»Seitdem er ein kleiner Junge war, kam er hierher, da sich seine Eltern Bücher nicht leisten konnten. Schon damals hatte er den Traum, einmal ein berühmter Theaterautor zu werden.«
Wir blicken gemeinsam an der prachtvollen Fassade hinauf. Ich frage mich, wie viele andere Menschen wohl über die Jahre durch diese Tür gegangen sind. Wie viele andere Geschichten hier begonnen haben.
Plötzlich fällt mein Blick auf eine Mitteilung, die vor der Bibliothek aufgestellt wurde. Ich gehe einen Schritt darauf zu und runzle nachdenklich die Stirn. »Hast du das gelesen?«
Sie blinzelt und schüttelt den Kopf. »Ich habe meine Lesebrille nicht auf. Was steht denn da?«
»Dass die Bibliothek schließen wird … Irgendetwas über ein Sanierungskonzept.«
Cricket wirkt sichtlich enttäuscht. »Also geschieht es nun doch … Es gab schon länger das Gerücht, die Bibliothek müsse Luxuswohnungen weichen. Monty hat sich darüber sehr aufgeregt. Er sagte, eine Gemeinschaft braucht eine Bibliothek, und niemand kann etwas mit Wohnungen anfangen, die sich eh keiner leisten kann.«
»Kann man denn gar nichts dagegen unternehmen?«
»Es gab eine Petition zum Erhalt der Bibliothek, aber die Gemeindeverwaltung hat Einsparungen angekündigt.
«
Ich drücke ihren Arm durch den dicken Wintermantel, einen Moment lang schweigen wir.
»Okay, sollen wir dann diese Bücher hier zurückbringen?«, frage ich nach einer kurzen Pause.
»Mein Scheckheft ist hier drin.« Sie tätschelt reuevoll lächelnd ihre Handtasche.
Jede von uns greift nach einem der Griffe, und wir hieven die Tasche gemeinsam die Treppen hinauf. »Uff! Als hätten wir eine Leiche im Gepäck«, rufe ich laut.
O nein – habe ich das gerade wirklich gesagt …
Ich sehe Cricket entsetzt an. Sie sieht mich an. Dann müssen wir beide lachen.
Die Bibliothekarin lässt Cricket mit einer Verwarnung davonkommen und wünscht ihr herzliches Beileid: Alle hier mochten Monty sehr, und er wird vermisst. Sie zeigt auf den Platz, an dem er immer saß, dort hinten an dem Tisch in der Ecke.
»Es ist nicht dasselbe ohne ihn«, sagt sie.
»Ja, das stimmt«, erwidert Cricket.
Ich halte mich im Hintergrund, möchte kein Eindringling sein und tue so, als würde ich mich für ein Buch über Technik interessieren. Ein junger Mann mit Kopfhörern und einem Laptop sitzt an Montys Platz, ohne zu wissen, dass seine Witwe ihn von der anderen Seite des Raums aus betrachtet. Das Leben geht weiter. Es muss. Und trotzdem …
Und trotzdem fragt man sich, wie die Welt sich einfach weiterdrehen kann, als sei nichts gewesen, ohne dass die geliebte Person noch Teil derselben ist? Die Zeit läuft weiter, und wir entfernen uns mehr und mehr von dem Augenblick, an dem wir sie zuletzt gesehen haben. Sie wird zur Vergangenheit, während man selbst auf die Zukunft zusteuert. Die Distanz wird immer größer, die Stimmen verblassen, und die Erinnerungen verschwimmen.
»Ich nehme seit Neuestem an einem Zeichenkurs teil. Hast du Lust mitzukommen?
«
Ihre Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Denke ich noch an Monty oder doch an Ethan?
»Danke, aber ich kann nicht zeichnen.«
»So ein Quatsch. Jeder kann zeichnen.«
Wir wenden uns zum Gehen und laufen die Treppen zum Ausgang hinunter.
»Nein, ich meine das ernst. Das geht wirklich nicht.«
»Hat dir denn keiner den Satz ›Geht nicht, gibt’s nicht‹ beigebracht?«
Ich habe es so gehasst, wenn Lehrer solche Sprüche klopften, also setze ich zum Protest an – überlege es mir dann aber doch anders. Was habe ich schon zu verlieren?
Als wir im Erdgeschoss ankommen, drücke ich die Tür auf, und wir treten auf die Straße hinaus. »Okay, aber ich kann nicht so lange. Ich muss rechtzeitig nach Hause, um Artus zu füttern.«
Regel Nummer eins: Sich immer ein Hintertürchen offen halten.
Cricket bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »Danke!«
»Bisher hast du noch nicht meine künstlerischen Fähigkeiten kennengelernt«, sage ich und lächle.
»Ich rede gar nicht von dem Kurs. Sondern von dort oben, in der Bibliothek.« Sie dreht sich zu dem Gebäude hinter uns um. »Es war schlimmer, als ich gedacht hätte. Deine Anwesenheit dort hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin.«
»Ach, das war doch nicht der Rede wert.«
»Und ob, es hat mir viel bedeutet.«
Dann dreht sie sich wieder zu mir und schüttelt den Kopf. »Ich meinte das nicht ganz ernst, als ich sagte, du solltest deinen eigenen Club gründen. Aber eigentlich liegt eine Menge Wahres darin … Weißt du, in meiner Kindheit und Jugend war ich immer eine Außenseiterin. Ich wurde sehr konservativ erzogen, aber ich reagierte allergisch auf Angepasstheit. Meine Eltern schickten mich auf eine katholische Schule, aber ich fühlte mi
ch dort nie zugehörig. Ich glaubte nicht an Gott, besonders nicht an ihren. Ich hatte Freunde, aber irgendwie passte ich nie richtig dazu …«
Sie hält inne, denkt nach.
»Dann entdeckte ich zufällig das Theater für mich und bemerkte, dass ich nicht allein war. Dass es auf der Welt Menschen gab, die genauso ticken wie ich. Seltsame, komische, wunderbare Menschen. Menschen, die mich inspirierten und herausforderten. Menschen, die mich verstanden … Und weißt du, was das Beste daran war?«
Ich nicke, höre ihr wie gebannt zu.
»Ich habe endlich auch mich selbst gefunden … und dabei eine andere Art von Glauben entdeckt … Wenn du verstehst, was ich meine?«
Ich sehe Cricket an, sie ist fast doppelt so alt wie ich, aber ich verspüre plötzlich ein Gefühl tiefer Verbundenheit. »Ja, ich weiß genau, was du meinst.«
Sie lächelt, ihr Gesicht wirkt durch die tiefen Lachfältchen um ihre Augen herum ganz lebendig.
»Was ich damit sagen will, Nell … Du musst dir deine eigenen Leute suchen.«
Wofür ich dankbar bin:
- Die beste Mutter der Welt, die mir so viel geopfert hat; nicht nur kostenlose Andrea Bocelli-Karten.
- Eine über achtzigjährige Witwe, die mir gezeigt hat, dass man Menschen, die zu einem passen, an Orten finden kann, an denen man es am wenigsten erwartet hätte.
- Den heutigen Tag zu überstehen.