Der Regenmantel
Auf das Timing kommt es an. Es fängt schon mit der Entstehung des Lebens an, die davon abhängt, ob die Eizelle genau zum richtigen Zeitpunkt abgestoßen wird, um befruchtet zu werden. Auch in der Liebe ist Timing alles. Man kann die richtige Person zur falschen Zeit treffen oder auch andersherum. Sogar beim Tod spielt das Timing eine große Rolle.
Als mich also Cricket am Wochenende anruft und mir mitteilt: »Ich bin jetzt bereit, Montys Kleidung auszumisten«, lasse ich alles stehen und liegen und fahre zu ihr.
Das Timing ist nämlich nicht nur für den Sterbenden wichtig, sondern auch für die Hinterbliebenen.
Cricket begrüßt mich an der Tür, aber anstatt mir wie sonst energisch die Hand zu schütteln, umarmt sie mich vollkommen unerwartet, dann führt sie mich über die imposante Treppe mit ihrem Metallgeländer und dem ausgeblichenen Teppich in den ersten Stock.
»Die Zeit ist reif«, sagt sie, drückt eine Tür auf und geht ins Schlafzimmer. »Und ich brauche deine Hilfe.«
Monatelang hatte sie sich nicht getraut. Wenn jemand vorsichtig das Thema anschnitt, hatte sie entschieden widersprochen. Wozu die Eile? Mir hatte sie allerdings gestanden, dass sie beim Anblick seiner Hemden im Schrank oder seines Mantels an der Garderobe ein wohliges Gefühl verspürte. »Ich bin noch nicht so weit«, war ihre Standardantwort auf meine Hilfsangebote. »Ich mag es, wenn er um mich herum ist.
«
»Bist du dir wirklich sicher?« Ich bleibe im Türrahmen stehen.
»Und wie«, sagt sie und nickt. »Ich bin heute Morgen aufgewacht und wusste es einfach. Ich vermisse Monty wirklich sehr, aber seine Kleidung aufzubewahren wird ihn mir nicht zurückbringen.«
Sie öffnet den großen Schrank in einer Ecke des Zimmers. Er ist zum Bersten gefüllt mit Hemden und Jacken in allen Farben des Regenbogens, die sich dicht aneinanderdrängen.
»Monty war nicht besonders ordentlich, er konnte sich nicht gut von alten Sachen trennen.«
Ich trete ins Zimmer, und wir starren gemeinsam den Schrankinhalt an, sind beide etwas überfordert von der Aufgabe, die vor uns liegt. Hemden, drei auf jedem der Kleiderbügel aus Mahagoniholz, ausgebeulte Schultern und leere Kleiderbügel, an denen immer noch die Etiketten der Reinigung hängen.
»Was soll ich machen?«
»Mir zuhören«, antwortet sie. »Niemand hört mir mehr zu. Alle sagen mir, was ich tun soll. Sie denken, dass sie sich um mich kümmern, aber es fühlt sich eher so an, als wollten sie mich ersticken.«
Das tue ich also. Ich setze mich auf die Bettkante und höre zu.
»Ich habe alles auf den Bügeln gelassen, weil es sich so angefühlt hat, als würde er wiederkommen. Seine Schranktür zu öffnen und seine Kleidungsstücke dort hängen zu sehen, sie anfassen und an ihnen riechen zu können ist, als wäre er noch da, als würde er jeden Augenblick hereinkommen und fragen ›Was soll ich anziehen?‹ oder ›Welche Krawatte passt zu dem blauen Anzug, Cricket?‹«
Sie macht eine Pause.
»Hört sich das lächerlich an?«
Ich schüttle den Kopf. »Als mein erster Freund aufs College gegangen ist, habe ich sein verschwitztes T-Shirt behalten. Ich
habe es nicht gewaschen und mir jede Nacht zum Schlafen auf mein Kopfkissen gelegt.«
»Na, das
ist jetzt aber wirklich lächerlich«, sagt sie, und wir beide grinsen uns an. »Du weißt ja, dass Monty beruflich viel unterwegs war. Er tourte oft mit seinen Stücken und kam wochenlang – nein, monatelang nicht nach Hause. Manchmal habe ich ihn begleitet. Am Anfang unserer Beziehung waren wir nur selten hier. Immer unterwegs, von einem Theater oder Veranstaltungsort zum nächsten, landauf, landab …«
Sie verstummt, ihre Aufmerksamkeit wird von einem Theaterposter gefangen genommen, das über dreißig Jahre alt ist. Es hängt an der Wand über einer Kommode.
»Damals habe ich mir das alles ziemlich glamourös vorgestellt, aber das war es in Wirklichkeit gar nicht. Das ist der Zauber des Theaters: Man sieht nicht, was hinter dem Vorhang passiert. Weder die zugigen Umkleiden und die Tankstellen auf den Autobahnen noch die Pensionen ohne heißes Wasser.« Sie schüttelt den Kopf. »Später war natürlich alles ganz anders. Monty hat immer gesagt, dass sein Erfolg und seine Preise nichts verändert hätten, außer dass er nun zu den Premieren nicht mehr weiter als bis ins West End fahren musste.«
»Ich hätte Monty wirklich gern kennengelernt.«
»Ja, er hätte dir sicher gut gefallen. Und du ihm auch.«
Sie dreht sich wieder dem Schrank zu und lässt die Finger über die Ärmel der Jacken wie über die Tasten eines Klaviers gleiten, aber den Klang nimmt nur sie wahr.
»Als er starb, kam es mir zuerst wieder so vor wie am Anfang unserer Beziehung. Als wäre er einfach mit einem seiner Stücke auf Tour und würde wiederkommen … Fast hätte ich mich selbst davon überzeugt … aber er kommt nie wieder, nicht wahr?«
Jetzt dreht sie sich zu mir um, und ich kann ihr Gesicht sehen. Sie wirkt traurig und versucht, tapfer zu sein.
»Nein, das wird er nicht«, erwidere ich sanft.
Sie nickt, ihr Körper spannt sich, und zum ersten Mal, seitdem
ich sie kennengelernt habe, füllen sich ihre Augen mit Tränen.
»Eins habe ich in dieser fürchterlichen Zeit gelernt: Trauer verläuft nicht linear. In einem Augenblick geht es einem gut, und plötzlich überkommt es einen wie aus dem Nichts. Besonders diese lächerlichen, kleinen Sachen sind es, die einen erinnern lassen … Erst gestern war ich im Supermarkt und stand auf einmal in der Reihe mit den Keksen, genau vor seiner Lieblingssorte. Monty mochte so gern Karamellwaffeln. Ich habe mir noch nie viel daraus gemacht, aber er konnte eine ganze Packung allein aufessen … da bin ich in Tränen ausgebrochen. Mir wurde klar, dass ich sie nie wieder für ihn kaufen würde.«
Während ich Cricket lausche, schäme ich mich plötzlich. Die ganze Zeit über habe ich ihre Stärke und ihre Beherrschung für Gefühlskälte und fehlende Verletzlichkeit gehalten. Sie war immer so beschäftigt und arbeitsam, dass ich angenommen hatte, sie käme gut zurecht. Sie wirkte so stark, dass ich wirklich dachte, sie wäre aus einem anderen, härteren Holz geschnitzt als der Rest von uns, und der Verlust würde sie nicht so mitnehmen.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wie sehr sie hinter der tapferen Fassade litt. Ihre stoische Ruhe kam mir vor wie aus einer anderen Zeit, in der man sich zusammenreißen, den Staub von der Schulter klopfen und einfach weitermachen musste, aber jetzt begreife ich, dass ihr Herz deshalb nicht weniger leidet. Sie kann es nur besser verstecken.
»Wegen einer Packung Kekse in Tränen ausbrechen. Mein Gott, was wohl die anderen im Supermarkt von mir gedacht haben?« Sie zieht scharf die Luft durch die Nase ein und strafft die Schultern. »Egal. Weiter geht’s.« Dann holt sie eine Handvoll Hemden aus dem Schrank und breitet sie auf dem Bett aus.
Die Sachen eines anderen auszumisten ist so, als würde man das Album seines Lebens betrachten. Jedes Kleidungsstück ist mit Erinnerungen und Geschichten verknüpft
.
Rote Seidenkrawatte
: »Die hat er einmal zum Weihnachtsball seines Clubs getragen. Smoking war der Dresscode, dazu musste Monty natürlich unbedingt eine rote Krawatte anziehen. So war er eben. Wenn man ihn bat, nach rechts abzubiegen, wandte er sich nach links.«
Pistazienfarbener Leinenanzug
: »Wir waren zum Filmfestival in Venedig. Auf dem Weg zu unserem Hotel haben wir uns in einer Nebenstraße verlaufen, dort hat er diesen Anzug in einem Schaufenster entdeckt und sich sofort in ihn verguckt. Er fand ihn so italienisch. Er wollte ihn auf dem Festival anziehen, aber das Kürzen hat zu lange gedauert. Danach sind wir noch nach Forte dei Marmi gefahren, und er hat darauf bestanden, ihn am Strand zu tragen. Er krempelte die Beine hoch, damit er im Wasser planschen konnte. Monty konnte nämlich nicht schwimmen. Er sagte immer: In seinen Gefühlen zu ertrinken reiche ihm völlig aus.«
Handgefertigte Budapester
: »Er hatte einen Schuhmacher im East End. Monty ist als Kind an Kinderlähmung erkrankt, dadurch wurden seine Füße in Mitleidenschaft gezogen. Bei seinem Schuhmacher konnten sie ›eine Seidentasche aus einem Schweineohr machen‹, davon war er überzeugt. Er war dort über fünfzig Jahre lang Kunde. Sie haben auch eine Form von seinem Fuß.«
Regenmantel
: »Er hat ihn in einem Café in Paris gefunden. Er war damals gerade Anfang zwanzig, das war lange bevor wir uns kennenlernten, aber ich erinnere mich daran, wie er mir die Geschichte erzählt hat. Jemand hatte den Mantel wohl über der Stuhllehne hängen lassen, und er fragte den Kellner, ob er ihn aufbewahren könne, falls der Besitzer zurückkäme. Aber da niemand kam, forderte er ihn schließlich zurück. Damals war er ihm noch ein bisschen zu groß, aber als armer Theaterautor war er natürlich begeistert davon, einen so tollen Mantel zu besitzen. Später wurde er ihm dann irgendwann zu klein, aber er brachte es einfach nicht übers Herz, ihn wegzugeben. Ich
glaube, er erinnerte ihn an seine Jugend. An diese regnerischen Tage in Paris in den Fünfzigerjahren, als er Gauloises rauchte, in Cafés in seine Notizbücher kritzelte und so tat, als wäre er Hemingway.«
Stunden später ist der Schrank leer.
»Hast du Müllsäcke? Ich kann die Sachen alle zu einem Charityshop bringen.«
»Nein, nicht in Müllsäcken.« Cricket schüttelt vehement den Kopf. »Dieser Anzug in Fischgrätmuster wurde von einem der besten Schneider in der Savile Row gefertigt und in der Wiener Oper getragen. Er darf unter keinen Umständen einen Müllsack von innen sehen, auch nicht für einen kurzen Transport. Das würde mir Monty niemals verzeihen.«
Also packen wir alles fein säuberlich in Koffer – vier große alte Koffer mit Ledergriffen und ohne Rollen – und zwei große Truhen aus seiner Zeit bei der Armee. Dann rufen wir ein Minicab, anstelle des sonst üblichen Ford Galaxy fährt ein riesiger schwarz glänzender Mercedes vor. »Keine Sorge, der Preis ist derselbe, ich hatte als Erster Zeit«, sagt der Fahrer und hilft mir dabei, alles in den großen Kofferraum und auf die hintere Sitzbank zu packen.
Ich gehe zu Cricket, um mich von ihr zu verabschieden. Was für ein langer, emotionaler Tag.
»Nur noch eine Kleinigkeit«, sagt sie, nachdem wir uns umarmt haben. »Kannst du sie zu einem Charityshop in einer anderen Gegend bringen? Ich weiß, dass das albern klingt, aber ich glaube, ich würde es nicht aushalten, Fremden in seinen Kleidungsstücken zu begegnen.«
»Natürlich. Es gibt mehrere in meiner Nachbarschaft. Die Koffer bringe ich ein anderes Mal zurück.«
»Das hat keine Eile.«
Der Fahrer öffnet mir die Beifahrertür, und ich setze mich ins Auto
.
»Du weißt, dass du heute etwas wirklich Großes vollbracht hast«, sage ich zu ihr. »Du warst echt tapfer, Monty wäre stolz auf dich.«
Cricket lächelt. »Er wäre sicher froh.« Sie reicht mir das letzte Gepäckstück, das ich auf meinen Knien balanciere, dann macht sie einen Schritt zurück, damit der Fahrer abfahren kann. »Selbst im Tod verreist er noch mit Stil, an seiner Seite eine attraktive Frau, die halb so alt ist wie er.«
Wofür ich dankbar bin:
- Zu lernen, dass Zuhören wichtiger sein kann als Reden.
- Das Privileg, den Nachmittag mit Monty zu verbringen.
- Timing – es hat mich und Cricket zusammengebracht, als wir uns gegenseitig am meisten brauchten.