Es ist kompliziert
Heute Abend habe ich die Nachrichten um 10
geguckt. Sie sollten in Schlechte Nachrichten um 10
umbenannt werden. Eine Schlagzeile schrecklicher als die nächste. Überall versinkt die Welt im Chaos. Es gibt so viel Leid. So viel Terror und Unrecht. Die Flüchtlingskrise, unsere Ozeane voller Plastik, Klimawandel, Tierquälerei, Schusswaffen- und Messerattacken … die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Aber es sind nicht nur die Schlagzeilen. Letztens habe ich Unser Blauer Planet II
von David Attenborough gesehen, und es fällt mir schwer, nicht zu verzweifeln.
Mich überkommen dabei die erwarteten Emotionen – Entsetzen, Angst, Trauer –, aber auch ein Gefühl der Scham, so geht es vermutlich jedem menschlichen Wesen. Nicht nur Scham darüber, wie wir die Bewohner unseres Planeten behandeln, sondern auch darüber, dass meine eigenen Probleme im Vergleich so unglaublich unwichtig sind.
Wie kann es sein, dass mich nachts DIE
ANGST
heimsucht, wenn ich doch sicher und warm in meinem Bett liege und andere Menschen weder etwas zu essen noch ein Dach über dem Kopf haben? Wie kann ich in den Spiegel schauen und beim Anblick meiner schlaffen Knie Trübsal blasen, wenn jüngere Frauen an Krebs sterben und es doch eigentlich ein echtes Privileg ist, altern zu können? Wie kann ich traurig sein, noch nicht den Partner für »glücklich und zufrieden bis ans Ende ihres Lebens« gefunden zu haben, während gleichzeitig Großteile unseres Planeten zerstört
werden? Und wie kommt es, dass ich mich um meine gescheiterte Karriere und mein gescheitertes Liebesleben sorge
, wenn es zeitgleich Trump und den Brexit gibt?
Kurz gesagt: Wie kann ich mich über mein Leben beschweren, wenn es mir doch im Vergleich zu vielen anderen so gut geht?
Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht.
Wirklich.
Mir sind diese schrecklichen Dinge alle bewusst, und trotzdem habe ich auch diese anderen Gefühle. Alles ist irgendwie ganz dicht aneinandergedrängt, wie so oft im Leben, das ein einziges Paradox ist. Über lange Strecken am Tag verliere ich die großen Probleme aus dem Blick. Wie die meisten anderen Leute auch konzentriere ich mich darauf, durch den Tag zu kommen und mich mit den kleinen Dingen auseinanderzusetzen, die mein Leben und das der Menschen um mich herum betreffen. Aber dann erfahre ich von irgendeiner tragischen Geschichte oder gucke Nachrichten und werde daran erinnert.
Ich sehe einen Vater bei einer Pressekonferenz, der weint, weil die Polizei die Leiche seiner verschwundenen Tochter gefunden hat, oder höre von dem Freund eines Freundes, bei dem irgendetwas Schreckliches diagnostiziert wurde, und dann schwöre ich, mich nie wieder zu beschweren.
Aber ich mache es dann natürlich doch. Wie alle anderen auch.
Ehe man sichs versieht, ärgert man sich über jemanden, der sich in der Warteschlange vordrängelt, oder darüber, dass der Zug Verspätung hat. Oder man ist sauer, weil irgendein Typ nicht zurückgeschrieben hat oder weil bei der Arbeit ein anderer befördert wurde. Heißt das jetzt, dass man selbstsüchtig ist? Ich denke, es ist einfach nur menschlich.
Wenn mich das Älterwerden eins gelehrt hat, dann ist es genau das: Ich habe so viele widerstrebende Gefühle zu ganz unterschiedlichen Dingen, und es bringt überhaupt nichts, sie zu verleugnen oder zu unterdrücken. Emotionen folgen nicht
immer einem moralischen Kompass. Man kann sie nicht kränken, damit sie verschwinden. Gefühle zu unterdrücken und nicht zu beachten führt nur dazu, dass sie zurückkommen und einen in die Arme eines Therapeuten treiben.
Denn genau das habe ich gelernt:
Ich kann mich so fühlen, als hätte ich keine Ahnung von nichts, und mich weigern, bei voller Beleuchtung in den Spiegel zu schauen, und trotzdem auf einen Protestmarsch für Frauen- und Menschenrechte gehen und mir die Seele aus dem Leib schreien. Ich kann für diesen Vater, der seine Tochter verloren hat, weinen und für den Freund, den ich nicht kenne, beten und mich ein paar Tage später durch Fotos scrollen und schier daran verzweifeln, dass es von mir keine Strand-Selfies mit meinem gut aussehenden Ehemann gibt. Und ich kann einen Sonnenuntergang bewundern und darüber nachdenken, wie viel Glück ich habe, und trotzdem mitten in der Nacht mit DER
ANGST
aufwachen.
Und das alles geht, weil das Leben eben kompliziert ist. Genau wie wir.
Wofür ich dankbar bin:
- Für alles, was ich habe,
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selbst wenn es gerade nicht so gut läuft.
- Die letzte Folge meines Podcasts, in der ich all das bekenne, auch wenn ich bezweifle, dass mir irgendwer dabei zuhört. Dann ist es eben nur für mich selbst, um mir die Dinge von der Seele zu reden. Man kann es schließlich auch so sehen: Es ist definitiv billiger als eine Therapie.
- Lustige Katzenvideos, über die ich immer lachen kann, auch wenn die Welt um mich herum in Stücke zerfällt.