Der letzte (Plastik-)Strohhalm
Seit meinem fehlgeschlagenen Mordversuch mithilfe von ätherischen Ölen habe ich meinen Vermieter kaum noch zu Gesicht bekommen. Scherz. Natürlich habe ich nicht versucht, ihn umzubringen. Aber heute Morgen juckt es mir echt in den Fingern, als ich in die Küche schlurfe, um mir einen Kaffee zu kochen, und ihn bis zu den Ellbogen im Recyclingmüll finde.
»Morgen.«
Noch im Halbschlaf und in Bademantel und Hausschuhen, beachte ich ihn gar nicht und streichle Artus, der mich begrüßen kommt, dann greife ich nach der Espressokanne.
»Luftpolsterfolie kann man nicht recyceln.« Mit hochgekrempelten Ärmeln zieht er sie triumphierend aus dem Mülleimer, als wären wir auf einer Tombola. Dann wedelt er damit vor meinem Gesicht herum.
»Warum nicht? Ist doch Plastik.«
»Aber sie hat kein Recycling-Symbol.«
»Echt?« Ich unterdrücke ein Gähnen.
Edward bleibt beinahe die Luft weg. »Bitte sag mir jetzt nicht, dass du dir die Symbole gar nicht anguckst, bevor du etwas recycelst oder nicht.«
»Das ist mir alles viel zu verwirrend. Wenn etwas aus Plastik ist, werfe ich es in den Recycling-Müll.« Ich lasse Wasser in die Espressokanne laufen, nehme einen Löffel und befülle sie .
Edward starrt mich an, als hätte ich ihm gerade gebeichtet, unseren Nachbarn umgebracht zu haben. Seine Augen weiten sich, und er beißt die Zähne zusammen. »So geht das nicht, Penelope. Wenn nur ein Teil nicht recycelbar ist, kann die ganze Ladung nicht recycelt werden.«
Er hält mir tatsächlich eine Standpauke.
»Okay, es tut mir leid. Ich werde in Zukunft besser darauf achten. Aber es ist doch alles Plastik, sollte es dann nicht auch recycelbar sein?«, grummle ich vor mich hin, stelle die Espressokanne auf den Herd und schalte die vordere Platte ein, während er weiterhin Müll aus der Tonne holt.
Ohne meine Entschuldigung anzunehmen, baut er eine Mauer aus Gläsern und Plastikflaschen um sich herum auf.
»Und kannst du die hier bitte ordentlich auswaschen?«
Während er mit einer Dose Bohnen in Tomatensoße vor meinen Augen herumfuchtelt, verlasse ich in Gedanken meinen Körper und erwische mich dabei, wie ich die Szene von außen betrachte und denke: Das hier kam sicher nirgendwo in meinen Zukunftsplänen vor. Mit zwanzig hatte ich so große Erwartungen an das Leben. Stellen Sie sich bitte mal ein Gespräch mit meinem Ich von damals vor: »Nein, du wirst nicht in einem schönen Haus mit farblich aufeinander abgestimmten Sofakissen leben, sondern bei einem Fremden wohnen, der dir mit leeren Bohnen-in-Tomatensoße-Dosen vor der Nase herumfuchtelt.« Und das sogar vor dem ersten Kaffee am Morgen.
»Was ist das denn?«
Da wird mir plötzlich bewusst, dass er die Plastikverpackung meiner Jolen-Haarentfärbungscreme untersucht, mit der ich meine Schnurrbarthaare behandle. Ich reiße sie ihm aus der Hand. »Muss das wirklich sein?«
»Ja, das muss es, Penelope«, sagt er und scheint froh darüber zu sein, jetzt meine volle Aufmerksamkeit zu haben.
»Hör auf, mich Penelope zu nennen«, fahre ich ihn an.
»Warum? So heißt du doch. «
»Weil mich niemand so nennt.«
»Das sollten die Leute aber. Das ist echt eine Manie mit diesen ganzen Abkürzungen.«
»Tja, ist halt ziemlich lang.«
»Vier Silben.«
»Genau.«
»Wer sich nicht die Mühe machen kann, vier Silben zu sagen, der hat auch keine Antwort verdient.«
»Bestehst du deshalb darauf, Edward genannt zu werden, anstelle von Ed?« Mit verschränkten Armen lehne ich mich gegen die Arbeitsplatte und warte darauf, dass mein Kaffee anfängt zu kochen.
»Ich heiße nun einmal Edward. Es geht nicht darum, auf irgendetwas zu bestehen.«
»Oder Eddie?«, schlage ich vor. »Eddie gefällt mir.«
Er runzelt die Stirn und streicht sich die Haare zurück. »Ich fühle mich aber nicht wie ein Eddie.«
Ich sehe ihn an. Er muss sich wirklich mal wieder die Haare schneiden lassen. Sie wachsen mittlerweile nicht nur nach unten, sondern auch zu den Seiten. Aber was kann ich schon sagen? Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr beim Friseur, dafür bin ich viel zu pleite. Vielleicht sollte ich mal wieder die alte Haarschneideschere meiner Mutter hervorkramen.
»Nein, du hast recht. Du siehst auch nicht aus wie ein Eddie.«
Er seufzt. »Warum sind bloß alle so wild auf Abkürzungen? Meinst du, die Queen wird Liz genannt?«
»Ihre Königliche Hoheit Liz?« Ich muss lachen. »Vielleicht.«
Sein ernstes Gesicht wird etwas milder. »Mir gefällt Penelope, der Name passt zu dir.«
»Er klingt nach alter Jungfer. Oder nach einer Thunderbird-Marionette.«
»Lady Penelope.« Er zieht eine Augenbraue hoch und legt den Kopf schief, als würde er überlegen. »Das klingt sehr elegant. «
»Ich bin elegant?«
»Na ja, nicht immer. Aber letztens schon.«
Unerwartet merke ich, wie ich erröte.
»Rot steht dir gut, Penelope. «
»Vielen Dank«, sage ich mit einem Grinsen und mache dazu eine kleine Drehung in Bademantel und Hausschuhen.
Auf seinem Gesicht zeigt sich ein Lächeln. »Das hat meine Mum auch immer gemacht.«
»Ja?«
»Ja, als ich noch ein kleiner Junge war, ging sie oft mit meinem Vater auf irgendwelche Partys. Ich sollte, wenn sie losgingen, eigentlich schon im Bett sein, aber ich schlich mich immer aus meinem Zimmer und sah ihnen durch das Treppengeländer zu. Dad ging schon mal das Auto holen, und sobald er weg war, sah sie zu mir herauf und drehte sich einmal um die eigene Achse. ›Wie sehe ich aus, Edward?‹, fragte sie mich dann.«
»Und was hast du darauf geantwortet?«
Zum ersten Mal lässt er mich ein bisschen näher an sich heran, und ich bin wirklich neugierig.
»›Wunderschön‹«, antwortet er leise. Und einen Augenblick kommt es mir so vor, als wäre er gar nicht mehr hier in der Küche, sondern zurück auf der Treppe in seinem Elternhaus. »›Du siehst wunderschön aus, Mum.‹«
»Sie ist bestimmt immer noch sehr schön.«
»Sie starb, als ich dreizehn war. Ich war damals im Internat.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Ist in Ordnung«, sagt er schnell. »Das ist schon lange her. Dad hat noch einmal geheiratet. Sue ist sehr nett und tut ihm gut. Sie leben in Frankreich.«
»Hast du so deine Frau kennengelernt?«
»Ja«, sagt er und nickt.
Ich warte darauf, dass Edward mir noch mehr Einzelheiten erzählt, aber es kommt nichts mehr. Stattdessen wechselt er das Thema .
»Und, wie war dein Date?«
»Ziemlich schrecklich«, sage ich und ziehe eine Grimasse.
»Oh, das tut mir leid.«
»Muss es nicht. Er war ein netter Kerl … sicher gut für jemanden, der an fünfzig Prozent Rabatt für einen Fitbit interessiert ist.«
»Ich hätte nichts dagegen einzuwenden.«
»Vielleicht wärst du dann besser zu diesem Date gegangen.«
Er muss lachen, und ich bin ein wenig stolz auf mich. Als hätte ich seine Anerkennung gewonnen. Das klingt sicher lächerlich, aber Edward ist echt ein harter Brocken. Ihm auch nur ein winziges Lächeln abzuluchsen ist wirklich eine enorme Leistung.
Ich höre, dass mein Kaffee durchgelaufen ist. Er sieht auf seine Uhr. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät ins Büro.«
Wir beide gucken das Chaos um die Mülltonnen herum an, und Artus, der daran schnüffelt.
»Soll ich das wegmachen?«, biete ich an.
»Das würdest du tun?« Er wirkt ein wenig beschämt. »Danke.«
Er wäscht sich die Hände, krempelt seine Hemdsärmel herunter und verschwindet dann im Flur.
Ich schenke mir Kaffee ein. Endlich. Frieden.
Als ich gerade den ersten Schluck nehmen will, taucht sein Kopf noch einmal im Türrahmen auf, er trägt schon seinen Fahrradhelm. »Aber kannst du bitte in Zukunft die Symbole …«
»Edward«, unterbreche ich ihn mit warnender Stimme. »Es reicht. Geh einfach zur Arbeit.«
Er sieht mich erstaunt an, als könnte er es nicht fassen, dass jemand so mit ihm redet, und einen Augenblick lang bereue ich, so schroff gewesen zu sein; er ist immerhin mein Vermieter.
Doch dann grinst er und tut zum ersten Mal genau das, worum ich ihn bitte.