Sportfest
Ich stehe gut gelaunt auf. Nicht nur wegen des tollen Dates mit Johnny, sondern auch, weil ich mich so darauf freue, Fiona, Izzy und Lucas zu sehen. Außerdem ist ein neuer, sonniger Tag erwacht – perfekt für ein Sportfest.
Allerdings alles andere als perfekt für Fiona.
Ich will gerade das Haus verlassen, als ich eine verzweifelte Nachricht von ihr bekomme. Sie hat sich beim Müllrausbringen den Fuß umgeknickt.
»Sicher nichts Ernstes, aber mein Fuß sieht aus wie ein Ballon. Die letzte halbe Stunde habe ich ihn mit Tiefkühlerbsen gekühlt«, erklärt sie mir kurz darauf am Telefon.
»Au! Kannst du so überhaupt zum Sportfest?«
»Ja, das darf ich auf keinen Fall verpassen. Ein Glück, dass unser Auto ein Automatik ist, und es der linke Knöchel war, ich mache mir einfach einen Verband drum. Aber das heißt leider, dass ich nicht am Spaß-Lauf der Mütter teilnehmen kann, Izzy wird ganz schön enttäuscht sein.«
»O nein.«
»Deshalb habe ich mich gefragt, ob du nicht vielleicht mitmachen könntest?«
»Ich?«
»Es ist wirklich nur eine kurze Strecke – keine von Hollys Marathondistanzen.«
»Ja, natürlich.« Da muss ich gar nicht drüber nachdenken. »Für Izzy tue ich doch alles. «
»Puh, danke, Nell. Du bist echt die Beste!«
»Aber … also … ich bin halt keine Mutter«, platzt das Offensichtliche aus mir heraus.
»Aber du bist immerhin Izzys Patentante – das wird sicher in Ordnung sein.« Sie wischt meine Bedenken einfach vom Tisch. »Schaffst du es, um zehn Uhr dort zu sein?«
»Ja, klar.«
»Super! Ach ja, vergiss deine Turnschuhe nicht.«
Izzys Schule liegt malerisch inmitten eines riesigen Grundstücks, kein Vergleich zu meiner heruntergekommenen Grundschule von damals. Die angrenzenden Straßen sind mit den teuren Autos der Eltern zugeparkt, die zum Sportfest gekommen sind, während der Parkplatz der Schule aussieht wie die Stellfläche eines Range-Rover-Autohauses.
Als ich an der Bushaltestelle aussteige und durch das Tor gehe, bin ich etwas eingeschüchtert, da auf dem Schulhof jede Menge elegant gekleideter Mütter herumlaufen, von denen mich manche sogar grüßen. Wettbewerb findet hier nicht nur auf dem Sportplatz statt. Ich fühle mich in meine eigene Schulzeit zurückversetzt, jedoch als Erwachsene. Michelle hat sich ja schon oft darüber beschwert, wie schrecklich es manchmal an den Schultoren zugeht, aber jetzt erlebe ich es selbst, es ist wirklich Angst einflößend.
Ich lasse meinen Blick über die Anwesenden schweifen und stelle fest, dass es verschiedene Gruppen von Müttern gibt: Die Glamourösen, die Beliebten, die Fleißigen (sie tragen natürlich auch die »Sportfesthelfer«-Schilder) und die Unauffälligen im Hintergrund.
Wahrscheinlich würde ich zu Letzteren gehören.
Fiona humpelt mit Izzy und Lucas auf mich zu. Wir haben uns seit der Babyparty nicht mehr getroffen, und dort war alles so seltsam, dass ich froh bin, sie endlich wiederzusehen. Hoffentlich können wir heute alles wieder in Ordnung bringen und zur Normalität zurückkehren.
Izzy reißt sich von Fionas Hand los und kommt zu mir gelaufen, ihr rot-weiß kariertes Schulkleid flattert um sie herum. Sie springt an mir hoch, und ich nehme sie fest in die Arme.
»Du läufst heute für Mummy!«, sagt sie aufgeregt.
»Ja, das mache ich«, antworte ich und lächle ihr fröhlich zu.
»Nell, du bist echt ein Superstar … vielen, vielen Dank.« Fiona kommt mit Lucas angehumpelt, sie verdreht die Augen und zeigt dabei auf ihren Fuß. »Was würde ich bloß ohne dich tun?«
»Deine Tochter im Stich lassen«, sage ich grinsend, und sie stößt mich lachend mit dem Ellbogen an.
»Wirst du gewinnen?«, will Izzy wissen.
»Ich werde mein Bestes geben«, antworte ich. »Feuerst du mich denn an?«
Sie kichert und nickt.
»Denkt immer daran, dass es nicht ums Gewinnen geht, sondern ums Dabeisein.«
Eine laute Stimme hinter uns lässt mich herumfahren, ich sehe, wie jemand mit wippendem Pferdeschwanz und von Kopf bis Fuß in Lycra gekleidet auf uns zusprintet.
Annabel. Mich verlässt der Mut. Sie sieht aus wie eine Gazelle im Lululemon-Outfit.
»Nicht wahr, Kinder?«
»Ja, Mummy!«, ruft Clementine begeistert und nickt heftig mit dem Kopf, während sie neben ihrer Mutter herläuft. Izzy hingegen sieht unentschlossen aus und klammert sich nur noch fester an mich.
»Annabel, du siehst fantastisch aus!«, ruft Fiona, als sie einander begrüßen. »Jetzt bin ich, ehrlich gesagt, ganz froh, dass ich nicht mitlaufe.«
»Fiona, du Arme. Wie geht es dir? «
»Schon besser.« Sie lächelt traurig und zeigt ihren bandagierten Knöchel.
»Ich kenne da einen wun-der-ba-ren Osteopathen, er hat wirklich Zauberhände – er macht dich im Nu wieder ganz.«
»Echt? Oh, das klingt gut. Da würde ich wirklich gern mal hin.«
»Kein Problem. Ich rufe ihn sofort an.« Sie greift in ihre Designertasche und holt ihr Telefon heraus.
»Zum Glück springt Nell für mich ein.«
»Ach, hallo, Nell«, sagt sie, da sie mich nun beachten muss. »Was für eine treue Seele. Immer bereit einzuspringen.«
»Dafür hat man Freunde.« Ich lächle.
Miststück.
»Du bist so früh gegangen bei der Babyparty.«
»Ja.« Ich nicke. Izzy klammert sich immer noch an mich und will einfach nicht abgesetzt werden.
»Wir haben dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, stimmt’s, Fiona?« Sie wirft Fiona ein Lächeln zu, dann verändert sie fast unmerklich ihre Position, stellt sich noch ein wenig näher an Fiona heran und dreht sich dann zu mir um. Jetzt stehen wir uns also gegenüber. Fiona und Annabel auf der einen Seite, ich auf der anderen.
Das bilde ich mir wirklich nicht ein, ich schwöre es.
»Ich habe Fiona mit der Neugestaltung ihres Hauses geholfen, es ist fantastisch geworden, findest du nicht auch?«
»Annabel hat einen so unglaublich guten Geschmack«, antwortet Fiona, nickt und lächelt.
»Wo ist Clementine? Oh, da bist du ja.« Sie wendet sich ihrer Tochter zu, die um meine Beine herumwuselt. »Clementine und Izzy, warum geht ihr nicht zusammen spielen?«
Endlich gibt Izzy mir ein Zeichen, dass ich sie absetzen darf, und beide laufen über das Gras davon, in Richtung von Lucas, der anscheinend auch eine Gruppe mit Schulfreunden gefunden hat. Ich drehe mich wieder zu Annabel und Fiona um, die jetzt in ein Gespräch über Lichtschalter vertieft sind. Der Spaß-Lauf hat auf einmal unheimlich an Bedeutung gewonnen. Ich laufe nicht, um als Erste über die Ziellinie zu kommen, nein, ich laufe um Fionas Freundschaft.
Annabel bemerkt meinen Blick und mustert mich, als wolle sie ihre Konkurrenz abschätzen. Sie wirkt gelassen und selbstbewusst.
»Willst du etwa in Flipflops laufen?«, fragt sie und zieht die Augenbrauen hoch.
»Nein, ich habe meine Turnschuhe dabei.«
»Nell hat zu Unizeiten Leichtathletik gemacht«, prahlt Fiona.
»Ein Semester lang«, sage ich lachend. »Dann habe ich die Bar auf dem Unigelände entdeckt und bin nicht mehr vor dem Mittagessen aufgestanden.«
»Wie ist denn deine beste Zeit auf hundert Metern?«, fordert mich Annabel heraus.
»Meine Zeit? Ich dachte, das sei ein Spaß-Lauf?«, versuche ich zu scherzen.
»Ich habe letztens vierzehn Sekunden gebraucht.«
»Äh, bei mir ist es wirklich eine ganze Weile her … Ich erinnere mich nicht.«
»Na, sieh mal einer ein, ich wusste gar nicht, dass euch das so wichtig ist, ganz schön leistungsorientiert«, sagt Fiona lachend.
»Na ja, an mir liegt es nicht, ich dachte, es ginge ums Dabeisein …«, versuche ich zu protestieren, aber wir haben uns bereits in Bewegung gesetzt, und meine Stimme geht im Lärm des Anfeuerns beim Lauf der Väter unter, der gerade beginnt.
Später, als ich mit Izzy zum Getränkestand gehe, begegne ich völlig unerwartet Johnny. Oliver ist bei ihm, und er unterhält sich mit ein paar Müttern. Ihn hier zu sehen hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Eine kleine Traube hat sich um ihn herum gebildet, und die Frauen hören ihm aufmerksam zu und lachen. Ich bin ein bisschen stolz und froh zugleich .
»Oh, hi!«
Als er mich sieht, hört er auf zu reden und lächelt. Bei dem Gedanken an den Kuss vor der Haustür erröte ich.
»Hey, schön dich zu sehen.« Ich lächle und küsse ihn auf die Wange. Es ist natürlich etwas anderes als gestern Abend, aber ich hatte nicht erwartet, dass wir das hier in aller Öffentlichkeit wiederholen.
»Was machst du hier?«, fragt er mich, und ich spüre die Blicke der anderen Frauen auf mir.
»Darf ich vorstellen: Izzy. Mein Patenkind.«
Izzy winkt ihm zu. »Tante Nell wird das Rennen gewinnen«, informiert sie ihn überzeugt.
Ich lache. »Ihre Mutter hat sich den Knöchel verknackst, also muss ich für sie bei dem Lauf einspringen.«
»Dann muss ich mir das unbedingt ansehen«, sagt er und grinst.
»Hi, ich bin Fiona.«
Fiona stößt mit mehreren Flaschen Wasser im Arm dazu.
»Das ist Izzys Mum«, sage ich und stelle die beiden vor: »Fiona, das ist Johnny.«
»Freut mich.« Er lächelt freundlich, dann dreht er sich zu Oliver um, der ihn am Arm zieht. »Okay, ich komme.« Er lacht gutmütig, dann sieht er wieder zu uns. »War schön, dich, Fiona und Izzy zu treffen. Nell, wir sehen uns später bei dem Lauf.« Er zwinkert mir zu und verschwindet in der Menge.
»Wow! Wer war das denn?«
Fiona sieht mich neugierig an.
»Johnny, der Typ, mit dem ich ein Date hatte!«, flüstere ich ihr zu, mein Gesicht immer noch rot angelaufen.
»Der ist das! Wahnsinn, du musst mir alle Einzelheiten erzählen …«
»Habe ich etwas verpasst?«
Annabel taucht plötzlich hinter uns auf. Sie hält eine Flasche Kokosnusswasser in der Hand und wirkt verärgert, weil sie nicht bei der Vorstellungsrunde dabei war. »Ich habe gesehen, dass du dich mit meinem Tennislehrer unterhalten hast.«
»Johnny ist dein Tennislehrer?« Ich bin erschüttert.
»Er ist Nells neuer Freund«, sagt Fiona.
»Das ist er nicht«, protestiere ich und stupse sie mit dem Ellbogen an. Fiona kichert. Es kommt mir vor, als wären wir wieder achtzehn und zurück an der Uni. »Wir hatten bisher nur ein Date«, erkläre ich und versuche dabei mir meine Zufriedenheit nicht anmerken zu lassen.
»Weißt du noch, wie es war als Single«, seufzt Fiona und wirft Annabel einen Blick zu.
»O ja«, sagt sie, lächelt und lacht dann. »Aber kannst du dir vorstellen, immer noch Single zu sein?«
Dann streckt sie die Hand aus und tätschelt mir mitfühlend die Schulter.
Wirklich. Am liebsten würde ich sie umbringen.
Da das nicht geht, muss ich auf jeden Fall diesen Lauf gewinnen.
Wir haben uns alle an der Startlinie aufgestellt. Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass die meisten Mütter tatsächlich Leggins und Turnschuhe tragen, einige wenige auch Kleider. Ich habe eine Jeans an und einen BH , der nicht besonders gut stützt. Auch meine Turnschuhe haben durch den Winter mit matschigen Hundespaziergängen ihr leuchtendes Weiß eingebüßt und sehen jetzt aus wie auf dem Boden festgetretenes Kaugummi.
Wo ist Annabel?
Ich sehe mich nach ihr um, finde sie aber nicht. Einen kurzen Moment lang frage ich mich, ob sie ihre Meinung geändert hat. Sich möglicherweise entschieden hat, dass ein Spaß-Lauf unter ihrem olympiareifen Niveau ist. Nein, da hinten ist sie ja. Beschwingt läuft sie in meine Richtung, bis sie nur noch wenige Mütter entfernt steht, dann öffnet sie ihre Kapuzenjacke und zeigt ihr knappes Bra-Top, das ihre unglaublichen Bauchmuskeln betont. Ich sehe, wie sich die Köpfe der Väter zu ihr umdrehen, als sie sich warm macht, während die Ehefrauen ihr hasserfüllte Blicke zuwerfen.
Das Herz rutscht mir in meine schlammigen Turnschuhe. Ich komme kaum bis zu meinen Zehen, und zum letzten Mal gesprintet bin ich, um den Bus zu erreichen. Ich suche mit dem Blick nach Fiona und den Kindern, die an der Seitenlinie stehen – sie winken und jubeln mir fröhlich zu –, dann sehe ich zu Annabel hinüber, die gerade Dehnübungen macht.
Die meisten anderen Mütter lachen und nehmen das Ganze nicht so erst (die eine in Shorts sieht allerdings ziemlich Angst einflößend aus), aber als Annabel zu mir schaut, ist ihr Blick unmissverständlich.
Haben Sie Gladiator gesehen? Mehr fällt mir dazu nicht ein.
Die Schulleiterin erscheint mit einer Fahne in der Hand. »Alles klar. Sind alle bereit?«
Die Menge bebt voller Vorfreude.
»Auf die Plätze, fertig – los!«
Wir laufen los.
Während wir über den Sportplatz rasen, höre ich in meinem Kopf die Titelmelodie von Die Stunde des Siegers . Annabel sprintet voraus, fliegt über das Feld wie eine Goldmedaillengewinnerin, aber ich bin ihr dicht auf den Fersen. Meine Brust hebt und senkt sich, das Herz schlägt wie wild, ich bewege meine Arme, so fest ich kann, meine Lungen füllen sich mit Luft, ich bin nur noch ein paar Zentimeter hinter ihr, meine Füße trommeln auf das Gras.
Konzentration, Nell. Konzentration.
Ich lege mich noch mehr ins Zeug. Meine Gedanken sind auf die Ziellinie gerichtet, aber je näher ich komme, desto mehr löst sie sich auf, wird überlagert von Bildern meiner Freundschaft mit Fiona: unser erster Tag an der Uni, als ich sie den Wagen ausladen sah und ihr half, Kisten mit alten Schallplatten hineinzutragen; das Kerzenauspusten an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, als ihre Haare Feuer fingen und ich sie mit einem Glas Margarita gelöscht habe; unsere Reise nach Paris, bei der wir so pleite waren, dass wir die ganze Woche über nur Baguette gegessen haben, wodurch wir so aufquollen, dass unsere Jeans nicht mehr zugingen; unser Lachen und die schlammigen Tränen beim Glastonbury Festival; ihr Gesicht, als sie mir davon erzählte, dass sie David heiraten würde; mein Gesicht, als ich Izzy zum ersten Mal halten durfte und sie mich fragte, ob ich ihre Patentante werden wollte …
Und jetzt kommt es mir so vor, als wolle Annabel mir all das wegnehmen. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss aufholen und sie überholen. Sie darf auf keinen Fall gewinnen.
Ich gebe alles. Irgendwoher kommt noch ein zusätzlicher Energieschub. Ich merke, wie ich immer schneller werde. Mein junges, athletisches Ich ist zurück. Als ich näher komme, sieht mich Annabel an, in ihrem Blick liegt Entschlossenheit, Erstaunen und Panik, darüber, dass wir nun Kopf an Kopf rennen, jetzt ziehe ich an ihr vorbei …
Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Aus dem Nichts spüre ich auf einmal, wie mir ein Ellbogen in die Rippen gestoßen wird und ich zur Seite gedrängt werde. Ich versuche verzweifelt, mein Gleichgewicht zu halten, aber durch den Zusammenprall stolpere ich und falle, lande mit dem Gesicht voran im Matsch. Annabel überquert die Linie, die Menge jubelt, sie hat das Ziel erreicht.
Sie hat gewonnen.
Wofür ich dankbar bin:
  1. Johnny, der mir Eis besorgt, sodass mein blaues Auge nicht ganz so schlimm aussieht.
  2. Mich nicht wie eine komplette Versagerin zu fühlen, nachdem ich vor allen Leuten mit dem Gesicht voran auf dem Boden gelandet bin, da es nur ein Unfall war und Annabel mich natürlich nicht absichtlich umgestoßen hat. [9]
  3. ABBA s The Winner takes it all , das ich mir im Bus nach Hause die ganze Zeit über laut durch meine Kopfhörer anhöre.