Was würde Frida tun?
»Es klingt wirklich grauenhaft, aber sieh es mal so: Immerhin besser als Beerdigungen. Das ist die einzige Art von Treffen, zu der ich in letzter Zeit eingeladen werde.«
Ein paar Tage sind seit dem Sportfest vergangen, und ich besuche mit Cricket die Frida-Kahlo-Ausstellung im Victoria & Albert Museum, die gerade erst eröffnet wurde. Diese Sammlung ihrer persönlichen Gegenstände ist wirklich beeindruckend, aber da Cricket gerade erst aus Dublin zurück ist, haben wir uns gleichzeitig jede Menge zu erzählen – Multitasking eben. Wir stehen vor einem von Fridas farbenfrohen, mexikanischen Kleidungsstücken, und ich berichte ihr vom Sportfest.
»Vermutlich hast du recht«, sage ich und lächle zerknirscht. »Du hast also nichts mehr von Lionel und Margaret wegen des Abendessens gehört?«
»Natürlich nicht. Ich hätte schließlich die Tischordnung durcheinandergebracht, so ganz ohne Begleitung. Außerdem denkt Margaret vermutlich, dass ich mich an Lionel heranschmeißen will.«
»An Lionel?«
»Als wenn ich den Ehemann einer anderen haben wollte, nur weil meiner tot ist.« Sie ist sichtlich genervt. »Und selbst wenn, dann würde ich mir sicher nicht Lionel aussuchen. Hast du gesehen, was für riesige Ohren er hat? Monty hat immer gesagt, er sähe aus wie ein Toby-Krug …« Sie unterbricht sich. »Guck dir mal diese tollen Rüschenröcke an. «
»Wirklich schön.« Ich nicke. »Wie aufwendig der hier bestickt ist.«
»Diese Annabel scheint ja wirklich ganz schön fies zu sein.«
»So könnte man es sagen.«
Fiona hat mir seit dem Sportfest ein paar Nachrichten hinterlassen, in denen sie beteuert, wie unangenehm Annabel die ganze Sache ist und dass sie gerne meine Adresse hätte. »Ich nehme an, sie möchte dir einen Strauß Blumen schicken; sie ist in solchen Dingen sehr aufmerksam. Sie hat mich eingeladen, mit meinem verletzten Knöchel in ihrem Whirlpool zu sitzen, und hat auch mit dem fantastischen Osteopathen einen Termin ausgemacht, sodass es mir schon viel besser geht.«
»Sehr gut«, schrieb ich ihr zurück, zusammen mit meiner Adresse, aber natürlich kamen diese Blumen nie an. Wahrscheinlich hatte sie eher vor, mir einen Auftragsmörder zu schicken.
»Hast du das handbemalte Gipskorsett gesehen?«
Wir gehen zu der beleuchteten Glasvitrine.
»Sie muss solche Schmerzen gehabt haben.« Ich trete näher an die Glasscheibe heran, um besser sehen zu können.
»Wie geht es deinem Auge?«
Das Erhabene gleitet gerade ins Lächerliche ab. »Es ist noch wund, aber die Schwellung ist zurückgegangen.« Die letzten Tage habe ich hinter meiner Sonnenbrille verbracht, während es sich erst dunkelblau, dann lila und zuletzt gelb verfärbt hat. »Hoffentlich ist es bis Samstag so gut wie weg, da habe ich mein zweites Date mit Johnny.«
Als Cricket seinen Namen hört, hellt sich ihr Gesicht auf. Ich habe ihr in der Warteschlange vor der Garderobe schon von unserem ersten Date erzählt. »Wohin geht ihr?«
»Irgendein besonderes Restaurant. Es soll eine Überraschung sein.«
»Wie aufregend.« Man sieht ihr an, wie sehr sie sich für mich freut. »Monty hat mich oft mit besonderen Abendessen überrascht. Dann sagte er immer: ›Zieh dir etwas Schickes an, wir gehen aus.‹« Sie lächelt, dann seufzt sie. »Ich vermisse ihn.«
Ich muss an den Brief und das Foto in meiner Tasche denken. Bisher habe ich nichts erwähnt. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob es richtig ist, habe ich mir vorgenommen, ihr die Sachen heute zu geben, aber jetzt überkommen mich neue Zweifel. Warum sollte ich riskieren, sie zu verletzen und ihre Sicht auf die Dinge zu verändern? Was soll Gutes dabei herauskommen?
»Ich denke darüber nach, mich etwas zu verkleinern«, sagt sie, während wir den nächsten Ausstellungsraum betreten.
»Du willst umziehen?«
Sie nickt. »Ich brauche kein so großes Haus für mich allein. Das kommt mir irgendwie albern vor. Ich sollte das Haus verkaufen und mir irgendwo eine kleine, hübsche Wohnung zulegen.«
»Aber du magst dieses Haus doch so gern.«
»Ja, das stimmt. Aber es erinnert mich so sehr an Monty.«
»Ist das nicht gut?«, frage ich nach.
»In manchen Beziehungen ja, es spendet mir Trost …« Sie macht eine Pause und zeigt dann um sich herum. »Aber das Leben ist kein Museum, Nell. Ich möchte nicht in der Vergangenheit leben.«
Da kann ich nicht widersprechen.
»Ich möchte nicht die Zeit, die mir noch bleibt, damit verbringen, zurückzuschauen. Sondern nach vorn, in die Zukunft blicken. Zu neuen Dingen. Neuen Abenteuern. Ansonsten lebe ich einfach nur ein Leben weiter, in dem ein großer Teil fehlt.« Sie lächelt tapfer, aber ihr Gesicht verzieht sich ein bisschen. »In unserem Haus kommt mir der Verlust besonders stark vor. Ich vermisse sein Gelächter in der Küche. Ja, sogar den Geruch seiner Zigaretten … wir hatten eigentlich verabredet, dass er nur draußen raucht. Also setzte er sich immer in die Verandatür und sagte, streng genommen wäre er jetzt draußen. «
Während ich Cricket zuhöre, merke ich, wie ich mich mit ihr identifiziere. Unsere Lebensumstände sind ganz verschieden, aber viele unserer Gefühle sind die gleichen. Ethan ist vielleicht nicht gestorben, aber unsere Beziehung schon, und das war mit ein Grund dafür, warum ich zurück nach London gezogen bin. Ich brauchte einen Neuanfang, ein Leben, in dem ich nicht überall an ihn erinnert werde.
»Das verstehe ich«, sage ich und drücke ihr mitfühlend den Arm. »Klingt nach einer guten Idee.«
Sie lächelt mich dankbar an und ruft dann: »Guck dir diese wunderschönen Tücher an!«
»Es ist wirklich toll, dass sie all ihre Sachen aufbewahrt haben«, stelle ich fest.
»Ich muss noch so viele Dinge loswerden, wenn ich das Haus verkaufe, nicht nur Kleidungsstücke. Schon allein mit unseren Büchern könnte man eine Bibliothek füllen …«
Ich muss an Crickets Flur denken, der vom Boden bis zur sehr hohen Decke hinauf mit Bücherregalen vollgestopft ist, und dann fällt mir mein eigenes, sehr viel kleineres Bücherregal in Kalifornien ein. In Crickets Haus müssen Hunderte von Büchern stehen. Vielleicht sogar Tausende.
»Wir können sie bestimmt auch zu irgendeinem Charityshop bringen, wenn sie denn genügend Platz dafür haben.«
»In Kalifornien wollte der nächste Charityshop meine Bücher nicht nehmen«, sage ich mit Bedauern. »Ein Glück, dass es diese kostenlosen Mini-Büchereien gab.«
»Was ist das?« Sie dreht sich neugierig zu mir um.
»Diese kleinen Bücherschränke, aus denen man sich einfach umsonst nehmen kann, was man möchte. Sie werden von den Leuten an Straßenecken oder in ihren Vorgärten aufgebaut. Die Idee dahinter ist: Man nimmt sich ein Buch und bringt eins zurück, aber man muss sie immer mal wieder nachfüllen, da die Leute mehr Bücher mitnehmen als zurückbringen. Aber das wäre dir ja egal, du hast ja genug. «
»Aber wo könnte ich so etwas hinstellen?« Cricket sieht begeistert aus.
»Vielleicht könnten wir eine Miniaturversion in deinem Vorgarten aufstellen. Besonders jetzt, wo die Stadtteilbibliothek bald zumacht, wäre es für die Nachbarschaft sicher toll, weiterhin Zugang zu kostenfreien Büchern zu haben.«
Ganz still hört sie mir zu.
»Oh, die Idee gefällt mir sehr«, sagt sie schließlich. »Monty hat immer gesagt: Bücher sind nicht zum Besitzen, sondern zum Teilen gedacht.«
»Ich kann ja mal vorbeikommen, und dann stellen wir so eine Mini-Bücherei bei dir auf. Das dauert sicher nicht lang.«
Wir bleiben vor der ausgestellten Beinprothese von Frida stehen, die in einem verzierten roten Stiefel steckt.
»Weißt du, was ich am beeindruckendsten an ihr finde?«, überlegt Cricket laut. »Dass sie nie vor der Wahrheit zurückgeschreckt ist.«
Ich muss an die Ereignisse aus der Vergangenheit denken. Cricket hat recht. Schmerzliche Wahrheiten, heißt es oft, aber die letzten Monate haben mir gezeigt, dass die menschliche Seele stärker ist, als ich dachte. Es ist oft viel schlimmer, getäuscht zu werden, als der Wahrheit ins Auge zu blicken.
»Cricket?«
»Ja, meine Liebe?« Sie dreht sich zu mir um.
»Lass uns irgendwo hingehen, wo es ruhig ist, und etwas trinken. Ich muss dir etwas zeigen.«
Wofür ich dankbar bin:
  1. Die Wahrheit und den Mut zu besitzen, sie auszusprechen.
  2. Crickets Reaktion, als ich ihr den Umschlag gab; sie sah auf die Briefmarke und steckte ihn in die Tasche, dann dankte sie mir und bestellte noch ein Glas Wein .
  3. Dafür, dass sie das Foto erst fand, als sie allein war, es war nicht meine Aufgabe, ihr ein Geheimnis zu verraten, sie musste eins entdecken.
  4. Museen, da sie im Gegensatz zu unserer auf die Jugend fixierten Gesellschaft das Alte feiern. Deshalb werde ich ab sofort meine Körperteile betrachten, als wäre ich bei einer Museumsführung, und sie als interessante Stücke wahrnehmen, anstatt mich vor dem Spiegel über sie zu ärgern.
  5. Frida Kahlo, da sie eine echte Inspirationsquelle ist.