BEGLEITUNG
Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus dem Tiefschlaf.
Was zum …?
In meinem Zimmer ist es stockduster, und ich taste nach meinem Telefon auf dem Nachttisch. Müde gucke ich, wessen Namen dort aufleuchtet.
ELTERN.
Mich überkommt Panik. O Gott, was ist passiert? Genau davor fürchtet man sich, wenn die Eltern die siebzig überschritten haben: diesen Anruf mitten in der Nacht. Jetzt ist es so weit …
Ich halte mir das Telefon ans Ohr. »Alles in Ordnung?«, keuche ich hinein.
»Aufregend, oder?«
»Mum?«
»Hast du es schon gehört?«
Mein Gehirn dreht sich um 180 Grad. »Hä, was? Warum rufst du mich mitten in der Nacht an?«
»Es ist fast halb acht. Bist du etwa noch im Bett?«
Ich halte das Telefon von mir weg, damit ich auf die Uhr gucken kann, während ich mir einrede (vormache), dass ich nur so verschwommen sehe, weil ich gerade erst aufgewacht bin. Dabei muss ich feststellen, dass es tatsächlich schon halb acht ist – auch wenn es sich dank meiner Verdunklungsrollos noch so anfühlt wie mitten in der Nacht. Wer auch immer meinte, dass die Welt einen Wecker braucht, und ihn dann erfunden hat, kannte meine Mutter nicht .
»Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich auch an einem Sonntagmorgen um halb acht noch im Bett liegen?«
»Hast du denn noch nicht mit deinem Bruder gesprochen?«
Meine Mutter versteht absolut keinen Sarkasmus.
»Nein, warum?«
»Sie haben das Datum für die Hochzeit festgelegt!«, verkündet sie, ganz aus dem Häuschen. Nach meinem Vater ist das für meine Mutter am wichtigsten: Sie muss immer als Erste Bescheid wissen. Was für eine Verschwendung, dass sie als Friseurin gearbeitet hat, sie hätte Nachrichtensprecherin werden sollen, um immer die größten Neuigkeiten verkünden zu können.
Und jetzt fängt sie mit der Geschwindigkeit eines Sprinters, der gerade den Startblock verlässt, an, mir alle Einzelheiten zu erzählen, während ich mir den Bademantel überwerfe und in die Küche schlurfe, um Kaffee zu kochen.
»Oh … super … mmh … ja … fantastisch … wie schön …«, murmle ich angesichts der Informationen über Blumengestecke und Tischordnungen sowie der detaillierten Beschreibungen des Trausaals und des Veranstaltungsraums für den Empfang.
»Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie sich für ein Standesamt in Manchester entscheiden, aber sie werden sich in Liverpool das Ja-Wort geben, da kommt Nathalie her …«
»Gut«, antworte ich und höre das Blubbern meiner Espressokanne auf dem Herd, es gibt wirklich kein schöneres Geräusch. Ich gieße den Kaffee in meine Tasse, drehe mich zum Kühlschrank, um Milch herauszuholen, und entdecke den Putzplan an der Tür. Er hängt schon da, seit ich eingezogen bin, und ich habe ihn bisher bewusst ignoriert, aber jetzt klebt ein leuchtend oranger Post-it-Zettel darauf.
Das ist kein Kühlschrankmagnet.
Ich muss lächeln. Manchmal kann Edward richtig witzig sein .
Meine Mutter hingegen hat immer noch nicht Luft geholt. »… sie wollen keine kirchliche Trauung, da wird zumindest dein Vater zufrieden sein, er ist schließlich Atheist. Ich musste ihn vor den Altar zerren …«
Artus streicht mir um die Beine, er wartet auf sein Frühstück, also beeile ich mich, es ihm zu geben.
»… dann haben sie noch ein paar Monate, bis das Baby zur Welt kommt, der Bauch wird dann sicher schon gut sichtbar sein, aber das ist heutzutage ja nicht mehr so schlimm, nicht wie bei mir damals …«
Draußen ist es warm, also setze ich mich auf den kleinen Balkon vor meinem Zimmer und halte mein Gesicht in die Morgensonne. Das Leben ist so verrückt. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass ich wieder als Single in London leben und den Hochzeitsplänen meines Bruders und seiner schwangeren Verlobten lauschen würde, obwohl ich doch eigentlich diesen Sommer selbst hätte heiraten sollen.
Noch verrückter ist jedoch, dass es mich überraschenderweise überhaupt nicht mehr stört.
»Und? Wirst du jemanden mitbringen?«
Ich bin sofort wieder bei der Sache. Meine Mutter fischt mal wieder im Trüben.
»Darüber habe ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht nachgedacht«, antworte ich zögernd, während mein Kopf schon einen Gedanken weiter ist. Vielleicht könnte ich Johnny mitnehmen?
»Zumindest kannst du jetzt, da du das Datum kennst, wem auch immer früh genug Bescheid geben. Wir haben ja gerade erst Juni, also ist noch genügend Zeit, sich um die Reise zu kümmern, falls zum Beispiel jemand einen Flug buchen muss oder so …«
»Ethan wird nicht kommen, Mum.«
So! Jetzt ist es raus.
Zum ersten Mal, seitdem ich abgehoben habe, herrscht am anderen Ende der Leitung Stille. Aber im Gegensatz zu sonst verspüre ich nicht dieses Gefühl, alle enttäuscht zu haben. Richard wird schließlich heiraten, und ich kann endlich ehrlich sein. Eine Hochzeit wird es in der Familie trotzdem geben.
»Na ja, es ist ja erst in ein paar Monaten, manchmal ändern Menschen ja auch ihre Meinung«, sagt meine Mutter einen Augenblick später.
»Ich werde meine Meinung aber nicht ändern.«
»Oh, okay, gut, es ist nur … das hast du bisher gar nicht gesagt …«
Meine Schuldgefühle sind sofort wieder da. Meine Mutter klingt so enttäuscht. Jetzt komme ich mir schrecklich vor, weil ich ihre Hoffnungen zerstört habe. Sie war so aufgeregt, als ich ihr von unseren Hochzeitsplänen erzählt habe; sie hat sogar all ihren Freundinnen ein Foto des Verlobungsrings gezeigt.
»Ich habe da jemanden kennengelernt«, platzt es aus mir heraus. »Wir sind noch ganz am Anfang, aber wir hatten schon ein paar Dates.«
Das wollte ich doch gar nicht erzählen. O Mann, zwei Dates sind ja nun wirklich keine Beziehung – noch besteht die Möglichkeit, dass nichts daraus wird. Aber …
»Oh, das sind ja schöne Neuigkeiten, Nell.« Sie klingt überrascht und froh zugleich und sagt sofort vergnügt: »Tja, dann kannst du ihn ja vielleicht als Begleitung mitbringen …«
»Ja, vielleicht«, antworte ich und trinke einen Schluck Kaffee. Er verbrennt mir die Zunge.