Die unsichtbare Frau
Als Kind habe ich mir immer gewünscht, unsichtbar zu sein. Wäre das nicht cool? Ich könnte überall hingehen und tun und lassen, was ich wollte, und niemand würde etwas davon mitbekommen. Natürlich ging das nur in meiner Fantasie. Aber wissen Sie was? Jetzt ist mein Kindheitswunsch endlich in Erfüllung gegangen. Ich bin unsichtbar!
Donnerstagmorgen gehe ich mit Artus spazieren und halte nach Johnny Ausschau. Seit Wochen habe ich weder etwas von ihm gehört noch ihn gesehen, und ich möchte ihm unter gar keinen Umständen zufällig über den Weg laufen. Deshalb habe ich eine andere Strecke zum Park gewählt als sonst, die an dem neuen Baukomplex mit Luxuswohnungen vorbeiführt, wo es vor Bauarbeitern nur so wimmelt.
In meinen Zwanzigern habe ich es gehasst, Bauarbeitern zu begegnen. Ich versuchte immer die Straßenseite zu wechseln, um nicht an ihnen vorbeigehen zu müssen, den Kopf gesenkt, den Blick auf den Bürgersteig gerichtet – Hauptsache, schnell und unbemerkt an ihnen vorbeikommen. Ich habe es gehasst, wenn sie mir nachpfiffen oder hinter mir herriefen: »Jetzt lächle doch mal, Süße!« Die Feministin in mir tobte: »Wie können sie es nur wagen, mich zu sexualisieren!« Ich fühlte mich verletzt. Peinlich berührt. Beschämt.
Zum Glück hat sich seitdem viel geändert. Ich glaube, solches Nachrufen ist mittlerweile sogar strafbar, was sie natürlich nicht vom Hinterherglotzen abhalten kann .
Wissen Sie, wie sich das erreichen lässt? Man muss nur über vierzig werden.
Ich laufe in Jeans und T-Shirt mit Artus die Straße entlang und lasse ihn an einem Laternenpfahl schnüffeln. Es ist nicht ganz so, wie man es sich als Kind vorgestellt hat. Es passiert nicht über Nacht – man wacht nicht einfach eines Morgens auf und ist unsichtbar –, aber nach und nach bemerkt man es. Der Mann hinter der Bar schaut einfach durch einen hindurch, wenn man dort steht und darauf wartet, bedient zu werden; die Person vor einem lässt die Tür einfach zufallen, als wäre man gar nicht da; es ist unmöglich, den Kellner auf sich aufmerksam zu machen, wenn man gern ein Glas Wasser hätte, da er sich ganz aufmerksam um den Nachbartisch mit der hübschen Blondine kümmert.
Und dann kommt der Tag, an dem man einfach an einer Baustelle entlanggeht und – puff – plötzlich unsichtbar ist.
»He, Vorsicht!«, rufe ich.
Fast hätte mich ein Bauarbeiter mit einem Teil des Gerüsts am Kopf getroffen, da er so sehr damit beschäftigt war, dem Mädchen mit dem bauchfreien Top hinterherzustarren, dass er mich gar nicht bemerkt hat.
Ich muss in Deckung gehen.
Ganz im Ernst. Was zur Hölle?
Wofür ich dankbar bin:
  1. Bauchfreie Tops – meine alten eignen sich hervorragend als Putzlappen. #werbrauchtschondiejugendwennerdiekuecheputzenkann #scherz #oderso