Was ist Ihre Superkraft?
»Er hätte mich umbringen können!«, beschwere ich mich am nächsten Tag bei Cricket, als wir uns in einem Café bei ihr in der Nähe treffen. Ich bin vorbeigekommen, um ihr zu helfen, die Mini-Bücherei wieder aufzufüllen, da sie fast leer ist, vorher genehmigen wir uns noch schnell einen Kaffee.
»Hat er dich denn nicht gesehen?«
»Nein, er war zu sehr damit beschäftigt, einem jungen Mädchen hinterherzuglotzen. Ich kam mir vor, als wäre ich unsichtbar.«
»Das ist unsere Superkraft!« Sie strahlt mich an. »Eine Belohnung fürs Älterwerden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das für eine Superkraft halte«, grummle ich vor mich hin. »Okay, ja, ich gebe zu, dass es sehr angenehm ist, nicht mehr die Empfängerin dieser Art von unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit zu sein … Wer bitte schön mag das, wenn irgendein Typ einem aus seinem weißen Lieferwagen hinterherruft?« Bei dem Gedanken daran verziehe ich das Gesicht. »Aber das ist schließlich auch nicht dasselbe, wie ein höfliches Kompliment oder einen Sitzplatz in der U-Bahn angeboten zu bekommen …«
Ich höre kurz auf zu reden, da der Kellner mit unseren Kaffeetassen auf uns zukommt, dann fahre ich mit gedämpfter Stimme fort: »Oder von dem süßen Kellner angelächelt zu werden, der mir meinen Flat White bringt.« Er stellt die Tasse vor mich hin, ohne mich auch nur eines einzigen Blickes zu
würdigen, und verschwindet. »Siehst du, er hat noch nicht einmal gemerkt, dass es mich überhaupt gibt.« Ich verziehe das Gesicht. Man sollte sich gut überlegen, was man sich wünscht!
»Johnny hat dich bemerkt.«
»Johnny bemerkt anscheinend alle, die nicht bei drei auf den Bäumen sind.« Ich reiße zwei Zuckertütchen auf und rühre sie, in einem Akt der Rebellion, in meinen Kaffee. Eigentlich weiß ich selbst nicht, warum ich heute so schlecht gelaunt bin.
Cricket beobachtet mich nachdenklich. »Früher haben sie sich auch nach mir umgedreht. Wenn ich in eine Bar kam, richteten die Männer ihre Blicke auf mich. Ich hatte schöne und besonders lange Beine und habe sie auch gern gezeigt.«
Es ist wirklich unmöglich, schlechte Laune zu haben, wenn man mit Cricket zusammen ist.
Ich lächle sie an. »Ich weiß, ich habe die Fotos gesehen. Du in diesem Cocktailkleid im Savoy …« Ich tue so, als müsste ich mir Luft zufächeln. »Wirklich heiß!«
Sie lacht, ihre Augen bewegen sich bei dem Gedanken daran lebhaft hin und her, während sie ihren Latte macchiato festhält. »Damals hatte ich noch eine andere Superkraft.« Sie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und stellt die Tasse wieder exakt auf der Untertasse ab. »Man nennt sie auch Jugend.«
Aus einer Ecke des Cafés dringt Gelächter zu uns herüber, wir beide schauen uns um und sehen eine Gruppe von jungen Frauen um die zwanzig, die alle auf ihre Smartphones starren, ein Wirrwarr aus langen Haaren und langen Beinen.
»Es kommt einem gar nicht so vor, als würde man alt werden. Ich fühle mich innerlich immer noch wie eine fünfundzwanzigjährige Frau.« Sie dreht sich wieder zu mir um. »Manchmal vergesse ich es sogar, bis ich in den Spiegel gucke.«
»Aber du siehst ja auch immer noch fantastisch aus«, werfe ich ein und betrachte Cricket, die um den Hals eine auffällige Modeschmuckkette trägt, die Lippen sind in ihrem charakteristischen Rot angemalt
.
»Ach, Nell, meine Liebe, das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich sehe nicht fantastisch aus. Das will ich auch gar nicht. Mir reicht es, gut für mein Alter auszusehen.« Ihr Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Als ich noch Schauspielerin war, stand ich ständig unter dem Druck, gut aussehen zu müssen. Natürlich ist es auch wichtig, Talent zu haben, aber wie mir ein Regisseur einmal gesagt hat, niemand will eine faltige alte Hauptdarstellerin sehen.«
»Was für ein Idiot! Ich hoffe doch, du hast ihm ordentlich den Marsch geblasen?«
»Ja, mehr noch. Ich habe ihn geheiratet.« Sie lacht über meinen Gesichtsausdruck.
»Das hat Monty gesagt?«
»Ja, das hat er tatsächlich gesagt. Aber ich habe dafür gesorgt, dass er über dreißig Jahre lang an seinen Worten zu kauen hatte. Es hat immerhin dazu geführt, dass er ein paar sehr gute Rollen für ältere Frauen geschrieben hat. Mit ›keiner will eine faltige alte Hauptdarstellerin sehen‹ habe ich ihn immer wieder aufgezogen, seine Antwort darauf lautete stets: ›Und ob, Liebling, ich schon, ich schon.‹«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie zieht scharf die Luft ein und schüttelt den Kopf. »Ich alberne alte Gans«, murmelt sie vor sich hin.
Ich greife über den Tisch und fasse ihre Hand. »Alberne alte Gans.«
Unsere Blicke treffen sich. Wir lächeln uns an.
»Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, Nell.« Sie lehnt sich vor und bedeutet mir, näher zu kommen. »Eigentlich ist das Unsichtbarsein genauso, wie man es sich als Kind vorgestellt hat«, verrät sie mir. »Man muss keine Angst davor haben, im Gegenteil – es ist einfach wunderbar. Es gibt einem nämlich tatsächlich die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man wirklich möchte, anzuziehen, worauf man Lust hat, und alles auszusprechen, was einem auf dem Herzen liegt – na ja, zumindest
meistens.« Sie sieht mich unbeholfen an, dann lehnt sie sich auf ihrem Stuhl zurück. »Und niemanden interessiert es auch nur die Bohne.«
»Bist du dir sicher, dass es nicht nur dir ganz egal ist?«
»Beides.« Sie lacht und nimmt noch einen Schluck Kaffee. »Als ich noch jung war, habe ich mir die ganze Zeit Sorgen darüber gemacht, wie ich aussehe, was die Leute von mir denken oder wie ich wahrgenommen werde.« Sie schüttelt den Kopf. »Was für eine Zeitverschwendung.«
»Aber du hattest ja auch Monty, das ist was anderes. Ich bin immer noch Single.«
Sie nickt. »Du hast recht. Ich hatte wirklich Glück. Und ich verstehe auch den Wunsch, sichtbar zu sein … gesehen … und wahrgenommen zu werden. Das ist keine Frage des Alters … besonders, wenn man gern jemanden kennenlernen möchte.«
Sie stellt ihre Tasse ab und dreht nachdenklich ihren Ehering.
»Monty gibt es nicht mehr, und als Witwe habe ich mich furchtbar unsichtbar gefühlt. Und dann hast du an meine Tür geklopft.«
Wir beide müssen bei der Erinnerung daran lächeln.
»Was ich jetzt sage, soll nicht abgedroschen klingen oder dich besser fühlen lassen, aber du musst mir Folgendes glauben: Die Menschen, auf die es ankommt, werden dich sehen, was auch immer passiert
.«
Sie guckt mich an, und ich weiß, dass sie mich sieht, genauso wie ich sie sehe. Vielleicht ist das ja unsere eigentliche Superkraft.
»Eigentlich wollte ich dich aber etwas ganz anderes fragen.«
Ich lehne mich zurück und trinke meinen Kaffee. Er wird schon kalt.
»Es geht um Monty.«
»Noch mehr Bücher? Kleidungsstücke?«
»Nein, eigentlich um seine Asche.
«
»Oh, Cricket …«, fange ich an, will mich entschuldigen, aber sie lässt mich nicht zu Wort kommen, sagt mir, ich solle nicht albern sein.
»Ich habe jetzt endlich entschieden, wo ich sie verstreuen möchte, und habe mich gefragt, ob du mich wohl dabei begleiten würdest. Es ist ein Ort, der ihm sehr viel bedeutet hat; er hat mich, schon kurz nachdem wir uns kennengelernt haben, dorthin mitgenommen.«
Mir fällt die Geschichte ein, wie Monty Cricket zum Picknick mit nach Hampstead Heath genommen hat.
»Natürlich. Das wäre wirklich eine Ehre für mich.«
»Ich hatte wirklich gehofft, dass du das sagen würdest.« Sie greift unter dem Tisch nach ihrer Handtasche und zieht etwas hervor. »Ich habe die Initiative ergriffen und uns zwei Tickets gekauft.«
»Tickets?« Ich sehe sie verdutzt an. »Ich dachte, es ginge nach Hampstead Heath?«
»Gott bewahre, nein. Wie kommst du denn auf die Idee?« Sie überreicht mir ein British Airways Ticket. »Wir fliegen nach Spanien.«
Wofür ich dankbar bin:
- Niemals mehr den Spruch »Jetzt lächle doch mal, Süße!« hören zu müssen.
- Die Freiheit, die mit dem Unsichtbarsein kommt.
- Das Bewusstsein, dass die Superkraft »Jugend« ziemlich überbewertet wird, weil man sie eigentlich erst bemerkt, wenn sie bereits verloren ist. Wenn man mich fragt, eine ganz schön bescheuerte Superkraft.
- Die Möglichkeit zu haben … nach Barcelona zu fliegen!