Die Schrecken der Deckenbeleuchtung
Zuallererst brauche ich allerdings neue Klamotten.
Eine Woche später finde ich mich in einem Einkaufszentrum wieder, gefangen in einer Umkleidekabine mit jeder Menge Kleidungsstücke, die alle so verheißungsvoll aussahen, aber ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen.
Auch keine schlechte Beschreibung meiner Liebesabenteuer, meiner Karriere oder meines Lebens insgesamt.
Ach, scheiß drauf
, wen interessiert das schon? Ich fahre in Urlaub!
Da räuspert sich lautstark mein schlechtes Gewissen und klopft mir auf die Schulter, um mich daran zu erinnern, warum ich nach Spanien fahre. Es ist nämlich eigentlich gar kein Urlaub. Ich bin die Begleiterin einer Witwe auf ihrer Reise, bei der sie die Asche ihres verstorbenen Ehemanns verstreuen möchte.
Mein Telefon piept, eine Nachricht von Cricket.
Kauf keine Sonnencreme. Ich habe genug!
Vielleicht ist es doch in Ordnung, ein bisschen aufgeregt zu sein.
Wir verreisen eine ganze Woche lang. Das war Crickets Idee. »Ich glaube, eine kleine Auszeit können wir beide gut vertragen, oder? Ein bisschen Sonne. Schwimmen im Meer. Das wird uns
sicher guttun!« Es klingt großartig. Nach den Ereignissen der letzten Zeit gibt es nichts, was ich lieber tun würde, als London in Richtung Mittelmeer zu entfliehen. Außerdem gibt es auch nichts, wofür ich schnell wiederkommen müsste. Unterwegs kann ich von meinem Laptop aus arbeiten und den Rest der Zeit einfach am Strand liegen und lesen. Ich kann es kaum erwarten.
Fehlt nur noch ein neuer Bikini.
Nur
noch. So ein missverständliches kleines Wort, oder? Es klingt so schnell und einfach. Ein winziges Problem, das man im Handumdrehen aus der Welt schaffen kann: Nur eben einen Kaffee holen, nur schnell das Auto parken oder nur kurz den Hund rauslassen. In dem Wort nur
schwingt überhaupt nichts von dem Bild mit, das ich momentan abgebe. Um meine Knöchel herum breitet sich ein Bikinimassaker aus, und mein Spiegelbild lässt mich bei der Deckenbeleuchtung (über die ich etwas hängen sollte) entsetzt zurückschrecken. Weil Ober- und Unterteil des Bikinis durch diese lästigen Plastik-Sicherungsetiketten miteinander verbunden sind, schaffe ich es nicht, mich aufzurichten. Um beide Teile gleichzeitig anzuprobieren, muss ich mich verbiegen und verdrehen, um mich im Spiegel betrachten zu können – ich sehe aus wie Quasimodo.
Nein, nur
wird dem Ganzen sicher nicht gerecht.
Und Sommersachen habe ich auch noch keine gefunden. Alles ist zu kurz! Das würde jemand mit zwanzig niemals sagen. Die einzigen Sachen, die mir gefallen, sind zwar bequem, aber auch ziemlich unattraktiv.
Langsam verlässt mich der Mut, und ich rufe Liza über Facetime an. Rat von jemandem aus der Generation Y ist dringend nötig.
Zum Glück ist sie trotz des Zeitunterschieds wach, und wir gucken gemeinsam den riesigen Klamottenhaufen durch.
»Das blaue Kleid ist schön … nee, die Streifen eher nicht … viel zu groß … hast schon besser ausgesehen … gibt es das vielleicht auch in Weiß … die Latzhose ist der Hammer!
«
»Danke, Liza, was würde ich nur ohne dich, meine persönliche Einkaufsberaterin, tun?«
Sie grinst. »Wie aufregend. Spanien wird bestimmt total super. Du hast dir einen Urlaub echt verdient.«
»So ein richtiger Urlaub ist es ja nicht.« Ich ziehe einen geblümten Playsuit an.
»Ja, das sagtest du. Die alte Dame klingt wirklich süß.«
Es klingt komisch, wenn Liza Cricket eine alte Dame nennt. Irgendwie ist sie das mit über achtzig natürlich, aber sie kommt mir überhaupt nicht so vor.
»Den auf keinen Fall. In dem Stoff siehst du aus wie ein Vorhang …«
Ich betrachte mich im Spiegel. Auf dem Bügel gefiel er mir richtig gut, aber angezogen sieht er aus, als wäre ich von Maria von Trapp gestylt worden. Und jetzt hat sich auch noch der Reißverschluss verklemmt. Ich lege mein Telefon zur Seite und versuche ihn mir irgendwie über den Kopf zu ziehen, aber er bleibt an meinen Schultern hängen. Liegt es an mir – oder haben sich die Größenangaben verändert?
Ratsch, der Stoff reißt, mit rotem Gesicht schnelle ich heraus wie ein Korken aus der Flasche, und genau in diesem Augenblick geht auf meinem Telefon eine Nachricht ein.
»Warte, ich habe eine Nachricht bekommen. Vielleicht ist es Cricket wegen der Reise.« Froh, endlich wieder die Arme frei bewegen zu können, nehme ich das Telefon und wechsle zu Nachrichten
.
Hi Nell, wie geht es dir? Ich hoffe, du genießt die Sonne. Johnny x
»So ein Arschloch!«
Als ich die Nachricht laut vorlese, reagiert Liza genauso, wie man es sich von einer Freundin wünscht, wenn man einen Monat zuvor von einem Typen abserviert wurde und der sich
dann aus heiterem Himmel wieder meldet. Natürlich habe ich ihr erzählt, was passiert ist, und sie macht sich Vorwürfe, weil sie mich zum Onlinedating angestachelt hat. Aber ihre Schuld ist das Ganze sicher nicht. Ich suche mir einfach immer die falschen Männer aus.
»Ich fasse es einfach nicht«, sage ich und starre völlig perplex auf mein Telefon.
»Ignorier ihn einfach«, antwortet Liza bestimmt.
Sie hat recht. Natürlich hat sie das. Aber mein verletzter Stolz will das nicht einsehen.
Wer ist da?
Ha. Das hat er verdient.
Warum tut er bloß so ahnungslos? Ich bin versucht, Johnny und wie weiter?
zurückzuschreiben, aber ich bin ja schließlich reif und erwachsen.
Hi Johnny. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich nicht wieder kontaktieren würdest. Danke, Nell!
»Keine lieben Grüße oder so«, fordert Liza mich auf. »Was er da macht, nennt man Fishing.«
»Natürlich nicht.« Ich drücke auf Senden
. »Glaub mir, von dem höre ich nie wieder.«
Mein Telefon piept.
Ich frage mich nur, warum du dich nicht mehr gemeldet hast
?
»Wow, und jetzt auch noch Gaslighting!« Liza ringt nach Luft.
»Hä? Ich dachte, es ginge um Ghosting?«
Ich bin wirklich verwirrt – so viel hat sich verändert, seitdem ich das letzte Mal Single war –, und jetzt habe ich Kopfschmerzen. Vermutlich, weil ich das Mittagessen ausgelassen habe und mir durch den geblümten Playsuit die Sauerstoffzufuhr abgedrückt wurde.
Nachdem ich mich bei Liza bedankt habe und der Umkleidekabine entkommen bin, stelle ich mein Telefon auf lautlos. Ich blinzle ins Tageslicht und werde von der Verkäuferin gerügt, weil ich nicht alles wieder auf die Bügel gehängt habe, dann kaufe ich aus schlechtem Gewissen noch den gerissenen geblümten Playsuit.
Einen Bikini habe ich immer noch nicht.
Wofür ich dankbar bin:
- Die Möglichkeit, Rufnummern auf meinem Telefon blockieren zu können. Kein weiteres Ghosting oder Gaslighting mehr durch Johnny!
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- Das kleine, kostenlose Nähset behalten zu haben, das ich durch das Upgrade von den Flugmeilen bekommen habe. Also repariere ich den Reißverschluss an dem Playsuit, um Max’ Tochter Lily damit eine Freude zu machen. Sie trägt ihn mit einem Gürtel und aufgerollten Ärmeln. Lily ist sieben.
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