Das Paket
Am Wochenende nehme ich den Bus nach Notting Hill, um Cricket zu besuchen. Vor ein paar Tagen hat sie mir eine Nachricht hinterlassen, dass sie etwas mit mir besprechen möchte, und mich für Sonntag zum Mittagessen eingeladen. Am Telefon wollte sie mir jedoch nicht sagen, worum es ging. »Das lässt sich viel besser bei einer Portion Moules frites besprechen«, erklärte sie mir. Das regte natürlich sofort meine blühende Fantasie an, die, gepaart mit meiner Leidenschaft für Immobilienseiten, Cricket ein Bauernhaus in Südfrankreich kaufen sah.
»Und was soll ich da machen? Mich mit Hühnern rumschlagen und London vermissen?«, fragt sie lachend, als ich ihr von meinen Gedanken erzähle. Sie verteilt heiße Muscheln aus einem riesigen Topf und macht dabei einen sehr zufriedenen Eindruck.
»Mmh, das riecht ja köstlich.« Sie reicht mir eine Schüssel, und ich atme den Duft von Knoblauch, Weißwein und Schalotten ein.
»Oh, ich habe die Petersilie vergessen.« Kaum hat Cricket sich gesetzt, springt sie schon wieder auf, um einen großen Bund Petersilie grob zu hacken, dann kommt sie zurück an den Tisch und streut sie über die glänzenden schwarzen Schalen.
»Jetzt fehlen nur noch die Pommes frites …«
»Bleib sitzen«, sage ich bestimmt, als sie zum wiederholten Mal aufstehen will. »Die hole ich.«
»Sie sind im Ofen«, sagt sie. »Wenn ich dir einen Rat geben
darf: Mach niemals deine Pommes selber. Kauf tiefgekühlte. Das Leben ist zu kurz, um es mit Kartoffelschälen zu verbringen.«
Ich lächle und setze mich mit dem Blech voller Pommes wieder an den Tisch, wir greifen beide sofort zu, obwohl sie richtig heiß sind und wir uns daran die Zungen verbrennen. Cricket schenkt uns Wein aus der Flasche ein, die ich mitgebracht habe, und wir prosten uns zu, dann brechen wir die Muscheln auf und genießen die köstliche, nach Knoblauch schmeckende Brühe.
»Sie schmecken fantastisch.«
»Nicht wahr?« Cricket nickt ohne falsche Bescheidenheit. »Ich habe sie schon länger nicht mehr gegessen, für mich allein koche ich sie einfach nicht.«
Das verstehe ich. Seitdem Ethan und ich uns getrennt haben, lebe ich überwiegend von Fertiggerichten. Ich war noch nie eine begnadete Köchin, aber nur für mich allein mache ich mir noch seltener die Mühe – wenn, dann möchte ich das Gekochte auch mit jemandem teilen (beziehungsweise genießen) können.
Seitdem Edward und ich die ganze Woche über zusammenwohnen, haben wir ab und zu füreinander gekocht. Das bietet sich irgendwie an – und ich profitiere richtig davon, da er ein sehr guter Koch ist, während ich eigentlich nur zwei Gerichte gut kann, trotz der ganzen Kochbücher, die ich mir ständig kaufe – Gemüsepfanne und Omelette. Aber es ist wirklich ein richtig gutes
Omelette.
»Und? Worüber wolltest du mit mir sprechen?«
Zwanzig Minuten später ist nur noch ein Haufen leerer Schalen übrig. Ich räume die Schüsseln ab, während Cricket unsere Gläser nachfüllt.
Sie greift nach etwas auf dem Stuhl neben sich und zieht einen großen, braunen A4-Umschlag unter der Tischplatte hervor. Dann holt sie den Inhalt heraus und legt ihn mitten auf den Tisch. Ein Stapel Papier, der von einer Kordel zusammengehalten wird
.
»Das sieht nach einem Manuskript aus. Es ist schon etwas älter, oder?«, stelle ich fest, da es an den Ecken schon etwas vergilbt ist. »Als Lektorin habe ich jede Menge davon gesehen.«
»Ja, das stimmt. Ein unvollendetes Manuskript.«
Ich warte auf eine Erklärung.
»Es kam diese Woche mit der Post aus Barcelona.«
Ich sehe sie erstaunt an. »Von Pablo?«
Cricket nickt. »In dem Begleitbrief dazu steht, dass er es mir eigentlich in Spanien geben wollte, aber keine Zeit hatte, es von zu Hause zu holen. Nachdem er meine Nachricht bekommen hatte, fuhr er sofort von der Galerie aus los …« Ihr Blick wandert zu dem Stapel Papier. »Er hat es jahrelang aufbewahrt. Es ist ein Stück von Monty, aus der Zeit, als die beiden ein Paar waren.«
Ich höre ihr aufmerksam zu.
»Er hat anscheinend ein ganzes Jahr lang daran gearbeitet, als er noch in Paris lebte. Aber als er aus seiner Wohnung ausgezogen ist, hat er es weggeworfen. Pablo hat es im Papierkorb entdeckt und gerettet.«
»Und Pablo hat Monty nie erzählt, dass er es aufgehoben hat?«
»Doch, anscheinend hat er es ihm ein paar Jahre später erzählt, als sie wieder Kontakt miteinander aufgenommen haben. Aber Monty hat nur gelacht und gesagt, er solle Feuer damit machen. Er war selbst sein schärfster Kritiker.«
»Hast du es gelesen?«
»Ja.« Sie nickt und macht eine Pause.
Ich halte die Luft an.
»Für mich ist es sein bestes Stück.«
Wir sitzen schweigend da und gucken auf die mit einer Schreibmaschine geschriebenen Seiten vor uns. Ein einmaliger Augenblick. Ein unentdecktes Theaterstück des preisgekrönten Dramatikers Monty Williamson. Seitdem ich Cricket kenne, habe ich schon mehrere seiner Stücke gelesen. Kein Wunder,
dass er so viele Preise gewonnen hat. Er war wirklich ein begnadeter Schriftsteller.
»Darf ich?« Ich zeige auf den Papierstapel.
»Natürlich.«
Vorsichtig ziehe ich das Manuskript über das glänzende Holz zu mir heran. Ich löse die Kordel und nehme die Titelseite in die Hand. Ich kann die Einkerbungen der Schreibmaschinentasten erkennen. Mit der Fingerspitze zeichne ich sie nach, dann lege ich die Seite neben mich und nehme die nächste. »Erster Akt.« Mein Blick gleitet über den Text, der mit Bleistiftanmerkungen versehen ist. Ich entdecke einen Weinfleck, wo einmal ein Glas gestanden hat; einen Klecks von der noch nicht getrockneten Tinte. Ich stelle mir Monty als jungen Mann in Paris vor, wie er über seine Schreibmaschine gebeugt Gauloises raucht, Rotwein trinkt, das Klackern der Schreibmaschine ist zu hören, während er mit seiner glühenden Vorstellungskraft … Ich blättere bis zur letzten Seite weiter. Darauf sind keine maschinengeschriebenen Zeilen mehr zu sehen, sondern nur handgeschriebene Notizen.
»Ich brauche jemanden, der es fertigstellt.«
Crickets Stimme holt mich aus dem Paris der 1950er-Jahre und der kleinen Dachkammer zurück. Ich hebe den Blick und bemerke, wie sie mich aufmerksam beobachtet.
»Wow, ja, ich habe jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr im Verlagswesen gearbeitet, aber ich könnte mich natürlich umhören, wer so etwas macht … Ich frage gern meine Kollegen von damals nach Empfehlungen. Sie kennen sicher ein paar gute Schriftsteller …«
»Ich kenne da bereits jemanden.«
Auf einmal fällt der Groschen.
»Um Himmels willen, nein!« Ich werfe den Kopf zurück und muss beinahe lachen angesichts dieser absurden Idee. »Du willst doch nicht etwa andeuten, dass …«
»Ich deute nichts an, ich frage.«
»Nein, das ist wirklich verrückt.« Ich lehne mich auf meinem
Stuhl zurück und schüttle bei dem Gedanken an diesen abenteuerlichen Vorschlag vehement den Kopf. »Ich schreibe Nachrufe. Ich bin keine echte Schriftstellerin.«
»Und ob du das bist – du hast einen wundervollen Text über Monty verfasst.«
Ich denke einen Moment nach. Sie sieht mir in die Augen. Ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich bin wirklich eher eine Lektorin.«
»Das nenne ich einen glücklichen Zufall, das Stück muss nämlich sehr gut lektoriert werden – eigentlich ist das der größte Teil der Arbeit, bis auf das Ende, an dem noch etwas mehr gemacht werden muss.«
Meine Brust zieht sich zusammen. Ich kaue innen auf meiner Lippe herum. Ich möchte protestieren, aber ganz tief in mir drin verspüre ich ein leichtes Kribbeln. Einen Pulsschlag.
»Niemand kennt Monty so gut wie du mittlerweile.«
»Und was ist mit dir?«
Jetzt ist Cricket an der Reihe, zu lachen und den Kopf zurückzuwerfen. »Monty würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass ich daran arbeiten würde, du weißt nicht, wie hoffnungslos miserabel ich darin schon zu seinen Lebzeiten war.« Sie lächelt. »Außerdem stecke ich viel zu tief in der Geschichte drin.«
Sie macht eine Pause, während in mir ein Kampf tobt. Keine von uns sagt ein Wort.
»Ich bezahle dich natürlich dafür.«
»Nein, das kommt überhaupt nicht infrage.«
»Natürlich bezahle ich dich. Ich frage dich nicht, weil ich so ein gutes Herz habe, Nell. Ich frage dich, ob du diese Arbeit für mich machen kannst, weil ich wirklich glaube, dass du die Richtige dafür bist. Es gibt niemanden, dem ich die Worte meines Mannes lieber anvertrauen würde als dir.« Sie sieht mich mit ernstem Gesicht an, dann seufzt sie. »Wirst du es dir überlegen?
«
Es knistert förmlich vor Anspannung.
»Ja.« Ich nicke. »Ich werde es mir überlegen.« Aber während ich die Worte ausspreche, wissen wir beide, dass ich nicht weiter darüber nachdenken muss. Weil die Antwort natürlich Ja ist.
Wofür ich dankbar bin:
- Das Duo aus Muscheln und Pommes.
- Dass Cricket nicht in näherer Zukunft nach Südfrankreich ziehen wird.
[14]
- Jemanden zu haben, der an mich glaubt.