Eine Entwicklung
Die Woche vergeht wie im Flug. Ich kann kaum glauben, dass heute Freitag ist. Schon!
Nachdem ich Sonntag aus Notting Hill zurückgekommen war, blieb ich bis in die frühen Morgenstunden wach und las Montys Stück. Cricket hatte recht. Es ist wahnsinnig gut. Natürlich rief ich sie am nächsten Morgen an und sagte ihr, dass ich nicht dafür geeignet war, in seine Fußstapfen zu treten. Dafür bräuchte es einen sehr viel besseren Schriftsteller als mich. Auf keinen Fall könne ich es übernehmen.
Sie sagte mir, ich rede Unsinn, und der Scheck sei bereits in der Post.
Also fing ich an. Verängstigt, aber aufgeregt
. So aufgeregt war ich schon lange nicht mehr gewesen, wenn überhaupt schon einmal. Ich saß an meinem Schreibtisch, und meine Finger schwebten schwerelos über der Tastatur, mir wurde fast schwindelig angesichts der Aufgabe, die vor mir lag. Nach zehn Minuten in diesem Zustand fasste ich mir ein Herz und begann zu tippen.
Montys Manuskriptseiten sind zum Teil mit einer Vielzahl von Anmerkungen versehen. Bleistiftkritzeleien zieren die Seitenränder und tanzen zwischen den maschinengeschriebenen Zeilen: Notizen zu Inhalt und Charakteren, gestrichene Wörter, neue Dialogpassagen, Ideen zu verschiedenen Themen … Während ich sie lese, kann ich beinahe seine Gedanken hören, die aus ihm herausquellen und mich anspringen. Ich fange mit einem vorsichtigen ersten Durchgang an, korrigiere Tippfehler un
d Zeichensetzung, bevor ich mich an den Rhythmus und das Tempo des Textes, die Figurenentwicklung und den Handlungsbogen heranwage.
Der erste und der zweite Akt sind fast vollständig geschrieben, aber der dritte … er könnte sich noch in so viele Richtungen entwickeln.
Wie auch mein Leben.
Wie wird die Geschichte enden? Eine Frage, die ich mir im letzten Jahr selbst oft gestellt habe. Meist nachts, wenn ich wach im Bett lag und meine Gedanken sich rastlos hin und her bewegten, versuchten, an die Tür meiner Zukunft zu klopfen, wissen wollten, wie es weitergeht. Wie wird meine Geschichte enden? Wie wird sich mein Leben entwickeln? Früher glaubte ich es zu wissen. Alles war geplant, und dann – krach! Es macht Angst, ins Ungewisse zu gehen. Es kann überwältigend sein, Panik und Sorgen auslösen.
Aber wenn ich mir diese unvollendeten Seiten anschaue, die hingekritzelten Ideen und vorgeschlagenen Wendungen, wird mir etwas immer klarer und klarer. Nicht zu wissen, wie die Geschichte ausgehen wird, kann auch verdammt aufregend sein.
Ich arbeite gerade hoch konzentriert, als plötzlich mein Telefon klingelt. Den ganzen Tag über hatte ich es ausgeschaltet, um in Ruhe arbeiten zu können, aber eben habe ich meine Bank angerufen. Nach dem Gespräch mit Edward vor ein paar Tagen habe ich mich bei einigen Immobilienmaklern in der Nähe angemeldet, um nach einer Wohnung zu suchen, aber anstatt zu den Mietangeboten wurde ich zu Rupert aus der Verkaufssparte durchgestellt.
Als ich ihm sagte, das sei ein Missverständnis und ich könne es mir nicht leisten, etwas zu kaufen, fragte er mich, ob ich mir schon einmal Mietkauf näher angeschaut hätte, da das deutlich besser zu finanzieren sei. Ich bräuchte nur einen fünfprozentigen Eigenanteil, das sei alles. Zuerst wollte ich die Idee als
absurd abtun. Ich? Eine Wohnung in London kaufen? Haha, sehr lustig. Aber dann kam Crickets nicht unerheblicher Scheck an und ließ mich neu darüber nachdenken: Vielleicht könnte er mein Eigenanteil sein.
Ein winziges Fenster neuer Möglichkeiten öffnete sich, gerade groß genug, um das Telefon in die Hand zu nehmen und meine Bank anzurufen, die mich sicher abblitzen lassen würde. Das tat sie aber nicht. Ganz im Gegenteil, ihnen kam die Idee überhaupt nicht absurd vor, und nachdem sie ein paar Angaben von mir aufgenommen hatten, kündigten sie mir an, dass mich jemand aus der Kreditabteilung zurückrufen würde.
Das mussten sie sein.
»Hallo, hier spricht Penelope Stevens.« Ich bemühte mich, so zu klingen wie jemand, dem man eine große Summe Geld anderer Leute leihen würde.
»Nell, bist du das? Hier ist David, Fionas Mann.«
»Oh, David. Hallo!« Jetzt ist mir meine Telefonstimme doch etwas peinlich. Ich kenne David mittlerweile schon viele Jahre, aber er schüchtert mich immer ein wenig ein. Er ist sehr klug und sehr ernst und beschäftigt sich mit Fusionen und Übernahmen im Wert von mehreren Millionen Pfund. Vor einiger Zeit hat ihn Max mal gefragt, wie man eigentlich, wenn es um so viel Geld geht, die Nerven behalten kann, und er antwortete nur: »Man braucht Eier aus Stahl.« Ich beobachtete, wie Max zusammenzuckte und seine Beine übereinanderschlug.
»Hör mal, ich kann Fiona einfach nicht erreichen. Ihr Telefon ist aus, und Francisca, unsere Nanny, hat mich gerade angerufen, dass sie die Kotzeritis hat …«
»Igitt! Ich meine natürlich, die Arme …«
»Izzy muss von der Schule abgeholt werden, und selbst wenn ich meine nächste Sitzung absage, komme ich nicht mehr rechtzeitig hin, weil ich am anderen Ende der Stadt bin.«
»Keine Sorge, ich hole sie ab«, sage ich, ohne darüber nachzudenken
.
»Bist du dir sicher? Ich würde ja gern andere Eltern fragen, aber um diese Sachen kümmert sich Fiona normalerweise, und sie hat auch die ganzen Telefonnummern …«
»Ist schon in Ordnung, ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Okay, danke. Ich rufe die Schule an, damit sie Bescheid wissen.«
Mir ist jede Ausrede recht, um mein Patenkind zu sehen. Aber die Sache mit Fiona ist schon etwas seltsam. Sie nimmt häufiger nicht ab, aber nie, wenn es um die Kinder geht. Als ich in den Bus steige, frage ich mich, ob mit ihr wohl alles in Ordnung ist. Vielleicht ist sie beim Arzt oder so etwas. Sie hat allerdings nichts davon erzählt … Das heißt jedoch noch nichts, da sie mir in letzter Zeit vieles nicht erzählt hat. Früher haben wir uns mehrmals am Tag geschrieben, dabei ging es um allen möglichen Scheiß, aber mittlerweile vergeht nicht selten eine ganze Woche, ohne dass ich von ihr höre. Aber ich melde mich schließlich auch nicht mehr so oft.
Um die Schule herum herrscht wie immer absolutes Verkehrschaos, die Motoren laufen, und selbst im absoluten Halteverbot parken Eltern. Als ich daran vorbeilaufe, bemerke ich einen weißen Range Rover und erkenne Annabel. Sie sitzt auf der Fahrerseite und telefoniert, ihre manikürten Fingernägel trommeln auf dem Lenkrad.
Ich senke den Blick und beschleunige meine Schritte. Mittlerweile haben wir uns seit dem Sportfest nicht mehr gesehen, die Erinnerung daran schmerzt immer noch, und ich würde gerne jede unnötige Peinlichkeit vermeiden.
Izzy wartet auf dem Schulhof und sieht begeistert darüber aus, dass ich sie abhole. Ich umarme sie, nehme ihren Rucksack und drehe mich zum Schultor um. Auf dem Hof wimmelt es nur so vor Eltern und Nannys, ich laufe neben der Roller
fahrenden Izzy her und höre ihr zu, als sie mir von ihrem Tag erzählt. Annabel bemerke ich erst, als es bereits zu spät ist.
»Nell?«
Gerade noch in eine lustige Geschichte über den Schulhamster vertieft, stehe ich plötzlich Annabel gegenüber, die mich stirnrunzelnd ansieht. Wenn sie denn die Stirn runzeln könnte, versteht sich. Natürlich sieht sie wie aus dem Ei gepellt aus, wohingegen mein Outfit des Tages dasselbe wie gestern ist, nur mit Eiflecken darauf.
»Oh, hallo Annabel.«
»Wo ist Fiona?«
»Beschäftigt.« Ich werde ihr sicher nicht auf die Nase binden, dass ich keine Ahnung habe, wo Fiona steckt. »David hat mich gebeten, Izzy abzuholen.«
»Ach, er hätte doch mich fragen können!« Sie sieht verärgert aus. »Es ist doch wirklich nicht nötig, dass du den ganzen Weg hierher zurücklegst. Izzy kann doch mit Clementine und mir kommen, und ich bringe sie dann später nach Hause.«
Clementine spielt mit Mabel, ihrer französischen Bulldogge, foppt sie mit einem Hundespielzeug. Ich merke, wie Izzy nach meiner Hand fasst.
»Sie können zusammen im Pool spielen.«
»Kann Mabel auch mit in den Pool, Mummy?«, fragt Clementine kichernd, während die arme Mabel sich an ihrer Leine immer um sich selbst dreht.
»Heute nicht, mein Schatz. Heute ist nur für euch Mädchen.« Annabel strahlt Izzy an, die ganz still geworden ist. »Du kannst dir einen von Clementines Badeanzügen ausleihen.«
Izzy umklammert meine Hand immer fester.
»Danke, aber ich glaube, Izzy ist müde. Ich bringe sie heute lieber nach Hause.«
Annabels Lächeln verschwindet. »Ich bin mir nicht sicher, ob Fiona es gutheißen würde, dass du ihrer Tochter den Spaß vorenthältst. Die Mädchen gehen so gerne schwimmen.
«
»Das zu beurteilen überlasse ich Fiona lieber selbst«, erwidere ich freundlich und verabschiede mich dann schnell, bevor Mabel sich selbst erdrosselt, wir entkommen durch das Schultor.
Erst als wir an der Bushaltestelle ankommen, bemerke ich, dass Izzy immer noch sehr still ist. Wir sitzen auf den roten Plastiksitzen an der Bushaltestelle, ich krame ein paar Mandarinen aus meiner Tasche hervor und schäle die erste.
»Du wolltest nicht mit Clementine schwimmen gehen, oder?«, frage ich und gebe Izzy eine halbe Mandarine.
Sie betrachtet jedes Stückchen genau und schüttelt den Kopf, sieht mich dabei jedoch nicht an. Ich bin überrascht, sage aber erst mal nichts. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie penibel die feinen weißen Fäden entfernt, bevor sie sich zufrieden ein Stückchen in den Mund schiebt. Sie lutscht sie gern wie Bonbons.
»Wärst du sauer, wenn dich jemand Hosenscheißer nennt?«, fragt sie plötzlich und sieht mich an.
»Ich habe schon viel schlimmere Namen verpasst bekommen.« Ich lächle. »Warum fragst du, hat jemand Hosenscheißer zu dir gesagt?«
Izzy schaut weg und sucht sich langsam ein anderes Mandarinenstück aus.
»Das sind nur blöde Spitznamen, ignorier sie einfach.«
Stille, dann sagt sie: »Wärst du sauer, wenn dich jemand hauen würde?«
Ich erstarre. »Izzy, hat dich in der Schule jemand gehauen?«
Sie antwortet nicht, aber sie guckt mich auch nicht an. Ich rutsche von dem Plastiksitz und gehe neben ihr in die Hocke, sodass ich ihr ins Gesicht sehen kann. Sie starrt auf die Mandarinenstücke, als hinge ihr Leben davon ab. »Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, nicht wahr?«
Sie macht ein ernstes Gesicht. »Sie hat gesagt, ich soll es nicht erzählen. Wenn ich es erzähle, bekomme ich Ärger.« Ihre
flüsternde Stimme ist durch den brausenden Verkehr kaum zu verstehen.
»Natürlich bekommst du keinen Ärger, warum solltest du auch?«
»Mummy wird wütend auf mich sein.«
»Mummy liebt dich, sie würde niemals wütend auf dich sein. Warum glaubst du das?«
Schon wieder schweigt sie, unerträglich lang.
»Weil wir dann nicht mehr bei ihr schwimmen gehen können.«
Da verstehe ich plötzlich, was sie mir sagen will.
»Weil ihre Mummy mit meiner Mummy befreundet ist.«
»Ich verspreche dir, dass du keinen Ärger bekommen wirst.« Ich strecke Daumen, Zeige- und Mittelfinger aus. »Großes Indianer-Ehrenwort!«
Sie sieht mir in die Augen, fasst mich an der Hand und erzählt mir, wer sie gemobbt hat. Aber natürlich weiß ich es schon.
Clementine.