Ein Haarschnitt
»Du siehst schick aus!«
Als ich am nächsten Abend nach unten komme, steht Edward herausgeputzt vor mir. Er trägt weder seine Yogaklamotten noch sein Arbeitsoutfit, sondern ein echt schönes Hemd, eine Jacke und – das sind doch nicht etwa Designerjeans?
Er reagiert sehr verlegen auf mein Kompliment und weicht meinem Blick aus.
Ich betrachte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Hast du etwa ein Date?«
»Nein, das ist kein Date. Nur ein Abendessen. Mit ein paar Freunden«, fügt er schnell hinzu.
Seitdem ich Edward kenne, war er noch nie mit »ein paar Freunden« abendessen. Bisher gab es nur Yoga, Drinks mit seinen Kollegen nach der Arbeit und ein paar feuchtfröhliche Samstagnachmittag-Fußballspiele mit jemandem namens Pazza, den ich noch nie getroffen habe, der aber wohl ein alter Freund aus Bristol ist, mit dem Edward nächstes Jahr zu Wohltätigkeitszwecken den Kilimandscharo besteigen wird.
»Ist einer dieser Freunde zufällig eine Frau und Single?« Die Frage kann ich mir einfach nicht verkneifen und grinse ihn an.
»Okay, okay«, sagt er mit einer Geste der Kapitulation. »Ein Arbeitskollege versucht schon, mich zu verkuppeln, seitdem ich ihm von der Scheidung erzählt habe. Ich finde jedoch nicht, dass man das ein Date nennen kann, ich bin schließlich noch nicht einmal geschieden. «
»Natürlich ist das ein Date«, antworte ich und muss an meinen eigenen Abstecher in die Datingszene denken. »Das wird bestimmt ein toller Abend.«
Er sieht erleichtert aus, dass ich die Sache billige.
»Aber deine Frisur, na ja.«
Er fasst sich an den Kopf.
»Was stimmt damit nicht?«
»Alles in Ordnung, wenn du so aussehen willst, als hättest du gerade einen Stromschlag bekommen.« Ich lache. »Lass sie mich ein wenig in Form schneiden.«
Er sieht mich an, als hätte ich ihm gerade erzählt, ich wolle einen Spaziergang auf dem Mond machen.
»Du kannst Haare schneiden?«
»Na ja, ich würde jetzt nicht gerade behaupten, dass ich es so gut kann wie Trevor Sorbie, aber Mum war Friseurin und hat mir den ein oder anderen Trick beigebracht.« Ich schnappe mir ein Küchenhandtuch, bevor er es sich anders überlegen kann. »Hier, zieh deine Jacke aus, und leg es dir um die Schultern.«
Er nimmt das Handtuch an, ohne ein Wort zu sagen, während ich den Drehhocker runterstelle, bis er die richtige Höhe hat.
»Setz dich bitte«, fordere ich ihn auf.
Er tut, was ich sage. Ich bin beeindruckt. Bisher war er noch nie so folgsam.
»Okay, ich hole nur schnell die Schere …«
»Warte, ich komme an die dort …«
Er lehnt sich vor und greift nach der Küchenschere an dem magnetischen Wandregal. Die, mit der wir alles schneiden, etwa Blumenstiele kürzen oder die Fettränder vom Speck entfernen.
»Nein, die doch nicht!«, rufe ich.
Er schreckt zurück, als wäre auf ihn geschossen worden. »Warum nicht? Was ist falsch daran?«
Ich verziehe das Gesicht. Lohnt es sich, ihm den Unterschied zwischen guten und schlechten Scheren zu erklären? Wenn es um den Unterschied zwischen Papier und Plastik ginge …
»Warte einfach einen Augenblick, ich hole meine. Ich habe eine Ersatzschere von Mum irgendwo.«
Ein paar Minuten später bin ich schon mit der Schere und einer kleinen Plastikflasche, die wir zum Einsprühen von Bügelwäsche benutzen, zurück, feuchte ihm die Haare an und kämme sie. Sie sind wirklich lang geworden. Er hat sie sicher schon das ganze Jahr über nicht schneiden lassen.
»Den Kopf etwas nach unten«, ordne ich an und stecke das Küchenhandtuch in seinem Hemdkragen fest.
Prompt folgt er meinen Anweisungen: Dieses neue Gefühl der Autorität gefällt mir. Aus der Nähe bemerke ich, dass sein dunkles Haar an vielen Stellen bereits grau wird, aber es ist noch immer dicht und gewellt, und ich kämme die Locken über seinen Kragen, bevor ich vorsichtig mit dem Nacken beginne, erinnere mich daran, was Mum mir erklärt hat, wenn sie mich mit zu ihren Kunden nahm. Ich sah ihr immer ganz fasziniert dabei zu, wie sie geschickt schnitt und formte.
Unverhofft vermisse ich Mum. Seit meine Verlobung aufgelöst wurde und ich zurück nach London gezogen bin, haben wir nicht viel miteinander gesprochen. Nicht richtig zumindest.
»Du verpasst mir aber keinen Igel, oder?«
»Ach, wolltest du etwa keinen?«
Er lacht, und ich arbeite mich am Hinterkopf hinauf. Er bleibt ganz ruhig sitzen, während ich um ihn herumgehe und mit meinen Fingern seine Haare lang ziehe und mit kleinen, präzisen Schnitten in Form bringe. Ich glaube, ich war Edward bisher noch nie so nah. Er riecht sauber, als käme er gerade erst aus der Dusche. Das liegt bestimmt an dem Zitronenduschgel, das ich immer auf dem Regal stehen sehe. Mir fallen ein paar Sommersprossen auf seiner Nase auf, die ich bisher noch nie bemerkt habe. Ich sehe seinen Pulsschlag am Hals. Und eine Stelle, die er vergessen hat zu rasieren .
»Ta-da!«
Ich bin mit dem Schneiden fertig, nehme ihm das Handtuch ab und schüttle es aus. Haare fallen zu Boden.
»Keine Sorge, das fege ich weg«, sage ich, während er aufsteht und sich mit den Fingern durch die Haare fährt, dann verschwindet er im Flur, um sich im Spiegel zu betrachten.
»Wow, du bist ja richtig gut!«
Er klingt erstaunt.
»Tja, ein paar Talente habe wohl auch ich «, antworte ich, als er wieder in die Küche kommt. »Jetzt nur noch ein Produkt, und dann bist du fertig.«
»Stylingprodukt?« Er sieht mich ratlos an.
»Du weißt vielleicht viel darüber, wie man unseren Planeten retten kann, aber von Haaren hast du wirklich keine Ahnung, oder?« Ich hole ein paar meiner eigenen Produkte aus meinem Zimmer und drücke einen erbsengroßen Klecks in meine Hand. »Es verleiht dem Haar mehr Textur und strukturiert es«, erkläre ich, fasse ihm in die Haare und verreibe es vorne, wo die Haare ein wenig abstehen.
Edward sieht mich an, als würde ich eine andere Sprache sprechen.
»Dann kannst du noch hier und da eine Strähne herausziehen, guck, so«, sage ich und spiele mit seinem Pony, dabei vergesse ich vollkommen, wessen Haare ich da gerade berühre.
Als es mir wieder einfällt, zucke ich zurück.
»Ist ja auch egal. Fertig!« Was für ein seltsames Ende. Ich wusste gar nicht, wie intim es sich anfühlen kann, die Haare von jemandem zu schneiden.
Aber Edward scheint es nicht bemerkt zu haben. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst im Spiegel zu betrachten, er dreht sich von einer Seite zur anderen, als würde er sich selbst nicht wiedererkennen.
Jetzt muss ich mich aber auch mal selber loben, seine Frisur ist mir wirklich gut gelungen .
»Ich glaube, das ist der beste Haarschnitt, den ich je hatte«, sagt er schließlich voller Anerkennung.
»Die Trinkgeldkasse steht dort hinten.« Ich lache, und er dreht sich lächelnd zu mir um.
»Vielen Dank!«
»Gern geschehen«, sage ich achselzuckend und lächle ihm hinterher, während er sich die Jacke anzieht und mir zum Abschied winkt.
Dann wird die Tür zugeschlagen, und ich sehe vom Fenster aus, wie er die Straße entlangläuft, um sich neu frisiert mit seinem Date zu treffen. Ich schaue ihm einen Augenblick lang nach, bevor er aus meinem Blickfeld verschwindet.
Tja, so ist das.
Meine Hände kleben, ich drehe mich um und nehme das Küchenhandtuch.