Ein Weihnachtsdrink
Piep, piep, piep, piep  …
Die U-Bahnstation Covent Garden ist völlig überfüllt. Als sich die Aufzugtüren öffnen, werde ich von wahren Menschenmassen empfangen. Touristen, Büroangestellte, Theatergänger, Feierwütige … Als hätte sich die ganze Welt hier versammelt.
Ich werde mit den anderen zusammen ausgespuckt und von der Menge weitergeschoben, durch die Drehkreuze hindurch und hinaus in die frostig kalte Nachtluft. Eine Steelband spielt Jingle Bells und verleiht so der festlichen Atmosphäre einen karibischen Touch, ich bin versucht, stehen zu bleiben und der Musik zu lauschen. Ich gucke auf die Uhr und entscheide mich dagegen. Lieber nicht, ich will nicht zu spät kommen.
Ich mache ein paar Schritte auf dem Kopfsteinpflaster und bahne mir einen Weg zwischen den Pantomimekünstlern und Menschen in Feierlaune hindurch. Noch ein Blick auf die Adresse, die ich auf Google Maps eingegeben habe. An der nächsten Straße links, und auf der rechten Seite sollte es dann sein …
Mein Atem bildet kleine Wölkchen, während ich den Bürgersteig entlanglaufe. Normalerweise gehe ich gern schnell, aber heute Abend trage ich Absatzschuhe, und darin bin ich nicht besonders geübt. Fiona kann in zwölf Zentimeter hohen Stilettos problemlos hundert Meter rennen. Ich nicht. Ich stolpere und schwanke, immer kurz davor zu fallen. Aber was tut man nicht alles dafür, um schlanker und größer zu wirken, und heute Nacht ist mir das besonders wichtig .
Schade, dass einen Absatzschuhe nicht auch jünger machen, aber na ja, zwei von drei ist immerhin eine ganz gute Quote.
Da sehe ich das Hotel vor mir. Am Eingang angekommen, überprüfe ich noch schnell mein Spiegelbild in den großen Glastüren, streiche mir die Haare glatt, schlüpfe aus dem Wintermantel und ziehe meine Bluse zurecht, dann trage ich noch Lipgloss auf und wische es wieder weg.
Ich bin hier, um Ethan zu treffen.
Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Fiona habe ich erzählt, ich sei einfach neugierig, Liza, ich müsse mit der Sache abschließen, Cricket, es ginge doch nur um einen Drink.
Was ich allerdings niemandem erzählt habe, ist, dass ich herausfinden möchte, ob ich ihn immer noch liebe.
Oh, Nell.
Ja, ich weiß.
Er sitzt schon an der Bar. Ich sehe ihn, bevor er mich bemerkt, und so kann ich ihn einen Augenblick lang beobachten. Seine dunklen Haare sind kurz geschnitten, und er trägt ein weißes Hemd. Er wirkt ungewohnt elegant; zu Hause hat er nur T-Shirts angehabt. Außerdem ist er geradezu absurd gebräunt und sieht sehr gesund aus, besonders im Vergleich zu uns bleichen Londonern. Er trinkt ein Bier und guckt auf sein Telefon, dabei streicht er sich übers Kinn wie immer, wenn er konzentriert ist.
Es ist so seltsam, ihn wiederzusehen. Mit diesem Mann wollte ich den Rest meines Lebens verbringen. Er ist mir so vertraut. Trotzdem kommt er mir vor wie ein Fremder.
Als ich näher komme, sieht er auf und lächelt.
»Hi.« Auch seine Augen lächeln. Seine dunklen, fast schwarzen Augen, von denen ich immer dachte, dass ich mich darin verlieren könnte.
Mein Magen spielt verrückt. »Hi«, sage ich und erwidere sein Lächeln .
»Ich freue mich, dass du hier bist.«
»Tja, ich konnte schlecht nicht kommen … wenn du in der Stadt bist.«
»Du siehst gut aus.«
»Danke, du auch. Sehr elegant.« Ich zeige auf sein Hemd.
»Ach, ich komme direkt aus einer Besprechung. Setz dich doch.«
Er zieht den Barhocker neben sich zurück, und ich nehme Platz.
»Wie läuft es denn so?«
»Ja, gut.«
Es geht doch nichts über wohlwollenden Small Talk mit dem Ex, wenn das letzte Treffen von rot geweinten Augen, einer laufenden Nase und einem gebrochenen Herzen dominiert wurde. Jetzt vollführen wir stattdessen einen respektvollen Tanz um die zackigen Kanten unserer gescheiterten Beziehung herum, aus Angst, auszurutschen und uns an den Scherben zu verletzen oder sogar zu verbluten.
»Und bei dir?«
»Gut … danke.«
So verhalten sich Erwachsene eben, oder etwa nicht? Wir weichen aus, tänzeln um etwas herum und behalten unsere Gefühle für uns. Wir sind keine hormongesteuerten, ihren Gefühlen ausgelieferten Teenager mehr (auch wenn die Hormone mir auch heute noch ganz schön zusetzen). Wir sind mittlerweile alt genug, um zu wissen, wie wir uns zu benehmen haben, um nicht alles zu sagen, was wir denken, und um uns bewusst zu sein, dass ein drittes Glas Martini sicher keine gute Idee ist.
Aber etwas zu wissen und etwas zu tun sind nun einmal zwei verschiedene Paar Schuhe.
»Noch einen?«
»Warum nicht?«
Eine Stunde später haben wir es uns in einer Sitzecke gemütlich gemacht. Ich habe ihm alles von Dad und seinem Unfall erzählt, und er hat mir von seinem neuen Job berichtet, wir haben uns nach der Gesundheit unsere jeweiligen Familien erkundigt und uns auch in Bezug auf unsere Freunde auf den neuesten Stand gebracht.
Wenn man es genau nimmt, ist mein schneller Drink nun vorüber und ich sollte aufstehen, meinen Mantel nehmen und mich verabschieden. Dann könnte ich um halb zehn zu Hause sein.
»Weißt du noch die Lychee-Martinis, die wir immer bei Gillespie’s getrunken haben?«
»Na klar, das sind schließlich die besten Martinis, die es gibt.«
Anstatt zur U-Bahn zu gehen, laufen wir den Erinnerungsweg entlang. Zwei Drinks habe ich bereits intus. Ich bitte um ein Glas Wasser.
»Ich war vor ein paar Wochen noch einmal dort. Billy, der Besitzer, hat nach dir gefragt.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass du mich verlassen hast.«
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an.
»Dass ich es versaut habe und dadurch das Beste verloren habe, was mir je begegnet ist …«
Seine Worte bleiben so stehen.
»Ich glaube, ›Ihr geht es gut‹ hätte es auch getan«, sage ich schließlich.
Ethan guckt mich an, und wir müssen beide grinsen. Das. Genau das hat uns ausgemacht. Das war es auch, was mich ihn hat anrufen lassen.
»Es tut mir leid, Nell.«
»Mir auch.«
Und einfach so ist die ganze Wut, die ich ihm gegenüber verspürt habe, der ganze Verlust und der Schmerz und die Streitereien, die uns wie Stacheldraht umgeben haben, wie weggeblasen, und übrig bleiben nur wir beide .
Er sieht mir in die Augen und bittet mich um das Unausweichliche.
»Komm zurück, Nell.«