Weihnachtskarten
Ich habe Amerika verlassen und bin zurück ins Vereinigte Königreich gezogen, weil meine Beziehung zerbrochen ist. Weil ich einen Neuanfang brauchte. Weil mein Visum ablief und mein Unternehmen gescheitert ist. Weil ich pleite war und ein gebrochenes Herz hatte. Weil mich der blaue Himmel und die Sonne krank gemacht haben, als sich in mir alles trostlos und grau anfühlte. Weil ich meine Familie und meine Freunde vermisste. Weil ich es nicht ertragen konnte, zu bleiben und ständig daran erinnert zu werden, was ich alles verloren hatte.
Und weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, und mir der Tee hier besser schmeckt.
Das alles stimmt. Aber ich hätte noch einen weiteren Grund hinzufügen sollen: Die Weihnachtskarten.
Weihnachten ist nie einfach, besonders wenn man Single ist. Noch schlimmer ist es nur, Single und auf der falschen Seite der vierzig zu sein. Unser liebes langes Leben über wird uns eingetrichtert, dass Weihnachten ein Fest der Familie ist, wenn man es also noch nicht geschafft hat, selbst eine zu ergattern, natürlich in Kombination mit einem hübschen Haus, in dem sie leben kann (und in dem ein wunderschön geschmückter Weihnachtsbaum steht), besteht die Möglichkeit, dass man sich ein bisschen wie ein Versager vorkommt.
Um das Ganze noch einmal zu unterstreichen, schicken einem alle Freunde Weihnachtskarten.
Im Gegensatz zu den Briten und ihren unspezifischen
Weihnachtskarten von irgendwelchen Wohltätigkeitsorganisationen gibt es in Amerika die Tradition, personalisierte Karten mit lächelnden Familienfotos drauf zu verschicken. Ein bisschen so wie die von unserer königlichen Familie, nur mit besseren Zähnen.
Und diese Fotos sind schön, ja, das sind sie wirklich, egal, ob es sich dabei um professionelle Schwarz-Weiß-Bilder oder Schnappschüsse vom Strand handelt, auf denen alle Nikolausmützen tragen. Die Kinder sind immer süß, und die Erwachsenen wirken so glücklich, und wenn man dann noch auf der Innenseite liest, was in diesem Jahr alles passiert ist, wie die Kinder sich in der Schule machen und was Neues erreicht wurde, dann denkt man sich, sie müssen wirklich stolz auf ihre Familien und deren Leistungen sein.
Dann stellt man die Karten auf den Kaminsims und gießt sich selbst noch einen Gin ein.
Nein, jetzt aber mal im Ernst.
Eigentlich ist das mein voller Ernst.
Als letzten Dezember alles auseinanderbrach, war es einfach nur unvorstellbar schmerzhaft. Als die Weihnachtskarten eintrudelten, wusste ich, dass ich es nicht ertragen würde, einfach nur dazusitzen und sie alle der Reihe nach zu öffnen, also quartierte ich mich bei Liza ein. Es ist natürlich schön, zu sehen, wenn die eigenen Freunde mit ihrem Leben zufrieden sind, aber diese Familienfotos zeigten mir ganz besonders, was ich alles nicht hatte. Ich starrte auf die Karten und sah darin eine gespenstische Zukunft, die ich für möglich gehalten und dann verloren hatte.
Aber zurück im Vereinigten Königreich brauche ich mir darum keine Sorgen zu machen. Hier gibt es nur glitzernde Rentiere und lustige Bildchen mit Witzen über Schneemänner und Karotten. Ich hebe ein paar von der Fußmatte auf, gehe in die Küche und öffne einen Umschlag nach dem anderen. Diese hier muss von Holly und Adam sein, genau sein Humor. Ich
gucke hinein und entdecke Hollys Handschrift, aber sie hat für Adam mit unterschrieben. Die beiden haben mit einer Paartherapie begonnen. Letzte Woche hat Holly mir geschrieben, dass sie zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig miteinander geredet hätten. Hoffentlich schaffen sie es.
Ich stelle die Karte auf das Regal neben Mums und Dads verschneite Waldlandschaft, eine ihrer üblichen Karten vom National Trust. Manche Dinge ändern sich nicht. Noch nie habe ich mich so sehr darüber gefreut wie dieses Jahr.
Ein transatlantischer Flug scheint jedoch nicht auszureichen, um einer ganz speziellen Weihnachtskarte zu entgehen. Ich gucke auf den Umschlag und erkenne die Handschrift. Sie stammt von ein paar Freunden aus Houston. Ehrlich gesagt, waren es eher Ethans Freunde. Er ist mit dem Ehemann aufs College gegangen, und ich habe sie bei einem Thanksgiving-Dinner kennengelernt, aber seitdem schicken sie immer eine Karte mit verschiedenen Familienfotos und einem ellenlangen Text über ihre Kinder.
Schon vor ein paar Monaten hatte mir die Ehefrau eine E-Mail geschrieben, um nach meiner neuen Adresse zu fragen. Ich versuchte ihr höflich zu sagen, dass das wirklich nicht nötig wäre, sie sich darüber keine Gedanken machen müsse und das Porto sparen könne. Aber sie bestand darauf. Ich versuchte es erneut, sagte, ich wüsste noch nicht, ob ich Weihnachten bei meinen Eltern oder in London verbringen würde, also wollte sie beide Adressen haben. »Ich bin mir sicher, sie wird irgendwann bei dir ankommen«, antwortete sie fröhlich.
Ich will deine verdammte Weihnachtskarte gar nicht!,
hätte ich am liebsten zurückgeschrieben, alles in Großbuchstaben und genauso fröhlich, aber das wäre nicht gerade nett gewesen. Sie meinte es schließlich nur gut mit dem Übermitteln ihrer freudigen Nachrichten. Es war schließlich Weihnachten. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen und so weiter und so fort
.
Natürlich schrieb ich ihr meine beiden Adressen zurück, sagte, ich würde mich sehr über eine Karte von ihr freuen, und wünschte ihr schöne Feiertage!
Vorne auf der Karte ist ein Foto der ganzen Familie mit aufeinander abgestimmten Weihnachtspullovern zu sehen. Sogar der Hund trägt einen. Und ist das da etwa ein Hase? Ich lächle und stelle sie hinter die teure Vase, die Edwards Großtante gehört hat.
»Ist etwas für mich dabei?«
Ich höre, wie die Haustür zufällt, dann kommt Edward mit Schal und Mütze in die Küche. Er hat eine Thermoskanne und eine Yogamatte dabei und sieht aus, wie nur jemand aussehen kann, der seit sechs Uhr in der Früh wach ist und gerade an einem Bikramkurs teilgenommen hat.
Nein, nicht selbstgefällig. Gesund.
»Weihnachtskarten. Hier ist auch eine für dich.« Ich reiche ihm den Umschlag.
»Danke.«
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder der Espressokanne zu.
»Tja, ich habe schon bessere Karten bekommen.«
»Schlimmer als die mit den aufeinander abgestimmten Weihnachtspullovern kann sie doch gar nicht sein«, sage ich lachend und mahle meine Kaffeebohnen.
»Hm … In meiner steht nicht ›Fröhliche Weihnachten‹, sondern eher ›Zur Scheidung viel Glück‹.«
»Was?«
Ich drehe mich zu ihm um und sehe, dass er anstelle einer Karte ein Blatt Papier in der Hand hält.
»Mein endgültiges Scheidungsurteil.«
»Oh, Scheiße! Ich meine natürlich, wow.«
Ich habe keine Ahnung, was man zu jemandem sagt, der gerade rechtskräftig geschieden wurde.
»Besser als die Weihnachtspullover also.
«
Das ist es vermutlich nicht.
»Ja«, sagt er mit einem Nicken, aber sein Gesichtsausdruck ist unergründlich.
»Alles in Ordnung? Das ist doch gut – oder etwa nicht?«
»Tja, ich weiß auch nicht, ob man eine Scheidung als gut bezeichnen kann, besonders wenn Kinder involviert sind.«
»Entschuldige, so meinte ich das nicht …« Ich komme mir taktlos vor. Zurechtgewiesen. Dumm.
»Nein, du hast ja recht«, sagt er schnell, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Es ist das Richtige. Ich bin für uns beide froh.« Er lächelt, aber ich weiß nicht, für wen. »Jetzt können wir endlich einen Neuanfang wagen. Uns weiterentwickeln.«
»Ja.« Ich nicke und frage mich, ob er die Frau meint, mit der er sich in letzter Zeit getroffen hat. Eigentlich würde ich gern fragen, aber irgendetwas hält mich zurück.
»Und was sind deine Weihnachtspläne?«
Und schon haben wir das Thema gewechselt.
»Meine Eltern …«
»Natürlich.« Er nickt.
»Mein Bruder und seine Frau kommen mit dem Baby; wir werden ein volles Haus haben, weil ich auch Cricket einladen möchte.«
»Irgendwann muss ich deine Freundin Cricket mal kennenlernen«, sagt er und schüttet Bio-Haferflocken in einen Kochtopf und fügt Hafermilch hinzu.
Edward sollte wirklich auf Instagram sein.
»Ja«, sage ich und lächle. »Das solltest du wirklich.« Jetzt frage ich mich, ob ich Edward auch einladen sollte. Ich möchte nicht, dass er Weihnachten allein verbringt.
»Ich mache mit den Jungs Skiurlaub.«
»Oh, das wird sicher schön«, schwärme ich. »Gut, dass du Zeit mit ihnen verbringst.«
»Ja, und mit ihren iPhones«, erwidert er grinsend.
Ein Glück, dass ich ihn nicht eingeladen habe. Das wäre
sicher peinlich gewesen – ihn zu fragen, ob er bei meinen Eltern auf dem Sofa kampieren möchte, wenn er stattdessen vermutlich in einem hübschen Fünfsterneresort untergebracht ist.
»Sophie fährt mit ihrem neuen Freund weg.«
»Wow, das ging aber schnell.«
»Na ja, eigentlich nicht. Wir haben uns schließlich schon vor einer ganzen Weile getrennt.« Er sieht mich nicht an, während er in seinem Porridge rührt. »Wir beide haben schon genug Zeit verschwendet. Das Leben ist zu kurz.«
Edward sieht mich jetzt an, unsere Blicke treffen sich. Seitdem ich wieder in London bin, hat keiner von uns ein Wort darüber verloren, was im Krankenhaus passiert ist. Ich habe ihn kaum zu Gesicht bekommen. Ich war so beschäftigt, und er hatte jede Menge Weihnachtsveranstaltungen von seiner Arbeit. Aber wenn ich ihn jetzt ansehe, weiß ich, dass es keiner Worte bedarf. Er war da.
Es ist, als gäbe es ein für andere unsichtbares Zeichen auf einem verdeckten Teil von mir, das außer ihm niemand sehen kann.
Ich muss an Ethan denken. Dann muss ich an das Kinderzimmer von meinem Bruder denken, in dem Edward mir gesagt hat, dass wir uns von jetzt an sagen sollten, was uns auf dem Herzen liegt. Da steht er, dicht neben mir, ich sehe ihn an und denke über all die Sachen nach, über die ich gern mit ihm sprechen würde. Dinge, die ich ihm gern sagen würde.
»Dein Kaffee ist fertig …«
»Oh … danke.«
Aber ich sage nichts davon.
Wofür ich dankbar bin:
- Den Copyshop an der Ecke, bei dem ich meine eigenen Weihnachtskarten mit einem Selfie von mir und Cricket auf der Vorderseite drucken lassen kann; das Foto von uns beiden am Strand in Spanien in diesem Sommer, als
wir beide schon mehrere Negroni intus hatten und ich im Bikini wie eine Irre grinse. Innen steht ein bisschen von dem, was ich dieses Jahr so erlebt habe, inklusive der Neuigkeiten über meinen Podcast, das Theaterstück und vom Spaß-Lauf disqualifiziert zu werden. Dazu gibt es noch ein paar Fotos von Artus und eine Nachricht, in der ich allen Frohe Weihnachten und ein wundervoll chaotisches, großartig ungefiltertes neues Jahr wünsche!
- Die Neuigkeiten meiner Freunde aus Houston, da alle gesund und glücklich sind, sogar der Hase. Sie hätten sich allerdings, wenn es nur nach mir ginge, die Einzelheiten über Jimmys Sauberkeitserziehung sparen können, auch wenn ich mich natürlich für ihn freue, dass er es schließlich geschafft hat. Weiter so, Jimmy, und frohe Weihnachten!
- Edward.