Silvester
Ich kann es nicht glauben? Wie kann es schon so weit sein?
Es ist Silvester, und obwohl über vierzig zu sein jede Menge Herausforderungen mit sich bringt, gibt es auch gute Seiten. Als ich noch jünger war, habe ich immer so viel Druck gespürt, auszugehen und die beste Party zu finden und den meisten Spaß zu haben. Ich hatte FOMO
– die Angst, etwas zu verpassen –, und zwar so richtig. Aber die Zeiten sind längst vorbei. Jetzt verspüre ich JOMO
– die Freude, etwas zu verpassen – und bin glücklich, wenn ich einfach mit einem guten Film und einer Flasche Wein zu Hause bleiben kann. Nicht nur glücklich, sondern geradezu außer mir vor Freude.
Aber dieses Jahr bin ich auf eine Party eingeladen!
»Also eigentlich keine richtige Party«, erkläre ich Cricket, während wir die Käsetheke des nahe gelegenen Feinkostgeschäfts begutachten. »Meine Freunde Max und Michelle kochen ein Curry und laden dazu ein paar Freunde ein.«
»Klingt doch nach einem perfekten Silvesterabend.« Sie hält inne und beäugt einen reifen Brie. »Könnte ich davon ein Stück probieren?«, fragt sie den Verkäufer.
»Es ist ein besonders cremiger Brie aus dem Loire-Tal«, erklärt er und reicht ihr ein Stück.
Cricket sieht entzückt aus. »Großartig. Davon hätte ich gern ein großes Stück.«
»Und wer ist die Frau, bei der du heute Abend eingeladen bist?
«
Auf dem Weg zum Feinkostgeschäft hat Cricket mir von der Einladung zu einem Silvesterabendessen erzählt, und dass »alle immer süße Sachen mitbringen, aber ich finde, dass ein guter Käse viel über einen Menschen aussagt«.
»Sie ist meine Nachbarin und wohnt ein Stockwerk über mir. Sie ist verwitwet, genau wie ich.«
»Wow, das ist doch toll – na ja, du weißt, was ich meine«, füge ich schnell hinzu, aber sie lacht nur.
»Scheint, als gäbe es jede Menge von uns«, sagt sie und nickt. »Oh, könnte ich bitte auch noch ein wenig von der köstlichen Quittenpaste bekommen?«, fragt sie den Verkäufer.
»Und wer kommt noch?«
»Ich weiß nicht so genau. Ich glaube, sie hat viele Freunde. Sie ist noch etwas jünger als ich.« Sie reicht ihre Kreditkarte über den Tresen. »Sie hat erwähnt, dass sie einen Mann einlädt, der letztes Jahr seine Frau verloren hat. Sie glaubt, dass wir einiges gemeinsam haben. Er war früher auch Schauspieler.«
Wir sehen einander an.
»Daran habe ich kein Interesse. Ich bin gern Single.«
»Das kann man nie wissen.«
Sie verzieht das Gesicht. »Auf alte Männer in Unterhosen habe ich gar keine Lust.«
Der Verkäufer gibt ihr die Tasche mit ihren Einkäufen.
»Wunderbar, vielen Dank!«
»Monty war auch ein alter Mann in Unterhose«, merke ich an, als wir den Laden verlassen.
»Das stimmt«, sagt sie mit einem Lächeln. »Aber er war mein alter Mann.«
Ich habe Edward für heute Abend eingeladen. Er kam heute Nachmittag erst aus seinem Skiurlaub zurück und hatte keine Pläne gemacht. »Ich wollte eigentlich mit einem Curry zu Hause bleiben«, sagte er, ohne dabei die Frau zu erwähnen, mit der er sich getroffen hat
.
»Perfekt. Genau das hatten wir auch vor«, antwortete ich, und die Sache stand.
Wir nehmen Artus mit. Wir können ihn wegen des Feuerwerks nicht allein lassen, außerdem wäre es auch nicht dasselbe, ohne ihn zu feiern. Michelle hat versprochen, die Katze ins Schlafzimmer zu sperren.
»Es wird bestimmt schön«, sagt sie fröhlich. »Und wir lernen endlich deinen geheimnisvollen Vermieter kennen.«
»Na, bloß kein Druck«, sagt Edward, als wir an ihre Tür klopfen. Er hat seine besonderen gefüllten Oliven gemacht und sieht ungewohnt verlegen aus.
»Nein, überhaupt nicht«, erwidere ich grinsend, und dann öffnet sich die Tür, und Max steht in Kochmütze und Schürze vor uns.
»Hallo! Kommt rein! Kommt rein! Ich will schließlich nicht, dass ihr erfriert.« Er winkt uns hinein. »Im Gegensatz zu anderen Leuten, nicht wahr?«, sagt er lachend und zwinkert Edward zu, wobei ich es zutiefst bereue, ihm die Geschichte vom Kampf um das Thermostat erzählt zu haben.
Der Rest der Truppe ist schon da. Fiona und David haben ihre Kinder mit der Nanny zu Hause gelassen, und Holly und Adam haben einen Babysitter engagiert. »Wir haben heute ein Date«, informiert sie mich, als sie mich umarmt. »Der Therapeut sagt, es ist wichtig, dass wir uns darauf besinnen, was wir am Anfang unserer Beziehung aneinander mochten.«
»Und? Funktioniert es?«
Sie sieht zu Adam hinüber. Er sitzt bei Freddy, der ihm irgendetwas auf seinem Telefon zeigt.
»Ich glaube schon.« Sie sieht ihn voller Zuneigung an. »Zumindest will ich ihn nicht mehr umbringen.«
»Großartige Neuigkeiten, Nell!«
Wir werden von Max unterbrochen, der noch schnell unsere Gläser auffüllt, bevor er wieder zum Herd zurückmuss, auf dem in zwei großen Töpfen etwas köstlich Duftendes blubbert. »Die
Sache mit der Wohnung – Michelle hat mir davon erzählt. Wirklich toll!«
»Danke«, erwidere ich lächelnd.
»Wie fühlt es sich denn an, seine Untermieterin zu verlieren?«, fragt David und sieht zu Edward hinüber, der mit Michelle in ein Gespräch über irgendwelche neuen, umweltschonenden Windeln vertieft ist.
Ich hatte ihm nachmittags davon erzählt, dass mein Angebot akzeptiert worden war, und er hatte sich für mich gefreut.
»Tja, die Rechnung für die Heizkosten werde ich sicher nicht vermissen«, sagt er und grinst mich an.
»Können nicht einfach alle Männer zusammenziehen?«, schlägt Fiona vor, die gerade aus dem Bad kommt. »Echt, er ist genau wie David. Sollen sie doch alle zusammen frösteln.«
»Nur weil du Hitzewallungen hast, Schatz, heißt das nicht, dass es allen so geht«, sagt David, und Fiona versetzt ihm einen liebevollen Stoß.
»Ich wette, du wirst sie vermissen«, schlägt sie sich auf meine Seite.
»Ja.« Er nickt. »Und Artus wird sie auch vermissen.«
»Die Wohnung ist nur eine kurze Busfahrt entfernt«, sage ich schnell. »Wir können immer noch zusammen spazieren gehen, und ich passe auf Artus auf, wenn du bei der Arbeit bist.«
»Ich glaube, Adam und ich könnten ein paar Tipps von euch gebrauchen«, sagt Holly und grinst. Adam sieht zu ihr auf.
»Oh, ich weiß nicht. Wir schlagen uns doch eigentlich ganz gut, oder?«
Es gefällt mir, wie sie sich anlächeln.
»Also, ich glaube, das wird toll«, sagt Michelle. »Du musst auf jeden Fall eine Einweihungsparty machen und uns alle einladen.«
»Ich glaube nicht, dass ihr alle reinpasst.«
»Du glaubst gar nicht, was alles geht. Wer hätte gedacht, dass wir zu sechst in diesem winzigen Haus leben könnten.
«
»Kleines Haus mit umso mehr Leben darin«, ruft Max und wedelt dazu mit einem Holzlöffel, an dem Dal klebt. »Aber wenn ich den Job bekommen sollte, für den ich mich gerade vorgestellt habe, könnten wir uns vielleicht in Zukunft ein etwas weniger
kleines Haus leisten.«
»Wie viele Bewerbungsrunden hattest du jetzt eigentlich schon mit denen?«
»Sechs. Jetzt fehlt nur noch eine.«
»Ich habe mich nach weniger Dates verlobt«, sagt Edward mit hochgezogenen Augenbrauen. »Aber das ist vielleicht kein guter Vergleich, wenn man bedenkt, dass ich mittlerweile geschieden bin.«
»Und? Triffst du dich mit jemand Neuem?«, fragt Fiona und nutzt damit geschickt die Gelegenheit, sich einzumischen.
Oh, oh. Ich sehe sie an, aber sie weicht meinem Blick bewusst aus. Als Edward und ich angekommen waren, hatte sie mir einen unmissverständlichen Blick zugeworfen, und als sie mich danach zur Seite nahm, fragte sie, warum ich denn niemals erwähnt hätte, wie gut er aussehe.
»Nein.«
Er schüttelt den Kopf.
Ich bin völlig überrascht. Nein?
Fiona sieht zu mir herüber. Sie sieht mich mit GROSSEN AUGEN
an, sie hält das für subtil und denkt, niemand bekäme es mit, aber natürlich bemerkt es jeder.
»Ich dachte … Nell hätte etwas von einem Date erzählt, oder so.«
Eifrig helfe ich Max mit dem Reis.
»Ach das, ja, ich war zum Abendessen mit ein paar Freunden aus«, sagt er lächelnd. »Sie wollten mich verkuppeln …«
Man merkt, dass er das Thema beenden möchte, aber Fiona ist noch nicht fertig.
»Und? Was ist passiert?«
Schüsseln. Wir brauchen Schüsseln
.
»Sie war wirklich sehr nett, aber nichts für mich … und ich auch nichts für sie, glaube ich.«
So, jetzt ist es raus. Es gibt keine andere Frau.
»Ach, das kann ich mir nicht vorstellen. Du wirkst wie eine richtig gute Partie …«
»Essen ist fertig«, unterbreche ich sie mit lauter Stimme. »Wer möchte Papadam?«
Das indische Essen ist fantastisch. Max ist wirklich ein begnadeter Koch, es gibt Chana Masala, ein kräftig gewürztes Dal und für die Fleischesser noch ein Chicken Tikka Masala. Und dazu köstliche Chutneys, Lime Pickles und Raita mit den übrig gebliebenen Papadams, auch wenn alle schon pappsatt sind und kaum noch einen Bissen runterkriegen.
Danach räumen wir den Tisch ab, und Adam spielt seine Silvester-Playlist ab. Wir tanzen zu Prince und fragen uns zum tausendsten Mal, wie jemand mit so viel Talent nicht mehr da sein kann. Das Gleiche sagen wir auch über David Bowie, Tom Petty und George Michael, und die Kinder fragen uns, über wen wir da eigentlich die ganze Zeit reden, und sehen uns an, als wären wir alberne alte Leute. Das sind wir vielleicht auch: alberne alte Leute.
Dann quetschen wir uns alle ins Wohnzimmer, schalten den Fernseher ein und gucken die jährlich wiederkehrende Show Jools’ Annual Hootenanny
und warten auf das Feuerwerk über dem Parlament. Als es so weit ist, zählen wir runter: zwanzig, neunzehn, achtzehn …
Aber Adam hat den Countdown zur falschen Zeit gestartet, und es ist eigentlich schon: drei, zwei, eins.
Wir küssen und drücken uns und wünschen uns gegenseitig ein frohes neues Jahr, und das Feuerwerk explodiert über Big Ben auf dem Fernsehbildschirm. Adam legt den Arm um Holly, Fiona lässt sich mit David auf das Sofa fallen, verschüttet dabei ihren Drink, und Max verschwindet in der Küche,
um ein Tuch zu holen und ein Fläschchen zu machen, während Michelle noch einen Tequila trinkt.
Und Edward küsst mich – und ich frage mich, warum wir so lange gebraucht haben.