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Castel und Theroux
standen unter einem weit ausladenden Regenschirm. Er war schwarz wie die Wolken, die über den Abendhimmel jagten. Schwarz wie die Skelettfinger der Bäume, die nach ihnen zu greifen schienen, um sie auszuwringen und noch mehr Regen aus ihnen zu pressen. Zum Glück gelang das nicht. Der Regen, der bereits fiel und auf den Schirm prasselte, war Castel genug. Schon seit Tagen herrschte dieses Wetter, und es passte zu ihrer Stimmung und zur Stimmung dieses Ortes.
Castel warf einen Blick auf ihr Handy, sah auf dem Regenradar keine Wetteränderung für die kommenden Stunden und schob es zurück in ihre wattierte Regenjacke. Die Jeans steckten in den Gummistiefeln, gegen die sie ihre Schnürschuhe eingetauscht hatte. Die kurzen Haare waren unter einer Strick-Beanie versteckt. Castel reichte Theroux gerade mal bis zur Schulter. Wie um der Kälte zu trotzen, war er lediglich mit einer Lederjacke bekleidet, unter der er ein mit Aufnähern besticktes Hemd trug. Theroux gehörte zu der Sorte Mensch, denen immer warm war, selbst bei Minusgraden, die aber heute zum Glück nicht herrschten. Dennoch waren es zurzeit gerade mal sechs Grad, und ein kalter Wind sorgte mitsamt der feuchten Luft dafür, dass Castel permanent fröstelte.
Der Bereich um das Steinhaus von La Roque-sur-Pernes war weiträumig abgesperrt. Der schmale Chemin de la Grange Neuve stand voller Fahrzeuge – Dienstwagen von der Police nationale und der Gendarmerie, außerdem die Fahrzeuge der Spurensicherung und der Rechtsmedizin sowie ein Leichenwagen und der vom Notarzt, den man hier jetzt nicht mehr brauchte. Castel und Theroux warteten darauf, dass der Fundort der Leiche von den Forensikern freigegeben wurde, was sehr bald der Fall sein würde.
Bis dahin hatten sich Theroux und Castel die Zeit damit vertrieben, Aussagen und Personalien der Wandergruppe zu
notieren und sich das Umfeld der Natursteinhäuser anzuschauen, weswegen Castels Gummistiefel und Therouxs Schuhe voller Matsch waren. Gefunden hatten sie jedoch nichts. Abgesehen davon würde der Regen sowieso jegliche Spuren verwischt haben. In der Hütte hingegen war alles konserviert wie in einer Zeitkapsel.
Wie Castel und Theroux von den Zeugen, der Spurensicherung und dem Notarzt bislang erfahren hatten, erwartete sie dort drinnen eine entsetzliche Szenerie mit einer weiblichen Leiche als Hauptakteurin.
Theroux und Castel merkten auf, als ein kleiner Renault heranrollte. Er parkte am Straßenrand. Der Warnblinker wurde eingestellt. Ein älterer Mann stieg aus, hager, kahler Schädel, dazu eine Wachsjacke. Er spannte einen kleinen Regenschirm auf und ging rasch zu Castel und Theroux, deren signalrote Armbinden mit der Aufschrift »Police« ihm aufgefallen sein mussten.
»Michel Thomas«, stellte er sich mit leiser Stimme vor. Auf Castel wirkte er wie der Gast einer Beerdigung. »Ich bin der Ortsbürgermeister.« Er deutete hinter sich in Richtung La Roque. »Ich möchte mich erkundigen, was geschehen ist. Die Menschen sind beunruhigt. So viel Polizei … Man sprach davon, es sei eine Tote gefunden worden.«
»Wer sagt das?«, fragte Theroux.
»Wanderer. Eine Trekkinggruppe. Sie sind im Ort eingekehrt, um sich aufzuwärmen, zu trocknen, etwas zu trinken und zu essen. Alle waren außer sich.«
Theroux und Castel wechselten einen Blick. Das sprach sich ja schnell herum. Hoffentlich hatten die Zeugen nicht allzu viele Details erwähnt. Andererseits wäre das ein Wunder – bei diesen bizarren Rahmenbedingungen. Zum Glück hatte die Presse noch keinen Wind davon bekommen und störte die Polizei nicht bei der Arbeit. Zumindest noch nicht. Aber das konnte sich sehr schnell ändern.
»Es wurde eine Leiche gefunden«, sagte Theroux. Das Offensichtliche konnte er ruhig zugeben. Angesichts des Fuhrparks und Personenaufgebots erklärte sich ja fast von selbst, dass an Ort und Stelle etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein musste.
»Gott«, sagte Thomas.
»Mit dem hat das nicht viel zu tun, fürchte ich.«
»Weiß man … Wissen Sie, wer …«
»Wir wissen noch gar nichts. Und wenn, dann dürften wir nicht darüber sprechen.«
»War es ein Verbrechen?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil … Was man im Ort erzählte …«
»Allem Anschein nach ja.«
»Entsetzlich«, murmelte Thomas und starrte in eine Pfütze. Dann sah er wieder zu Theroux und Castel. »Wenn es irgendetwas gibt, bei dem ich helfen kann …«
»Dann melden wir uns«, kürzte Theroux ab.
»Vermisst man denn jemanden im Ort?«, fragte Castel.
Thomas zuckte mit den Achseln, dachte nach, wog ganz offensichtlich ab, ob er etwas sagen sollte oder nicht, rang sich dann aber durch und sagte: »Die Kleine aus der Wäscherei vom Hotel-Restaurant Banatais ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Der Inhaber war außer sich. Das muss nichts bedeuten, aber …«
»Banatais? Was ist denn das für ein Name?«, erkundigte sich Theroux.
»Die Ortsgeschichte«, erwiderte Thomas, als sei das Erklärung genug.
»Wie heißt die Frau?«, fragte Castel.
»Stéphanie Kaufmann.«
»Können Sie sie beschreiben?«
»Sie müsste Mitte zwanzig sein. So groß wie Sie vielleicht, schwarze Haare bis hier.« Thomas markierte einen Strich am Hals. »Immer sehr freundlich. Lebt im Haus ihrer Eltern ganz in der Nähe.«
»Wo ist das?«
»Die Straße runter, aber in die andere Richtung.«
Castel nickte.
»Ist sie … Ist denn … Die Leiche …«, stammelte Thomas.
»Wir wissen noch gar nichts«, wiederholte Theroux. »Und wenn wir etwas wissen müssen, melden wir uns bei Ihnen.«
Thomas nickte.
Castel merkte auf, als der Leiter der Spurensicherung sie
heranwinkte und signalisierte, dass sie jetzt den Fundort betreten könnten.
»Tut mir leid«, sagte Castel, »wir müssen jetzt an anderer Stelle weiterarbeiten. Aber vielen Dank für die Informationen.«
Damit ließ sie ihn am Straßenrand stehen und marschierte los. Theroux folgte ihr auf dem Fuß.
Der Kies knirschte unter Castels Schritten. Sie schloss den Regenschirm, duckte sich unter Flatterband der Polizeiabsperrung hindurch und lief dann voran zum Eingang der Steinhütte, wo die Spurensicherung in ihren faserfreien weißen Overalls wartete und Castel und Theroux Platz machte, damit sie eintreten konnten.
Im Inneren sah es aus, als werde gerade ein Horrorfilm gedreht. Doch dieser Horror war sehr real. Brutal real im grellen Licht der LED
-Scheinwerfer, die in den Ecken des Raumes auf Stativen standen. Der Gestank war enorm.
Castel zog ein Döschen Anis-Menthol-Paste aus der Tasche, öffnete sie, rieb sich etwas davon unter die Nase und bot Theroux etwas davon an, der aber mit einem Kopfschütteln ablehnte. Castel verschraubte das Döschen wieder und ließ es in der Tasche verschwinden, während sie mit den Augen alles in sich aufsog.
Nichts von dem hier würde sie jemals wieder vergessen können. Es würde sie in Momenten heimsuchen, in denen sie nicht damit rechnete. Es würde in wachen Nächten durch ihre Gedanken blitzen und noch in Jahren immer wieder auftauchen. Wenn sie Blumen sehen würde. Ein weißes Kleid. Immer wieder, dachte sie, würde sie dann an die Borie von La Roque-sur-Pernes zurückdenken müssen und wäre hilflos dabei, es zu unterdrücken.
Der Boden war gespickt mit Markierungen der Spurensicherung. Es würde eine Heidenarbeit sein, sie jeweils zu isolieren, zuzuordnen und nach dem Ausschlussprinzip zu ermitteln, welche Spuren zum Täter und welche zum Opfer gehörten. Die Chancen, etwas Brauchbares zu finden, waren nicht die schlechtesten: Castel ging davon aus, dass die Leiche erst seit wenigen Tagen hier lag und seit der Ablage nur die Trekkinggruppe den Raum betreten hatte – und der Täter.
Die zur Steinhütte gerufenen Gendarmen hatten alle Wanderer geistesgegenwärtig zusammengehalten und nach La Roque ins
Trockene gefahren, wo die Forensiker der Gendarmerie und der Police nationale einerseits die Personalien feststellen und andererseits Abdrücke der Schuhprofile anfertigen konnten. Offensichtlich hatten sie die Gruppe in ein Restaurant gebracht. Davon hatte dann der Ortsbürgermeister gehört und war direkt hierhergekommen.
Die Leiche befand sich in der hintersten Ecke der Steinhütte und sah auf den ersten Blick aus wie eine zu groß geratene Flickenpuppe. Sie lag auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Bettdecke, die so weiß war wie das Kleid und die Strümpfe, mit denen die Tote bekleidet war. Sie ruhte friedlich auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch gefaltet. In den Händen hielt sie einen welken Strauß. Getrocknete Blumen rahmten sie ein. Außerdem waren ihr welche ins schwarze Haar geflochten.
Die Augen standen offen und starrten ins Nichts. Das Gesicht war geschminkt, doch die Farbe konnte nicht verdecken, dass der Verwesungsprozess des Körpers längst im Gange war. Außerdem musste man kein Rechtsmediziner sein, um die schwarzen Abdrücke am Hals der Frau zu deuten: Sie war gewürgt worden, vermutlich bis zum Tode. Andererseits gab es mehrere dunkle Stellen auf dem Boden, getrocknete Pfützen, bei denen es sich nach Castels Einschätzung durchaus um Blut handeln könnte.
»Sie sieht aus wie eine Braut«, hörte Castel Theroux sagen.
»Ja«, sagte Castel, räusperte sich mit trockener Kehle und sagte es dann noch einmal deutlicher: »Ja, wie eine Braut gebettet.«
»So ein Irrsinn.«
Da hatte Theroux nicht unrecht. Außer dem Tod war es der pure Wahnsinn, der in diesen Mauern eingefangen war, diese Inszenierung der Toten … Castels Magen fühlte sich an, als werde er zusammengepresst. Das hier war keine Tat im Affekt gewesen. So viel stand für sie fest: Das hier war vielmehr von langer Hand geplant worden. Der Mörder hatte umgesetzt, wovon er träumte, sich in aller Ruhe mit der Toten befasst und sich viel Zeit dabei gelassen.
Castels erster Eindruck war, dass der Täter sie erst nach dem Ableben so bekleidet hatte. Alles war makellos sauber. Hätte die Frau in diesen Sachen um ihr Leben gekämpft, wären sie schmutzig,
zerrissen, verrutscht. Außerdem musste er die Kleidung irgendwo in der passenden Größe gekauft haben, ebenso die Blumen.
Diese Vorbereitung, die ritualisierten Handlungen, die Zurschaustellung … Castel hatte so etwas noch nie gesehen. Und vielleicht war es nicht das erste Mal, dass der Täter das getan hatte, vielleicht auch nicht das letzte. Zudem die dunklen Flecken auf der Erde …
»Was für eine Freakshow«, sagte Theroux. »Was meinst du: Könnte das die Vermisste aus dem Ort sein?«
Castel zuckte die Achsel. Persönliche Gegenstände der Toten waren bislang nirgends gefunden worden. Es könnte sich um die Vermisste handeln – oder um irgendjemand ganz anderen. Castel fröstelte noch stärker als draußen. Ihr war eiskalt.
Sie sagte: »Wir werden uns Fotos der Vermissten besorgen und sie mit Fotos der Leiche abgleichen.«
Berthe, die Rechtsmedizinerin aus Nîmes, kam jetzt mit ihrem Assistenten herein. Bruno Grinamy, der Leiter der Spurensicherung, begleitete sie. Grinamy müsste eigentlich schon längst im Ruhestand sein. Aber es gab Personalnotstand, weswegen man ihn gebeten hatte, noch etwas Zeit dranzuhängen. Grinamy hatte zugesagt, wahrscheinlich nur allzu gern.
Jetzt blieb er neben Theroux und Castel im Hintergrund stehen, um Berthes Arbeit nicht zu behindern. Sie trug ihre typische Brille mit dem roten Gestell und einen faserfreien Overall, um bei der ersten Leichenbeschau keine Fremdspuren an der Leiche zu hinterlassen. Erst später oder morgen würde sie den Körper auf dem Seziertisch genau untersuchen. Unter ihrer Nase glänzte es. Sie verwendete ebenfalls Mentholpaste gegen den schier unerträglichen Geruch, dachte Castel. Erstaunlich, dass er Theroux überhaupt nichts auszumachen schien.
»Ist sie hier getötet worden?«, fragte Castel.
»Schwer zu sagen«, erwiderte Grinamy und deutete hinter sich. »Wir sind der Meinung, dass es am Eingang Schleifspuren gibt. Der Körper könnte demnach zumindest hierhergebracht worden sein – ob tot oder lebendig, lässt sich daraus nicht schließen. Auf dem Boden befindet sich sehr viel getrocknetes Blut, wenngleich wir auf den ersten Blick keine erkennbaren Verletzungen gefunden haben.
Augenscheinlich ist sie aber stark gewürgt worden.«
Die Pfützen, dachte Castel, waren also tatsächlich Blut, wie sie vermutet hatte.
»Habt ihr irgendetwas …«
»Nein«, kürzte Grinamy ab. »Keine persönlichen Dokumente, gar nichts. Über das hinaus, was sich auf der Bettdecke befindet, haben wir nichts weiter gefunden.«
Theroux brummte unzufrieden. Als jemand nach ihm rief, verschwand er nach draußen. Castel beobachtete, wie Berthe den Kopf der Leiche untersuchte. Die Rechtsmedizinerin hatte Latexhandschuhe übergestreift, wendete das Kinn des Opfers nach links und rechts und sprach leise mit ihrem Assistenten, der einige Fotos machte. Sie behandelte die Tote fast schon pietätvoll. Der Eindruck würde sich sicherlich ändern, sobald Berthe ihre Assistenten im Obduktionssaal die Rippenschere und die Knochensäge für die Schädelöffnung zur Hand nehmen ließ.
Berthe sagte immer: »Der leblose Körper ist nur noch eine leere Hülle. Es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, was mit ihm geschehen ist und wer dafür verantwortlich ist. Das ist der letzte Respekt, den wir einem Menschen erweisen können.«
Jetzt sagte Berthe beiläufig: »Ich nehme an, dass die Leiche hier bereits vier Tage liegt. Es gibt Male am Hals und dem Anschein nach Einblutungen in den Augen und der Gesichtshaut, was für starkes Würgen spricht. Der Verwesungsprozess ist nicht weit fortgeschritten. Der Geruch kommt in erster Linie davon.« Sie deutete auf die dunklen Flecken auf dem Boden – das getrocknete Blut. Blut roch sehr schnell entsetzlich. Jeder kannte das, wenn er Verpackungen von Lebensmitteln entsorgte, in die vorher Fleisch eingewickelt war. Den Effekt musste man mindestens verhundertfachen, wenn man es mit frischem Blut im Literbereich und anderen Körpersäften zu tun hatte.
»Ich kann noch nicht sagen«, fuhr sie fort, »woher das viele Blut stammt. Die Leiche sieht sauber aus. Es gibt keine Blutflecken auf dem Kleid oder der Decke, aber sehen wir doch mal nach.«
Berthe griff in ihre antik aussehende Ledertasche, ein klassischer Arztkoffer, nahm eine Schere heraus und schnitt damit das Kleid der Leiche am Ausschnitt etwas auf. Sie wollte den Körper offensichtlich
nicht bewegen und auf den Rücken drehen, um dort einen Reißverschluss zu öffnen.
Castel konnte nicht sehen, was Berthe sah.
Aber sie hörte Berthe sagen: »Oh. Mein. Gott.«