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»Kein Schokocroissant heute?«
, fragte Berthe.
Albin schüttelte den Kopf und faltete die Hände im Schoß. Er seufzte, fasste dann in die geräumige Tasche seines dunkelblauen Dufflecoats und förderte eine kleine Packung Calissons zutage.
»Ich weiß«, murmelte er und wollte sie auf dem Tisch platzieren, »nur ein schwacher Trost.«
»Schuft«, sagte Berthe und nahm sie ihm schnell aus der Hand.
Albin schmunzelte, sagte aber: »Es tut weh, so bezeichnet zu werden. Schokocroissants konnte ich dir nicht bringen, weil der Bäcker nicht auf dem Weg lag. Aber ich dachte, Calissons und Berthe, das geht gut zusammen.«
»Die Antwort ist dennoch: Nein.«
Berthe drehte sich auf dem Absatz um und ließ Albin allein auf dem Flur des Instituts stehen. Tyson hatte er bei der netten Empfangsdame gelassen, die erfreut darüber zu sein schien und sogar Leckerchen in der Handtasche hatte. Für einen Moment hatte Albin darüber nachgedacht, ob sie selbst einen Hund hatte oder nur tierlieb war und die Häppchen inzwischen deshalb mitnahm, weil gelegentlich dieser große alte Mann mit dem kleinen süßen Hund unter einem Vorwand vorbeischaute und den Hund dann bei ihr ließ.
Er sagte: »Berthe. Nun sei doch nicht so hart.«
Albin setzte sich in Bewegung und ging ihr hinterher. Seine Schuhe quietschen auf dem Fußboden. Die von Berthe ebenfalls.
»Nein«, wiederholte sie.
Albin konnte von hinten erkennen, wie sie die Pralinenschachtel öffnete und sich im Gehen eines der Marzipanhäppchen in den Mund schob.
»War denn die Obduktion bereits?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte Berthe mit vollem Mund, steckte die Schachtel in
die Tasche ihres hellgrünen Arztkittels und bog nach rechts in einen weiteren Flur ab. »Sprich mit Castel oder Theroux. Die sind gerade weg. Ich habe zu tun. Auf mich wartet ein weiterer Kunde.«
»Aber ich bin polizeilicher Berater und …«
Albin hörte Berthe auflachen, schloss dann zu ihr auf und sah sie neben sich grinsen und kauen. »Das kannst du vergessen, Albin. Ich darf dir dennoch keine Auskunft erteilen.«
»Also war es Mord?«
»Wie kommst du zu diesem Schluss?«
Berthe stieß die Flügeltür aus poliertem Edelstahl vor sich auf. Dahinter öffnete sich der Obduktionssaal. Der Boden war weiß gefliest, die Wände ebenfalls. Es gab drei fest eingebaute Tische mit Ablaufrinnen, die ebenfalls aus Edelstahl waren. Darüber befanden sich große, schwenkbare Operationslampen, daneben Rollwagen mit allen möglichen Dingen – Sezierbesteck, Autopsiewaagen, Gefäße aus Metall in verschiedenen Größen und andere Dinge. Auf einem Tisch sah Albin die Leiche eines älteren Mannes liegen, dessen Untersuchung gerade von Assistenten vorbereitet wurde. An einem anderen Tisch war ein weiterer Assistent damit beschäftigt, Blut und weitere Körperflüssigkeiten mit einer Handbrause von der Oberfläche zu spülen.
Berthe steuerte auf ebendiesen Arbeitsplatz zu. An der Seite stand ein recht großer Wagen aus Edelstahl, mit dem die Leichen zu den in der Wand angebrachten Kühlfächern geschoben wurden. Ein recht praktisches System: Der Bestatter fuhr auf das Institutsgelände und dann mit seinem Leichenwagen in eine Art Schleuse neben dem Gebäude, schob einen Körper in eines der Fächer. Die Tür wurde verplombt. Dasselbe Fach konnte man von innen öffnen, den Körper zur Obduktion einfach herausziehen und danach dort wieder ablegen. Ein solcher Prozess wurde gerade offensichtlich vorbereitet, denn auf der Metalloberfläche des höhenverstellbaren Schubwagens lag der Körper einer gerade sezierten jüngeren Frau. Auf einem weiteren Tisch waren alle möglichen Kleidungsstücke ausgebreitet. Es lagen Aktenmappen herum, ein Tablet, Fotoausdrucke und ein Kamera-Set. Berthe blieb dort stehen, wendete sich zu Albin um und wischte sich mit dem kleinen Finger einen Krümel Zuckerguss aus dem Mundwinkel. Sie blickte ihn
abwartend an.
Albin musterte die Kleidungsstücke, eine Decke, merkwürdige getrocknete Blumenarrangements. All das musste zu der Leiche gehören und war an ihr oder bei ihr gefunden worden. Jede Faser würde akribisch und mikrobiologisch auf DNA
-Material und sonstige Spuren untersucht und analysiert werden. Er warf noch einen Blick auf die Blumen, prägte sie sich ein und machte eine gedankliche Notiz, dass er davon gleich noch ein Foto mit dem Handy machen sollte, um es Veronique zu zeigen, die schließlich einen Blumenladen führte und daher vom Fach war. Dann blickte er zurück zur Leiche, musterte sie erneut.
Er hatte zwar keinen Zweifel, aber fragte dennoch: »Ist sie das?«
Berthe zuckte zur Antwort mit den Achseln und nahm noch ein Calisson aus der Kitteltasche, um es zu essen.
Albin betrachtete die Leiche. Die weiße Haut. Darin dicke schwarze Nähte von der Obduktion. Die Haare an den Stellen zum Teil rasiert, wo die Schädeldecke zur Untersuchung des Gehirns aufgesägt worden war. Überall Verfärbungen vom beginnenden Verwesungsprozess, insbesondere am fast schwarzen Hals. Das sprach ohne Zweifel für Erwürgen. Dennoch gab es weitere sehr auffällige Dinge an dem Körper, auf die sich Albin keinen Reim machen konnte. Er hatte schon zahllose Obduktionen verfolgt, die Körper von Mordopfern zu Berthe begleitet und danebengestanden, wenn die Untersuchung streng gemäß den genormten Vorschriften vollzogen wurde. Aber das hier erschloss sich ihm einfach nicht.
»Warum«, fragte er und deutete mit einem Nicken zu der Leiche, »habt ihr ihr die Brüste abgenommen?« Denn anstelle der Brüste wies der Körper mit dickem Zwirn vernähte Narben, die etwas anders aussahen als die vom Schambein bis knapp unter das Kinn verlaufende.
»Haben wir nicht«, sagte Berthe und zerbiss das Calisson.
Eine Nadel aus Eis stach in Albins Herz.
»Die Vagina …«
»Haben wir ebenfalls nicht entfernt«, sagte Berthe und kaute weiter.
Albin stellten sich die Nackenhaare auf. »War das
der Täter?«
»Ja«, kürzte Berthe ab. »Sieht ganz danach aus.«