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»Die Amputationen sind am Fundort vorgenommen worden. Davon gehen wir aus«, sagte Castel und blickte in die Runde. »Die Ergebnisse der Spurensicherung liegen noch nicht vor. Aber bei den Mengen an Blut in der Hütte muss es vom Opfer stammen. Es stammt von der Amputation.«
Castel redete schnell und präzise, fuhr sich gelegentlich durchs kurze Haar und entblößte dabei das Tattoo mit dem arabischen Schriftzug an ihrem Handgelenk. Ein Name aus einer anderen Zeit. Eine Dummheit.
Im Lage- und Besprechungsraum stand sie vor einem Whiteboard und einem großen Bildschirm, auf dem man Fotos oder Videos aufrufen konnte. Im Moment war er allerdings ausgeschaltet. Während sie sprach, malte Castel mit einem roten Marker Kreise und Linien zwischen den Fotoausdrucken auf dem Whiteboard, schrieb Uhrzeiten, Daten und Namen auf. Die Fotos zeigten Ansichten der Leiche, außerdem gab es Bilder vom Fundort sowie von in der jüngsten Zeit vermissten Personen. Eine Handvoll Kriminalbeamter, die zu der aus dem Boden gestampften Ermittlungsgruppe zählte, saß auf Bürostühlen und hörte ihr zu. Theroux stand neben Castel, mit der Hüfte an einen Tisch gelehnt und einem Kaffeebecher in der Hand, und nickte zu ihren Worten.
»Zwei wahrscheinliche Szenarien«, sagte sie. »Er geht mit dem Opfer in die Hütte, erwürgt es und nimmt die ritualisierten Handlungen vor. Oder er hat das Opfer woanders überwältigt und bringt es tot oder bewusstlos in die Hütte. Unklar ist, ob er es betäubt hat, unter Drogen gesetzt oder betrunken gemacht hat. Das müssen die toxikologischen Gutachten erbringen, was ein oder zwei Tage dauern wird. Vorher erhalten wir auch nichts Belastbares von der Spurensicherung. Allerdings sind Schleifspuren gefunden worden. Sie könnten vom Opfer stammen. Daher gehen wir von Szenario zwei aus: Der Täter hat das Opfer tot oder bewusstlos in die Hütte gebracht.«
Castel blickte in die Runde, musterte das mit Bildern und Notizen gespickte Whiteboard. Sie wusste, dass Tag für Tag neue Informationen hinzukommen und andere als nutzlos verworfen werden würden. Alles war im Fluss.
»Entweder«, fuhr sie dann fort, »Täter und Opfer kannten sich persönlich, und der Täter wusste über ihre Gewohnheiten Bescheid. Oder er hat sie beobachtet. So oder so ist das Vorgehen planvoll. Er hat einen passenden Tag und Ort gewählt. Er hat Blumen gekauft, und ich will wissen, woher er sie hat und was das für Blumen sind. Ich will wissen, woher das Brautkleid und die Decke stammen. Laut Rechtsmedizin sind die Amputationen sorgfältig durchgeführt worden, weisen aber keine medizinischen Vorkenntnisse aus. Er hat vermutlich ein herkömmliches Skalpell benutzt, in jedem Fall eine sehr scharfe Klinge, aber konzentrieren wir uns auf ein Skalpell. Wer verkauft die in der Gegend? Wer hat zuletzt wo welche erworben? Außerdem will ich alles über Mordfälle mit Amputationen von Geschlechtsorganen aus den vergangenen fünf Jahren wissen – innerhalb ganz Europas. Der Täter könnte ein Reisender oder Zugezogener sein.«
Castel machte eine Pause. Beobachtete, wie sich die Kollegen Notizen machten.
»Stéphanie Kaufmann«, sagte sie dann und deutete auf den Ausdruck eines Passbildes an der Wand, das eine hübsche Dunkelhaarige mit großen braunen Augen zeigte. »Auf sie fokussieren wir uns zunächst. Achtundzwanzig Jahre alt, alleinlebend in einem Haus bei La Roque, Hotelfachangestellte und in La Roque-sur-Pernes im Hotel Banatais angestellt. Sie ist seit drei Tagen nicht zur Arbeit gekommen. Die Steinhütte, in der sie gefunden wurde, liegt unweit ihres Wohn- und Arbeitsortes. Größe, Haarfarbe und Alter der Leiche könnten zu ihr passen. Bei der Leiche haben wir nichts gefunden, das auf ihre Identität hindeutet. Vermutlich hat der Täter alles an sich genommen. Wir benötigen daher den Beschluss für eine Hausdurchsuchung bei Stéphanie Kaufmann, um DNA -Material für einen Abgleich mit der Leiche zu sammeln und um festzustellen, ob wir noch etwas finden, womit wir was anfangen können: Adressen von Freundinnen, Verwandten, einem möglichen aktuellen oder früheren Sexualpartner, das volle Programm also. Ich muss euch eure Arbeit nicht erklären.«
Einige nickten, schmunzelten über Castels Bemerkung. Natürlich kannten alle das Standardverfahren bei Mordermittlungen und wussten, dass in mehr als neunzig Prozent aller Fälle bei Tötungen von Frauen die Täter männlich und im näheren Umkreis des Opfers zu finden waren. Allerdings handelte es sich in diesen Fällen meist um emotionale Affekttaten, die für gewöhnlich eines der Basismotive hatten: Kränkung und Verletzung des Selbstwertgefühls, Rache, sexuelle Motive, Eifersucht, Hass.
In dem Fall von La Roque-sur-Pernes mochte es zwar sein, dass der Täter das Opfer aus dem Affekt heraus erwürgt und dann verschleppt hatte. Aber Castel glaubte nicht daran, und alles sprach dagegen. Es lag nach ihrer Auffassung so, dass der Mörder ein Versteck gewählt hatte, um seinen Leidenschaften nachzugehen und seine Ideen umzusetzen – sich eine Braut zu gestalten und ihr außerdem die Geschlechtsorgane zu entfernen. Das sagte eine Menge über den Täter aus und reduzierte gleichzeitig die statistische Wahrscheinlichkeit einer Affekthandlung als klassische Beziehungstat. Wenngleich Castel noch keine Ahnung hatte, was genau diese Inszenierung am Fundort über den Täter verriet. Aber es war sowieso noch zu früh, sich in die abstruse Gedankenwelt des Mörders zu vertiefen. Davor lag jede Menge handfeste Ermittlungsarbeit nach dem Standardverfahren: Spurensicherung, Befragungen …
Es war, als stünde man in einem Museum in einigem Abstand vor einem Bild und trat dann immer näher heran, entdeckte mehr und mehr Details. Und erst nachdem man wusste und verstand, was man sah, hatte man eine solide Basis für die Interpretation und das Erkennen von Bezügen und Bedeutungen, konnte wieder einige Schritte zurücktreten und das Bild dann erneut in Gänze erfassen – unter anderen Vorzeichen.
Schließlich verteilte Castel die Aufgaben innerhalb der zunächst siebenköpfigen Ermittlergruppe, vier Männer und drei Frauen – inklusive Castel.
»Herbault und Griffon, ihr nehmt euch die Wandergruppe vor. Wir haben bislang nur die Aussagen, die die Gendarmerie aufgenommen hat. Wir benötigen unsere eigenen. Varis und Moreau, ihr kümmert euch bitte um das Brautkleid, die Blumen und die Frage nach der Tatwaffe. Zahir, ich hätte gerne, dass du eine Recherche nach ähnlich gelagerten Fällen in Auftrag gibst und vorsorglich alles über Stéphanie Kaufmann besorgst, was wir haben. Theroux und ich kümmern uns um die Hausdurchsuchung, die Spurensicherung und die Labordaten und durchkämmen die Vermisstendatenbank. Das war’s dann – ich wünsche allen einen schönen Tag.«
Stühlerücken, allgemeines Gemurmel. Die Kollegen verließen den Raum. Sonderlich begeistert schien niemand zu sein, vor dem Fest der Feste mit einem solchen Fall befasst zu werden – denn ein Mord, zudem ein derartiger, bedeutete jede Menge Arbeit und Überstunden. Castel ärgerte sich darüber, dass sie nicht mehr Leute zur Verfügung hatte. Einige waren bereits im Urlaub, hatten sich extra in der stressigen Zeit vor den Feiertagen freigenommen, weil die Zeit nach den Feiertagen meist noch stressiger wurde. Dann nämlich hatte die Polizei mit jeder Menge Trunkenheitsdelikten, Körperverletzungen, Familienstreitigkeiten sowie anderen Dingen zu tun, die die Leute dann anstellten, wenn sie in den Ferien zu viel Zeit miteinander verbrachten und ihnen die dunkle Jahreszeit zu sehr an den Nerven zerrte. Aber wie gesagt: Vor Weihnachten war es nicht wesentlich besser. Da dominierten zumeist Streits und Schlägereien auf den Weihnachtsmärkten, Taschendiebstahl und sonstige Kleinkriminalität. Dass nun mitten in diesen Wahnsinn ein derartiger Mord wie ein Komet einschlug – na schönen Dank auch.
Castel und Theroux packten ihre Sachen zusammen. Theroux räusperte sich, zog die Nase hoch, fasste sich an den Hals.
»Ich glaube«, sagte er, »ich habe mich in dem dämlichen Steinhaus erkältet.«
»Salbei. Zitronentee. Heiße Milch mit Honig«, sagte Castel beiläufig, klappte eine Mappe mit Bildern zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Dann verließen sie und Theroux ebenfalls den Raum. Dabei wären sie beinahe gegen einen Schrank von einem Menschen gelaufen, der unmittelbar neben der Tür stand. Ein Schrank mit weißen Haaren.
»Wir haben es mit einem verdammter Serienkiller zu tun«, sagte Albin Leclerc und sah aus, als verkünde er gerade den Tag des Jüngsten Gerichts.