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Albin hatte das Hôtel de Police mit Tyson verlassen und war auf dem Weg noch schnell zum Auchan in der Zone commerciale Avignon Nord gefahren, um diverse Besorgungen für das Weihnachtsessen zu tätigen. Zwar war bis dahin noch etwas Zeit. Aber Veroniques Pläne glichen nach Albins Einschätzung denen des Galadiners beim Neujahrsempfang des Präsidenten. Nichts gegen ein Galadiner, Gott bewahre. Allerdings war Albins kleine Küche eher nicht dafür gebaut worden, eine Horde von Weihnachtsgästen mit einem Acht-Gänge-Menü und den anschließenden Leckereien der dreizehn Köstlichkeiten zu versorgen. Weswegen Veronique bereits seit zwei Wochen mit der Logistik befasst war. Ihre Küchenplanung folgte außerdem einem strengen Beschaffungsraster von Zutaten, weswegen Albin beinahe täglich bei Lebensmittelhändlern, in Supermärkten und sonstigen Fachgeschäften zu Gast war, wo er bereits ein mittleres Vermögen gelassen hatte.
Der Auchan war ein gigantischer weißer Klotz und hatte mehr Kassen als manche Flughäfen Gates. Albin verlief sich dort regelmäßig und war im Übrigen von dem Angebot vollkommen überfordert. Deswegen fuhr er nur hin, wenn es sich nicht umgehen ließ und ihm gezielt zuvor gesagt worden war, was er dort besorgen sollte und wo er es fände. Zudem ging es in einem solchen Konsumtempel in der Vorweihnachtszeit zu wie in der Kaaba zu Mekka, wenn die Pilger kamen. Mit anderen Worten: Es war die Hölle los.
In der Meeresfrüchteabteilung hatte Albin den Eindruck, als sei der halbe Atlantik leergefischt worden und als hätten sämtliche Austernzüchter von der Île d’Oléron und Umgebung ihre Jahresproduktion hier in kleinen Körben abgeliefert – von den anderen Muschelsorten gar nicht erst zu sprechen. Daneben ruhte eine Armada von Langusten und Krebsen sowie ganze Kutterladungen von Garnelen. Ein paar Gänge weiter befanden sich aus Gläsern und Dosen mit Foie gras errichtete Wände, die Donald Trump gut für eine Mauer entlang der Grenze zu Mexiko verwenden könnte. Aber vermutlich standen dem die Luxuszölle auf Feinkost aus Frankreich im Wege. Dazwischen bogen sich dekorative Holzkarren unter Hunderten von Schinken und Würsten. Und überall Menschen, Menschen, Menschen. An der Spielwarenabteilung war Albin ohne hinzusehen vorbeigelaufen, um von den Barbiepuppen und Stoffeinhörnern nicht farbenblind zu werden – wohl wissend, dass er sie früher oder später doch würde aufsuchen müssen, um die Geschenke für die Kinder zu besorgen.
Zwischendurch wanderten seine Gedanken immer wieder zurück zu der Obduktion und der Besprechung mit Castel und Theroux und den merkwürdigen Umständen, unter denen die Leiche gefunden worden war. Warum verwandelte jemand eine Frau in eine Braut und trennte ihr die Geschlechtsorgane vom Körper ab? Und vor allen Dingen, überlegte Albin beim Warten an der Fleischtheke und beim Betrachten der Berge von Steaks und Koteletts, was hatte er damit gemacht? Bewahrte er sie auf? Albin wischte die Gedanken wieder fort. Die professionellen Mechanismen, derlei Bilder und Gedanken aus dem Alltag zu verdrängen, funktionierten immer noch. Aber nachts, wenn man allein mit sich und der Dunkelheit war, war das eine ganz andere Sache.
Als er endlich an der Kasse war, dudelte zu allem Übel aus den Lautsprechern auch noch eine Easy-Listening-Version von »Last Christmas«. Er war eingekeilt zwischen mehreren Einkaufswagen und drängelnden Kindern, die unbedingt zu dem außerhalb der Kassenzone für Fotos posierenden Weihnachtsmann rennen wollten und von ihren Müttern an den Kapuzen zurückgehalten wurden.
Albin hatte drei Kreuze gemacht, als ihm – mit mehreren enormen Tüten bepackt – schließlich die Flucht auf den Parkplatz und ins Auto gelungen war.
Jetzt stand er mit den Einkäufen zu Hause in der Wohnküche, verstaute alles, sah sich um – und kam sich beinahe vor wie ein Fremder.
Gewiss, alles war geschmackvoll geschmückt. Sterne an den Fenstern, Christbaumkugeln an Tannenzweigen in Vasen, Nüsse und Orangen in Schalen, Kerzen zwischen Rentieren, ein kunstvoll aus Zweigen gewundener Adventskranz. Aber ganz ehrlich: Albin hatte sich nie etwas aus Dekoration gemacht. Hier und da ein paar Bilder an der Wand – das reichte.
Andererseits hatte er sich früher auch nie viel aus Essen gemacht. Als er noch aktiv bei der Polizei war, hatten ihm Dosensuppen und Mikrowellengerichte vollkommen ausgereicht. Was sich mit Veroniques Eintreten in sein Leben gründlich geändert hatte. Das mit dem Essen und das mit dem Dekorieren.
Diese Veränderung wurde nirgends deutlicher als an der Krippe. Damals, als Manon noch klein war, hatte er diese Krippen bereits gehasst. Und nun stand das riesigste Exemplar einer »Crèche provençale«, das man sich vorstellen konnte, mitten in seiner Wohnung. Natürlich, vor allem wegen seiner Enkelin, Clara, die Stunde um Stunde mit ihrer Mutter und Veronique damit verbracht hatte, die Krippe aufzubauen, um danach Stunde um Stunde davorzusitzen und mit den Figuren zu spielen oder sie einfach nur zu betrachten. Das Ganze hatte ein Vermögen gekostet.
Kein Wunder, denn eine »Crèche provençale« war nicht das, was Menschen in anderen Ländern unter einer Krippe verstanden – die Heiligen Drei Könige, der Schafstall, Maria, Joseph und das Kind, ein paar Tiere und Engel, fertig war die Laube. Das war eine normale Krippe.
Eine »Crèche provençale« dagegen war ein Gesamtkunstwerk, fast wie ein Diorama mit lebensecht wirkenden Häusern und Landschaften wie bei einer Modelleisenbahnlandschaft, die sich durchaus über eine Fläche von einem oder mehreren Quadratmetern erstrecken konnte. Die Geburt Jesu spielte im Aufbau eher eine Nebenrolle, die Hauptrolle die idealisierte Welt der Provence im Miniaturformat. Manche bauten komplette Dörfer nach – mit Feldern, Bauern, Straßenzügen, Fahrzeugen … Veronique besaß zwar bereits jede Menge Zubehör, aber sie war dennoch mit Manon und Clara in die Chapelle du Collège in Carpentras gegangen, wo sie gemeinsam beim Marché aux santons das Jahresbudget eines pazifischen Kleinstaates auf den Kopf gehauen hatten.
Die Santons waren die Hauptakteure der Krippen und die begehrtesten Einkaufsobjekte der provenzalischen Weihnachtsmärkte. Auf welchen man auch ging, vor allem in den größeren Städten wie Avignon und Marseille oder Aix en Provence: Alles war voll mit Santons.
Santons, das waren kleine, lebensechte Figuren aus Ton oder Terrakotta. Sie wurden kunstvoll und detailreich mit Farben aus Pigmenten bemalt, die aus den Ockerbrüchen von Roussillon stammten, und zum Teil mit in Handarbeit hergestellten Puppenkleidern angezogen. Die Tradition der Santons stammte aus der Zeit der Französischen Revolution, als Kirchen geschlossen und Krippen verboten wurden, weswegen sich die Leute ihre Figuren für zu Hause selbst aus Brotteig herstellten. Daraus entwickelte sich ein eigenes Kunstgewerbe, und viele dieser »Santonniers« genannten Hersteller waren wahre Künstler, die ihr Wissen von Generation zu Generation weitergaben.
Das Spezielle an den Krippen und den Santons war, dass sie Personen aus dem normalen Leben darstellten. Es gab Ärzte, Handwerker, Bauern, Spaziergänger, Lehrer, Schüler, Touristen, Fotografen und alle möglichen Tiere – und es gab bekannte Persönlichkeiten, deren Züge die Santonniers nachempfanden.
In der »Crèche Leclerc« gab es natürlich Polizisten. Es gab einen Theroux und eine Castel, die einen Einbrecher jagten. Es gab einen kleinen, dicken Wirt. Und es gab einen großen weißhaarigen Mann mit einem kleinen Hund, der vor dem Café stand und Theroux und Castel bei der Jagd des Einbrechers zusah. Clara, Veronique und Manon hatten beim Aufbauen fortlaufend gekichert und sich darauf gefreut, dass Castel und Theroux und Matteo bestimmt sehr überrascht wären, wenn sie zu Besuch kämen. Albin wiederum war sehr überrascht, dass diese Leute über Weihnachten zu Besuch kommen würden. Wer hatte die denn alle eingeladen? Ohnehin war er sich nicht sicher, was er von dem Ganzen halten sollte – vor allem von dem alle überragenden weißhaarigen Santon mit dem Hund, der genau wie ein Mops aussah.
Albin faltete die Plastiktüten zusammen und beobachtete Tyson, der auf dem Boden lag, abwechselnd die Augenbrauen hob und die Szenerie der Krippe ebenso nachdenklich zu betrachten schien.
»Sie haben mich nachgebaut«, sagte Albin.
Ich weiß, erwiderte Tyson.
»Dich auch.«
Das sehe ich.
»Ich schätze, sie finden das lustig.«
Das schätze ich auch. Andererseits …
»Andererseits?«
Andererseits ist es doch ganz witzig. Ich wünschte nur, die hätten Mila ebenfalls dort hingesetzt.
Mila, die schwarze Mopsdame, die Castels Lebensgefährte Jean Villeneuve adoptiert hatte.
»Das kann ich mir denken.«
Ob ich ihr etwas zu Weihnachten schenken sollte?
»Hunde schenken anderen Hunden nichts zu Weihnachten.«
Aber du schenkst Manon und Clara etwas?
»Die sind ja auch keine Hunde.«
Ach.
»Clara bekommt diese Lego-Elfen, die ich noch kaufen muss. Ich hätte sie im Auchan besorgen können. Aber vermutlich hätte ich sie zwischen all den anderen Elfen und sonstigen Figuren nicht finden können. Manon bekommt eine Ledertasche, die Veronique gekauft hat.«
Und was bekommt Veronique?
»Weiß ich noch nicht.«
Das solltest du aber besser, denn die Zeit läuft dir davon.
»Richtig. Ich kann mich aber noch nicht entscheiden.«
Zwischen was?
»Weihnachten könnte der richtige Zeitpunkt sein, um …«
Ja?
»Egal.«
Raus damit, Chef.
»Nein. Ich weiß noch nicht. Wir werden sehen.«
Du sprichst in Rätseln.
»Blöde Angewohnheit, ich weiß. Sag mir lieber, wo ich einen Weihnachtsbaum kaufen soll.«
Jetzt schwieg Tyson. Natürlich – wenn man seinen Rat mal wirklich brauchte, dann kam nichts vom sonst so naseweisen Monsieur Mops. Andererseits war sein Rat gar nicht nötig und Albins Frage eher rhetorisch gewesen. Denn natürlich bekam man überall Weihnachtsbäume. Tannen in allen möglichen Größen, wenngleich Albin diese Tradition im Süden Frankreichs albern fand. Schließlich gab es hier doch überall Palmen und Olivenbäume, was viel besser nach Bethlehem passen würde als Tannen oder Fichten.
Aber egal. Alles für die weihnachtliche Stimmung – was bedeutete, alles für die Kinder und die Familie.
Allerdings hatte Albin keine Lust, jetzt noch mal loszufahren und so einen Baum zu kaufen. Er hatte aber auch keine Lust dazu, sich einen Kaffee zu kochen und vor den Fernseher zu setzen. Was wäre das für ein armseliges Bild. Ein Pensionär mit seinem Hund, einsam im geschmückten Haus zur Vorweihnachtszeit vor der Glotze. Da wurde man ja schon vom Drandenken trübsinnig.
Also schnappte er sich die Autoschlüssel. Die Jacke hatte er immer noch an.
»Komm«, sagte er zu Tyson. »Wir haben zu tun.«