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Castel blinzelte in die Sonne, die gerade durch die Wolken brach. Schlagartig wurde es etwas wärmer, aber nicht viel. Ein kalter Wind pfiff. Auf dem kleinen Hof vor dem Wohnhaus standen mehrere Fahrzeuge: zwei zivile Polizeifahrzeuge, der Schlüsseldienst, ein Polizeiwagen und ein kleiner Clio, der dem Kennzeichen nach Stéphanie Kaufmann gehörte. Der Asphalt hatte eine Menge Schlaglöcher, in denen das Regenwasser wie in kleinen Tümpeln stand.
Das Haus wirkte dringend sanierungsbedürftig. An verschiedenen Stellen war der Putz abgeplatzt und offenbarte das bloße Mauerwerk. Die Fensterläden mussten gestrichen werden. Die Dachziegel schienen die besten Jahre längst hinter sich gelassen zu haben. Regelrecht verfallen wirkte eine kleine Scheune mit einem hölzernen Schiebetor, das in einer undefinierbaren Farbe gestrichen war. Eine Mauer, die eine verwildert aussehende landwirtschaftliche Fläche einfasste, war zum Teil eingestürzt. Insgesamt ein vor vielen Jahren aufgegebener Hof, dachte Castel, der für eine Person deutlich zu groß war und mit dem Gehalt einer Hotelfachangestellten unmöglich zu unterhalten.
Castel blickte zurück zur Haustür und beobachtete den Mann vom Schlüsseldienst dabei, wie er mit seinem speziellen Werkzeug hantierte, um sie zu öffnen. Castel hoffte, dass es klappen würde. Falls nicht, müssten sie die Feuerwehr rufen und durch ein Fenster eindringen.
Alle Versuche, Stéphanie Kaufmann zu erreichen, waren fehlgeschlagen. Auch ein Telefonat mit ihrem Arbeitgeber hatte nichts gebracht – außer der Gewissheit, dass sie seit einigen Tagen von der Bildfläche verschwunden war. Castel und Theroux hatten beim Staatsanwalt glaubhaft machen können, dass es sich bei der Vermissten möglicherweise um das Mordopfer handelte, weswegen Bonnieux sein Okay zur Hausdurchsuchung gegeben hatte, auch wenn es ihm nicht leichtgefallen war. Das private Reich eines Menschen durfte der Staat nur dann antasten, wenn wirklich ernsthafte und wohlbegründete Sorge um das Wohlergehen und die Sicherheit bestand – und dafür gab es hier allenfalls Verdachtsmomente, keine Belege.
Es klickte metallisch. Dann sprang die Tür auf.
In Begleitung von zwei Gendarmen, die hier auf dem Land zuständig waren, betraten Castel und Theroux das Haus, sahen in allen Räumen nach. Aber alles war leer. Schließlich hielten sie sich etwas im Hintergrund, um die nachfolgenden beiden Forensiker von der Spurensicherung nicht beim Sammeln von DNA -Material zu stören und außerdem nicht übermäßig viele Fremdspuren im Haus zu verteilen. Dennoch verschafften sie sich einen weiteren Überblick.
Castel nahm ein paar Latexhandschuhe aus der Jackentasche und streifte sie über. Sie erkannte mit wenigen Blicken, dass es sich um einen Singlehaushalt handelte. Damit kannte sie sich aus. Zudem waren lediglich vier Zimmer des Hauses bewohnt. Die im Obergeschoss standen allem Anschein nach leer, aber natürlich würden sie das anschließend noch genauer überprüfen. Womöglich lebte dort ein unbekannter Mieter, von dem Stéphanie Kaufmann schwarz etwas Geld bekam und der nun von der Bildfläche verschwunden war, weil er sie umgebracht hatte.
Die Wohnung war sauber und aufgeräumt. Die Vorhänge waren strahlend weiß, das Bett gemacht und frisch bezogen, die Kissen auf dem Sofa und einem Sessel waren akkurat ausgerichtet. Auch die Küche war sauber. Nirgends waren Kleidung oder Gegenstände zu sehen, die auf eine männliche Präsenz hindeuten würden, einen bislang unbekannten Lebensgefährten, der jetzt eventuell auf der Flucht war.
Theroux bewegte sich in Richtung Wohnzimmer, um sich dort umzusehen. Die Forensiker waren direkt ins Bad gegangen, um dort Haare aus Bürsten und Kämmen zu sammeln oder Material aus einem Mülleimer, an dem sich Genspuren finden würden. Außerdem nahmen sie an den Türgriffen Fingerabdrücke ab.
Castel ging zurück ins Schlafzimmer. Sie fuhr mit dem Finger über eine Kommode. Alles war in Weiß eingerichtet. Es roch nach frischem Leinen. Sie zog eine Schublade auf, dann eine weitere. Im Fach mit der Unterwäsche fiel ihr nichts weiter auf. In der Schublade darunter sah sie weitere Unterwäsche, in einem edel aussehenden Karton feine Strümpfe, BH s, Reizwäsche.
Die hatte Stéphanie wohl eher nicht für sich allein getragen, dachte Castel. Ein String hatte sogar noch ein Etikett. Alles schien nicht alt zu sein. Der Karton war mit Seidenpapier ausgeschlagen, außen war eine rote Schleife – ein Geschenk womöglich.
Sie schloss die Schublade wieder, ging zum Fenster, legte die Hand auf den Heizkörper. Er war lauwarm. Von hier aus konnte man die Straße sehen, die auf den Ort zulief, dessen Häuser ebenfalls zu erkennen waren. An der Straße lagen auch die Bories, nur wenige hundert Meter von hier entfernt. Weiter rechts in der Ferne sah Castel vage die Dächer eines größeren Anwesens.
Sie merkte auf, als einer der Gendarmen ins Zimmer kam und sagte, dass das obere Geschoss unbewohnt sei. Castel nickte. Dann kam einer der Forensiker zu ihr und wedelte mit einem Beweismittelbeutel.
»Sofort ins Labor damit«, sagte sie. »Wir brauchen einen Schnelltest. Und die Fingerabdrücke …«
»… haben wir abgenommen, gescannt und bereits verschickt.«
Castel lächelte leicht und nickte. Es sollte nicht lange dauern, bis sie verlässlich wussten, ob es ein Match gab und es sich bei Stéphanie Kaufmann um die Tote handelte.
Castel zweifelte nicht daran.