13
Albin fuhr über Saint-Didier nach La Roque-sur-Pernes, was nicht der direkte Weg war, aber der Ort war von oben besser als von unten erreichbar. Er lag an einen Hang geschmiegt, bestand aus nur wenigen Häusern und vielen steilen und engen Straßen, von denen die meisten nur in eine Richtung befahren werden durften. Dominiert wurde er von einer alten Festung, in der sich seit einiger Zeit ein Hotel für gehobene Ansprüche befand, das Château La Roque. Unten im Tal gab es in der Nähe der beiden Bories ein weiteres Hotel, die Domaine de la Grange Neuve, und schließlich am Ortsausgang das Hotel Banatais. Albins Ziel war keines davon, sondern das Rathaus.
Die Straße war noch vom Regen feucht, aber es klarte langsam auf. Die Sonne drang durch die Wolkenschicht, wenngleich sie bald untergehen würde, und ließ den nassen Asphalt glänzen. Albin bog in den Ort ab, sorgte sich in einigen sehr engen Kurven und Gassen um seine Außenspiegel und stoppte schließlich am kleinen Platz vor dem Brunnen unter einigen kahlen Platanen. Er nahm Tyson aus dem Kofferraum und verzichtete darauf, ihn anzuleinen. Der Wind war kühl, weswegen Albin die dunkelblaue Daunenjacke bis zum Hals schloss. Er griff in die Seitentasche, zog eine Schachtel Gitanes hervor und steckte sich eine an, wofür er drei Versuche brauchte.
Er paffte eine dicke weiße Wolke in den Himmel, die rasch verweht wurde und sich über dem Tal verlor, auf das man von hier einen ausgezeichneten Blick hatte. Im Frühling und im Sommer war alles grün. Jetzt sah man nichts als eine Melange aus Braun und Grau. Alles war menschenleer und still – abgesehen vom leisen Gluckern und Gurgeln des ablaufenden Regenwassers. Auf den Bänken neben dem Brunnen, auf denen man sitzen und die Landschaft genießen konnte, klebten braune Blätter.
Albin rauchte, ließ den Blick übers Tal schweifen, fuhr die Landstraße entlang, die sich zwischen kahlen Weinfeldern verlor und zu den Bories führte. Näher am Ort und an derselben Straße lag das Hotel Banatais. Albin hatte keine Ahnung, woher dieser Name rührte. Vielleicht hatte er etwas mit der Herkunft eines früheren Besitzers zu tun – dem Banat. Ganz links, in ein oder zwei Kilometern Entfernung, konnte man auf einer Anhöhe zwischen Bäumen die Dächer eines größeren Gebäudes erahnen, das Albin jedoch nichts sagte.
Schließlich setzten er und Tyson sich in Bewegung. Sie verließen den Platz am Brunnen, gingen durch eine steile Gasse bergauf und passierten eine Felswand, an der das Wasser herabtropfte. Albin rauchte im Gehen auf und trat die Zigarette vor einem Gebäude aus hellem Sandstein aus, vor dem eine Steinbank stand und dessen hölzerne Fensterläden fast alle geschlossen waren. Einige Stufen führten zu einer großen braunen Holztür, über der das Wort »Mairie« angebracht war und wo außerdem eine schlaffe Trikolore hing.
Er ging hinein, suchte das Bürgermeisterbüro und landete zunächst in dessen Vorzimmer. Beachtlich, dass der Bürgermeister einer Vierhundertfünfzig-Seelen-Gemeinde überhaupt über ein solches sowie eine Vorzimmerdame verfügte. Drei Minuten später saß Albin im Büro von Michel Thomas, hängte den Mantel über die Stuhllehne, bekam einen Kaffee serviert und Tyson eine Schale Wasser.
»Polizeilicher Berater?«, fragte Michel Thomas.
Er war fast so groß wie Albin, sehr schlank und fast kahl, wirkte aber äußerst elegant.
Albin nickte, bedankte sich bei der freundlichen Sekretärin und machte es sich auf dem antik wirkenden Lederstuhl vor dem ebenfalls antik wirkenden Schreibtisch von Thomas gemütlich. »Die Polizei«, erklärte er, »hat manchmal nicht ausreichend Kapazitäten. Dann greift sie auf mich zurück. Natürlich darf ich nicht wirklich ermitteln, was ich auch nicht tue.«
Lügner , murmelte Tyson.
»Aber«, fuhr Albin ungerührt fort, »ich arbeite sozusagen flankierend. Auxiliartruppe, wie die alten Römer gesagt hätten.«
Thomas lächelte, nickte und strich mit der Hand über seine Schreibtischunterlage, auf der sich einige Akten stapelten. »Ich weiß, was Sie meinen. Ohne uns Ehrenamtler würde doch nichts mehr laufen.«
»Gar nichts. Gott schütze das Ehrenamt.«
»Sparen, sparen, sparen ist die Devise, und gleichzeitig werfen sie einen mit immer mehr Bürokratie zu. Quantität geht über Qualität.«
»Die reine Wahrheit.«
»Aber muss ich mir Sorgen machen, dass wegen des Personalmangels in dieser schrecklichen Mordsache nicht ordentlich ermittelt wird?«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Albin. »Die besten Leute sind am Ball: Caterine Castel und Alain Theroux. Sie haben bei Mordermittlungen eine Trefferquote von hundert Prozent. Eigentlich viel zu gute Leute für die Provinz.«
Soso , merkte Tyson an.
Albin ignorierte ihn, denn: Gott bewahre, dass das irgendjemand außer Michel Thomas hörte, zuallerletzt Theroux und Castel – selbst wenn Albin es genauso meinte. Hinterher bildeten die sich noch was darauf ein.
Thomas sagte: »Dann bin ich beruhigt. Weiß man schon, wer das Opfer ist?«
»Nein.«
»Ist es Stéphanie Kaufmann?«
»Das wissen wir noch nicht.«
Michel Thomas nickte langsam. »Es ist fürchterlich. Dieser entsetzliche Mord. Und das in unserer kleinen Gemeinde. Gerade kürzlich erst geschah etwas Merkwürdiges. Man fand drei Kühe tot im Wald. Das heißt: Auf einer Weide, die an den Wald grenzt. Sie sind einfach tot umgefallen. Keine Krankheit, gar nichts. Der Veterinär sagte, die Tiere seien kerngesund gewesen. Warum fallen einfach drei Kühe tot um? Zudem fand man einige tote Vögel im Wald, in der Nähe der Weide.«
Albin zuckte die Achseln. Davon hatte er nichts gehört, und wer sollte sich schon um tote Vögel und Kühe sorgen, wenn möglicherweise ein Serienkiller in der Provence unterwegs war?
»Ein irritierender Vorfall«, redete Thomas weiter. Dann fragte er: »Wie kann ich Ihnen helfen, Monsieur Leclerc?«
»Als Ortsbürgermeister kennen Sie alles und jeden. Sämtliche Zusammenhänge, Gerüchte, Geschichten. Ich möchte ein paar davon hören.«
Thomas blickte fragend, faltete die fein manikürten Hände übereinander. Kein Ehering. Auch keine Druckstelle, die davon zeugte, dass dort über Jahre hinweg mal einer gesessen hatte.
Albin fragte: »Sie waren sofort vor Ort, als man die Leiche fand, richtig?«
»Ja, weil ich besorgt war. Die Bürger sind besorgt. Die Leute von der Trekkinggruppe kehrten im Hotel Banatais ein und erzählten dort den Gendarmen, was sie in der Borie gesehen hat. Das haben andere Bürger mitbekommen. Die entsetzliche Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Außerdem meinte der Wirt vom Banatais, dass Stéphanie seit einigen Tagen nicht aufgetaucht sei und er sich Sorgen mache. Sie arbeitet nämlich dort.«
»Wie heißt der Wirt?«
»Das ist Henri Vray.«
»Hat er gemeldet, dass er Stéphanie vermisste?«
»Er hat es an dem betreffenden Tag gesagt. Ob er es vorher bereits gemeldet hat, weiß ich nicht. Aber nach seinen Worten hatte er immer wieder versucht, sie zu erreichen. War auch an ihrem Haus, aber sie war nicht da.«
»Sehr persönlicher Einsatz für eine Angestellte.«
Thomas zuckte die Achseln. »Er ist auf sie angewiesen, denke ich. Seine Hotelwäscherei kümmert sich auch um diverse Ferienwohnungen und kleine Restaurants der Umgebung. Natürlich auch um das Château du Soleil, den Sonnenhof.«
»Sonnenhof?«, fragte Albin und nippte am Kaffee. Er war gut, aber nicht mit dem von Matteo zu vergleichen.
»Château ist ein großer Name, aber sie haben eine Menge aus dem alten Anwesen gemacht.«
Jetzt war es Albin, der fragend blickte.
Thomas erklärte: »In früheren Jahren war es ein altes Landgut. Eher ein landwirtschaftlicher Hof. Vor einer Reihe von Jahren wurde er aufgekauft, umgebaut, und jetzt befindet sich dort eine Art private psychosomatische Einrichtung. Die Leute dort geben Kurse und Seminare für gestresste Topmanager aus dem Norden. Das Château du Soleil liegt zwei bis drei Kilometer außerhalb.«
Albin nickte. Das mussten die Dächer des Anwesens gewesen sein, die er vom Brunnen aus gesehen hatte.
»Jedenfalls«, fuhr Thomas fort, »arbeitet das Banatais ebenfalls für die. Und damit auch Stéphanie Kaufmann. Henri Vray hat jede Menge zu tun, er ist ein fleißiger Mann, und …« Thomas machte eine Pause, kratzte sich den kahlen Hinterkopf. »Na ja, man hört, dass es bei Henri in der Ehe nicht mehr gut läuft, und Stéphanie ist eine sehr hübsche junge Frau, die allein auf dem früheren Gut ihrer Eltern lebt.«
»Verstehe«, sagte Albin und machte sich hierzu eine gedankliche Notiz.
»Mit dem Haus«, sagte Thomas, »ist sie sowieso überfordert, wenn Sie mich fragen. Sie sollte es verkaufen. Das würde auch diese alte Geschichte beenden.«
»Alte Geschichte?«, fragte Albin.
»Rechtsstreitigkeiten über Grundbesitz. Komplizierte Sache, die über Jahrzehnte hin und her ging, zum Teil äußerst emotional. Mit Landbesitz und Grundstücksgeschäften haben wir in La Roque ja einige Erfahrung.« Thomas lächelte.
»Warum?«, fragte Albin.
Thomas stutzte kurz, fragte dann: »Sie kennen doch die Geschichte des Ortes? Der Name vom Hotel Banatais kommt ja nicht von ungefähr.«
Albin zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf und leerte seinen Kaffee. Banatais stand für die Banater, eine Volksgruppe aus Rumänien, glaubte Albin. Mehr sagte Albin der Begriff nicht.
Thomas dachte nach. Er fragte: »Haben Sie noch etwas Zeit?«
»Habe ich«, erwiderte Albin.
Thomas nickte. Dann stand er auf und sagte: »Kommen Sie. Und vergessen Sie ihre Jacke und ihren Hund nicht.«