15
Castel sah sich erneut in der Küche von Stéphanie Kaufmann um, öffnete den Kühlschrank, war neidisch auf den Inhalt und die Ordnung, schloss ihn dann wieder und ließ den Blick über eine Pinnwand gleiten, an der alle möglichen Zettel und einige Fotos hingen. Nichts davon sagte ihr etwas, aber sie machte dennoch ein Bild mit dem Handy.
Theroux sprach auf dem Flur mit den Gendarmen. Sie hatten festgestellt, dass die Autoschlüssel zum Clio auf einer Ablage lagen, neben einer Geldbörse mit persönlichen Dokumenten – Stéphanie Kaufmann hatte außer ihrem Handy nichts mitgenommen, als sie das Haus verlassen hatte und zur Arbeit gegangen war.
Gerade, als Castel ihr Handy wieder einstecken wollte, erschien der Name »Leclerc« auf dem Display. Einen Wimpernschlag später ertönte der Klingelton. Castel ging sofort dran.
»Ja?«
»Leclerc hier.«
»Ich weiß.«
Pause.
»Woher?«
»Weil Ihr Name auf dem Display erscheint, wenn Sie anrufen, Albin.«
»Ach so. Castel, sperren Sie die Ohren auf. Ich bin gerade in La Roque und habe mit dem Bürgermeister gesprochen.«
»In La Roque?«
»Castel? Was ist mit Ihnen los? Ich hatte doch gerade gesagt, wo ich bin, und Sie haben mich explizit …«
»Schon gut«, kürzte Castel ab. »Wir haben Sie um Unterstützung gebeten, ich weiß.«
»Folglich bin ich also in La Roque und habe mich etwas umgehört.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Erstens gab es um das Haus von Stéphanie Kaufmanns Eltern offenbar Grundstücksstreitigkeiten. Es ist unklar, worum es dabei ging.«
»Es handelt sich um einen ehemaligen Hof, recht heruntergekommen«, erklärte Castel. »Theroux und ich sind gerade dort.«
Albin brummte zustimmend. »Ich höre mich mal nach diesen Grundstückssachen um. Vielleicht waren die Eltern Banater, und das hängt damit zusammen.«
»Wer?«
»Die Eltern.«
»Was waren die? Banater? Was ist das?«
»Eine Volksgemeinschaft aus Rumänien, die nach dem Krieg in die Provence geflohen ist. Banater Schwaben. Sie sollten ihre Allgemeinbildung aufpolieren, Castel.«
»Herzlichen Dank, Albin.«
»Ich schaue mir das mal an. Die zweite Sache: Der Ortsbürgermeister hat eine Andeutung gemacht. Es könnte möglich sein, dass Stéphanie Kaufmann etwas mit ihrem Arbeitgeber hatte, dem Wirt vom Hotel Banatais, ein Henri Vray.«
Castel nickte und dachte an die Dessous in der Geschenkverpackung. Vielleicht sollte sie noch einmal genauer nachsehen, ob es noch mehr solcher oder ähnlicher Geschenke gab, und die Spurensicherung darauf aufmerksam machen, den Karton zu sichern. Daran würde man vielleicht Fingerabdrücke von jemandem finden, der das Geschenk erworben hatte.
»Wir checken das, Albin.«
»Wie ist die Lage im Haus?«
»Unauffällig.«
»Schon etwas zur Identität der Leiche?«
»Noch nicht, aber wir dürften bald etwas haben.«
»Rufen Sie mich dann umgehend an und halten mich auch sonst auf dem Laufenden.«
Castel lachte. »Albin, Sie klingen wie mein Chef.«
»Alte Angewohnheit, tut mir leid.«
Eine alte Angewohnheit, dachte Castel, die Leclerc niemals ablegen würde. Und wirklich leid tat es ihm sicher auch nicht. Er war eben so, und die Welt musste mit ihm klarkommen. Man konnte sich manchmal fürchterlich über ihn aufregen – aber auf der anderen Seite war er klug genug und kannte sich selbst. Im Unterschied zu vielen anderen Menschen wusste er seine Fehler einzuschätzen. Außerdem nahm Castel an, dass er sich gut dabei fühlen würde, offiziell um Unterstützung gebeten worden zu sein, fest im Sattel zu sitzen und wie ein General herumzufuchteln und der Truppe anzudeuten, wohin sie marschieren sollte. Und genau das tat er.
»Ja«, erwiderte sie schließlich. »Alte Angewohnheit von Ihnen, Albin. Ich weiß.«
Dann beendete Leclerc das Gespräch.
Castel begann, noch einmal die Schubladen zu durchforsten. Ihr fiel nichts weiter auf als das, was sie bereits dort vorgefunden hatte. Sie ging zum Bett, zog die Schublade an einem Nachttisch auf, ohne zu wissen, wonach sie suchte. Aber auch dort sah sie nichts Auffälliges: Taschentücher, Handcreme …
Castel wollte gerade einen Blick in die Schmuckschatulle werfen, als Theroux in der Tür stand, das Handy in der Hand, und auf sich aufmerksam machte. Er schattete die Sprechmuschel mit der Hand ab.
»Der Gentest dauert noch etwas. Aber die Fingerabdrücke«, sagte er zu Castel. »Es sind die von Stéphanie Kaufmann. Die aus dem Haus stimmen mit denen der Leiche überein. Wir haben ein Match. Sie muss unsere Tote sein.«
Damit, dachte Castel, würde diese Aktion hier nun zu einer Hausdurchsuchung werden. Und es würden sicherlich noch sehr viel mehr Fingerabdrücke gefunden werden, nicht nur die von Stéphanie: Zum Beispiel an der Geschenkbox mit der Reizwäsche in der Schublade.
Das Hotel-Restaurant Banatais war nicht allzu beeindruckend. Ein typisches provenzalisches Landgasthaus am Ortseingang, in dem es einfache Zimmer für Durchreisende oder Touristen mit wenig Anspruch und schmalem Geldbeutel gab und eine ebenso einfache Küche. Das Gebäude war drei Stockwerke hoch, in einem rötlichen Ton gestrichen und mit roten Fensterläden aus Holz versehen, von denen die meisten zurzeit geschlossen waren. Hinter einem schlichten Tresen, der als Rezeption diente, ging es nach links in einen Raum mit Theke und einigen bestuhlten Tischen. Rechts befand sich ein mittelgroßer Saal, der vermutlich für größere Feiern gemietet werden konnte. Alle Wände bestanden aus unverputztem Bruchstein, in den rohe Holzbalken eingelassen waren. Es roch nach einer Mischung aus frischem Kaffee, altem Rauch, schalem Bier, gekochtem Kohl und außerdem nach Putzmitteln.
Als Castel und Theroux das Banatais betraten, schlug ihnen außer der Wolke aus Gerüchen eine feuchte Hitzewelle entgegen. Im Gasthaus wurde entweder erheblich geheizt, oder eine Reihe von Wäschetrocknern lief auf Hochtouren. Vielleicht auch beides. Außerdem war von irgendwo das Geschrei streitender Kinder zu hören. Eine stämmige Frau kam aus dem Keller, wischte die Hände in einem Küchenhandtuch ab und blickte Castel und Theroux fragend an. Sie trug einen Rollkragenpullover und eine ausgeleierte Jogginghose, wirkte mittelalt, die zum Dutt hochgesteckten Haare teils von grauen Strähnen durchzogen, das feiste Gesicht gerötet.
»Wir haben geschlossen«, sagte sie ohne Gruß und trat hinter den Empfangstresen.
»Aber die Tür ist doch geöffnet gewesen«, sagte Theroux.
»Hat nichts zu bedeuten. Es ist geschlossen. Ruhetag.«
»Warum lassen Sie denn dann die Vordertür offen?«
Die Frau grinste und zeigte eine Reihe kleiner Zähne. »Ist das nicht vollkommen egal, Monsieur?« Dann blaffte sie nach oben: »Und wenn ihr da nicht endlich Ruhe gebt, dann ist Fernsehverbot!«
Bevor Theroux noch eine überflüssige Frage stellen konnte, zog Castel ihren Dienstausweis, hielt ihn der Frau vor die Nase und stellte sich vor. Theroux tat es ihr gleich.
»Wir würden uns gerne über die vermisste Stéphanie Kaufmann unterhalten. Sie ist bei Henri Vray angestellt, der dieses Haus …«
»Sie müssen mir nicht sagen, was mein Mann macht. Außerdem war die Polizei schon hier.«
»Die Gendarmerie. Nicht wir. Wir sind von der Kriminalpolizei.«
»Ah«, machte die Frau und faltete das Geschirrtuch. Auf ihrer Stirn waren kleine Schweißperlen zu sehen. »Weil Stéphanie verschwunden ist, habe ich die ganze Arbeit am Hals, wissen Sie? Deswegen ist heute auch Ruhetag. Haben Sie sie endlich aufgetrieben? Wo steckt sie? Die soll ihren Hintern wieder zur Arbeit bewegen, oder sie ist gefeuert, das können Sie ihr ausrichten. Ach, nein, wissen Sie, was? Sagen Sie ihr das direkt: Sie ist gefeuert. Ich will sie sowieso nicht mehr in meinem Haus sehen. Fertig. Richten Sie ihr das aus.«
»Madame Vray«, sagte Castel.
»Mehr habe ich nicht zu sagen.«
»Ihr Mann …«
»Hat Ihnen ebenfalls nichts zu sagen.«
»Wo ist er?«, fragte Theroux.
»Beschäftigt.«
»Holen Sie ihn bitte.«
»Er hat zu tun.«
Theroux holte Luft. Dann fuhr er leise und um Fassung bemüht fort: »Erstens: Wir sind nicht Ihre Dienstboten und leiten Nachrichten von Ihnen an eine Person weiter, zumal diese vermisst wird. Zweitens: Sie holen jetzt Ihren Mann, denn ansonsten kommen wir mit einer offiziellen Zeugenvorladung wieder und lassen von der Staatsanwaltschaft ein Ordnungsgeld gegen ihn verhängen, falls seine Frau nach wie vor der Meinung ist, dass er zu beschäftigt sei.«
Vrays Frau schnappte nach Luft und lief noch roter an. »Henri!«, schrie sie dann, »die Polizei will mit dir über die blöde Kuh reden!« Schließlich drehte sie sich wortlos um und dampfte wieder in das Kellergeschoss ab, wo dem Klang nach vermutlich Waschmaschinen und Wäschetrockner im Akkord rotierten.
»Das geht mir so auf die Nerven«, murmelte Theroux. »Diese Leute … Was denken die, wen sie vor sich haben? Die Zeugen Jehovas? Glauben die, wir kommen zum Spaß und wollen mit ihnen reden, weil uns langweilig ist? Mann, Mann, echt jetzt …«
Castel unterdrückte ein Schmunzeln. Manchmal wirkte Theroux, als sei er etwas schwer von Begriff. Schon im nächsten Moment konnte das wieder vollkommen anders sein. Im Allgemeinen war er um Diplomatie bemüht. Aber manchmal riss ihm einfach die Hutschnur. Dann konnte er durchaus zur Furie werden, und Castel hatte deutlich gespürt, dass sein Drehzahlmesser sich gerade eben dem roten Bereich genähert hatte.
»In jedem Fall«, sagte Castel, »ist sie nicht gerade ein Fan von Stéphanie.«
»Soll sie halt eine Stellenanzeige aufgeben und sich eine neue Hilfe suchen.«
»Das wird sie wohl müssen. Aber ich meinte ganz generell.«
»Anstelle ihres Mannes würde ich auch lieber eine jüngere Angestellte anblicken als so eine Walküre, die von morgens bis abends herumschreit und mir das Leben zur Hölle macht.«
»Na, komm, Alain. Reg dich wieder ab.«
»Ist doch wahr.«
Einen Augenblick später polterte es auf der Treppe. Ein Mann kam herunter. Er trug eine Strickjacke, darunter ein hellblaues Hemd und eine graue Anzughose, das Haar schütter und die geröteten Wangen hinter einem gewaltigen Schnurrbart versteckt. Er setzte ein professionelles Lächeln auf, mit dem ein Wirt seine Gäste begrüßte, und wirkte damit nicht uncharmant.
»Guten Tag«, sagte er leicht außer Atem. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Henri Vray?«
Castel und Theroux stellten sich erneut vor und zeigten ihre Ausweise.
»Können wir uns unterhalten?«, fragte Castel.
»Aber bitte, gern«, erwiderte Vray und deutete in den Gastraum, wo er Castel und Theroux jeweils einen Stuhl an einem Tisch am Fenster und außerdem einen Kaffee anbot. Die Stühle nahmen sie. Den Kaffee nicht.
»Wissen Sie denn inzwischen mehr über Stéphanie?«, fragte Vray im Hinsetzen. Er lehnte sich nicht an, sondern saß ganz aufrecht da.
»Wir sind hier«, sagte Castel, »um mehr über Stéphanie zu erfahren.«
Vray sagte: »Ich habe der Polizei schon erzählt, was ich weiß. Ich habe eine Vermisstenmeldung aufgegeben, als die Gendarmerie hier war. Sie kam nicht mehr zur Arbeit, war nicht mehr zu erreichen und außerdem nirgends in ihrer Wohnung anzutreffen.«
»Sie waren in der Wohnung?«, fragte Theroux.
»Nein?«, erwiderte Vray.
»Sie sagten eben doch, sie sei nicht in der Wohnung anzutreffen gewesen.«
Vray blickte nach links, dann nach rechts, suchte nach Worten. »Ich meinte: im Haus. Am Haus. Ich habe von draußen nachgesehen, geklingelt. Keine Reaktion. Ihr Auto stand außerdem davor.«
Castel fragte: »War sie Ihre einzige Angestellte?«
»Die einzige feste. Bei uns arbeiten auch Saisonkräfte. Zurzeit haben wir allerdings keine Saison.«
»Sie haben auch auswärtige Kunden?«
»Wir beliefern einige mit der Wäscherei.«
»Kann ich eine Liste mit Ihren Kunden erhalten?«
»Natürlich – wozu ist das wichtig?«
»Alles kann im Moment wichtig sein«, sagte Theroux.
»Glauben Sie«, fragte Vray und knetete die Hände, eine Beruhigungsgeste, »dass die Tote … dass das etwa Stéphanie gewesen sein könnte?«
»Zurzeit können wir nichts ausschließen, aber auch nichts bestätigen«, sagte Castel. »Hatte sie einen Freund? Einen Lebensgefährten? Eine Affäre? Ist Ihnen darüber etwas bekannt?«
Vray blinzelte, schien zu überlegen und blickte nach links oben. Wenn sich jemand tatsächlich zu erinnern versuchte, sah er fast immer nach rechts – konstruierte er etwas, blickte er in der Regel in die andere Richtung.
»Nein«, sagte er, »davon weiß ich nichts.«
»Mhm«, machte Castel.
Theroux schwieg.
»Sie war nur eine Angestellte. Über das Privatleben meiner Angestellten weiß ich nichts. Das geht mich ja auch nichts an.« Er nickte in Richtung Fenster. »Ich habe einige Polizeiwagen vor Stéphanies Haus gesehen. Waren Sie das?«
»Ja«, bestätigte Castel.
»Hausdurchsuchung?«
»Wir haben uns dort umgesehen«, sagte Theroux.
»Und, haben Sie was gefunden?«
»Was könnten wir denn finden?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Wir haben einige Spuren gesichert. Reine Routinesache. Nichts Besonderes. Fingerabdrücke gesammelt für den Fall, dass wir sie abgleichen müssen.«
»Wozu das denn?«
»Für den Fall, dass wir herausfinden müssen, ob jemand bei ihr ein und aus ging«, sagte Theroux.
»Oder Geschenke gemacht hat. Klassische Polizeiarbeit eben«, sagte Castel.
Vray gab sich betont gelassen. Sein Lid zuckte.
Castel wusste, dass Theroux Vrays Körpersprache ebenfalls gelesen hatte.
Sie sagte: »Wir müssen eine offizielle Aussage aufnehmen. Das tun wir mit allen Zeugen, der Wandergruppe zum Beispiel. Die Kollegen von der Gendarmerie haben zwar schon alles aufgenommen, wie Sie sagen, und wir unterhalten uns gerade ebenfalls, aber das ist eher informell, wissen Sie? Es wäre schön, wenn Sie zu einer offiziellen Aussage und Befragung über Stéphanie Kaufmann zur Polizei kommen würden, und …«
»Ich?«
»Ja«, sagte Theroux.
Vray war alarmiert. »Warum das denn?«
»Sie müssen dem nicht nachkommen, das ist Ihr gutes Recht, und Sie erhalten das auch noch schriftlich.«
»Aber …«
»Wie gesagt«, fuhr Castel dazwischen, »wir benötigen offizielle Aussagen – Formulare, die man unterschreiben muss, reine Bürokratie.«
»Brauche ich etwa einen Anwalt, oder was?«
»Ich wüsste nicht, wozu, aber Sie haben natürlich das Recht …«
Vray schnappte nach Luft, lief puterrot an, schwitzte.
»Es wäre schön«, sagte Castel, »wenn Sie morgen um zehn Uhr im Hôtel de Police in Carpentras sein würden. Aber natürlich können Sie auch abwarten, bis Ihnen die Aufforderung schriftlich zugeht.«
Vray blieb stumm. Er nickte. »Na gut. Zehn Uhr«, sagte er, »ich werde es einrichten.«
Schließlich ließen sich Theroux und Castel noch eine Liste mit Kunden der Wäscherei geben, zu denen auch eine nahe gelegene psychosomatische Klinik gehörte, von der Castel noch nie etwas gehört hatte.
Als sie und Theroux wieder im Wagen saßen, sagte Theroux nur: »Vray war es.«
»Wer weiß«, erwiderte Castel und ließ den Motor an.
»Kein Serientäter oder Ritualmörder. Er hatte ein Verhältnis mit ihr, weil ihn seine Frau verrückt macht. Er hätte seine Angestellte aber viel lieber als Frau. Stéphanie macht Schluss. Vray dreht durch. Er bringt sie um und macht sie zu seiner Braut.«
»Möglich«, sagte Castel und legte den Gang ein. »Ist mir aber zu einfach.«
»Der einfachste Weg ist meist der beste.«
Aber nicht immer der zutreffende, dachte Castel im Wegfahren.
Ihr Gefühl sagte ihr, dass der Mordfall Stéphanie Kaufmann nicht so leicht zu lösen sein würde.