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Am späteren Abend stand der Mann unter der Dusche und ließ sich abwechselnd heißes und kaltes Wasser über den Nacken laufen. Die wunden Striemen auf seinem Rücken brannten, als rinne flüssige Lava darüber. Nach dem Duschen tupfte er sie vorsichtig ab, drehte sich mit dem Rücken zum Spiegel und betrachtete sie, bevor er sich, so gut es ging, verrenkte, um Wund- und Heilsalbe aufzutragen. Schließlich stellte er die Tube zurück in den kleinen Schrank über der Toilette, drückte eine Beruhigungstablette aus dem Blister, ließ sie im Mund verschwinden, drehte den Wasserhahn auf, beugte sich herab und spülte sie mit etwas Wasser herunter.
Er verließ das Bad, um sich anzuziehen, und dachte an seine Braut. Die Braut, die man ihm genommen hatte. Was hatte er sich denn eingebildet? Dass er sie für ewig würde behalten können? Eine ziemlich dumme Vorstellung. Seine Sehnsucht hatte ihn offensichtlich geblendet. Doch war es nicht so vorgesehen, dass ein Mann eine Frau haben sollte, die zu ihm passte? Ja, genauso war es. Und er hatte die Wahl, sich weiterhin in Selbstmitleid zu ertränken oder sich eine neue Braut zu suchen. Da gab es durchaus eine, die ihm gefiel, aber …
Nein, er musste sich diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Beim besten Willen. Er war im Fall von Stéphanie viel zu weit gegangen, hatte Fehler gemacht, die sich nun rächten. Auf der anderen Seite wusste er nun, was er beim nächsten Mal besser machen musste. Er hatte ja auch aus den Fehlern gelernt, die er vor Stéphanie gemacht hatte, richtig? Ja, das hatte er. Aber nicht genug.
Vor ihr, da hatte er seinen Auserwählten freundliche Avancen gemacht, die diese jedoch stets verschmähten. Natürlich hatte er das auch bei Stéphanie getan, aber alle Versuche, sich ihr zu nähern, waren fehlgeschlagen. So wie bei den anderen auch.
Und daraus hatte er gelernt, dass es besser war, diesen Schritt auszulassen und sich einfach zu nehmen, was er begehrte. Zwar hatte er auch das bereits vor Stéphanie versucht, war damit aber jeweils grandios gescheitert und hatte Ohrfeigen kassiert. Bei Stéphanie, nun, bei ihr waren mit einem Mal alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Er konnte praktisch tun und lassen, was er wollte – was er dann auch getan hatte. Die Pforte hatte sich geöffnet, und alles, was sich in den Jahren aufgestaut hatte, war hindurchgebrochen.
Das war einerseits verständlich, ja. Aber andererseits entsetzlich dumm gewesen. Denn die Polizei hatte seine Braut gefunden. Sie hatte gesehen, was er mit ihr angestellt hatte. Er hatte sich über alle Gebote hinweggesetzt, und dieses Fehlverhalten würde nun mit Wucht auf ihn zurückkommen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen würde, welche Strafe der Herr für ihn vorsehen würde. Aber es war vollkommen klar, dass sie ihn mit aller Macht treffen würde.
Eher früher als später, denn heute war die Polizei am Haus von Stéphanie gewesen. Er war losgefahren, um etwas zu besorgen, und wollte auch an der Borie stoppen. Doch dort hatte er ein Auto parken sehen, und das war ihm komisch vorgekommen. Besser weiterfahren, hatte er gedacht, und dann hatte er die Autos an Stéphanies Haus gesehen.
Natürlich, auch einem Dummkopf wie ihm war klar, dass die Polizei nur eins und eins zusammenzählen musste. Stéphanie war verschwunden. Eine Frauenleiche war gefunden worden. Die Polizei schnüffelte herum. Sie bewachten außerdem die Borie, denn vielleicht würde der Mörder zurückkommen – und genau das hatte er ja vorgehabt.
Der Mann betrachtete seine Hand. Sie zitterte. Wenn nun alles herauskäme und der Herr es erfahren würde – nicht auszumalen.
Er schloss die Augen, dachte an seine Braut. Ihr Gesicht verschmolz mit dem der anderen – der, die seine künftige Braut sein könnte. Was wäre, wenn er das nächste Mal einen besseren Ort als Versteck wählen würde? Und wie großartig wäre es, wenn sie sogar noch am Leben wäre?
Stéphanie war ja bereits tot gewesen, als er auf den Gedanken gekommen war, ihren Körper nicht zu verstecken oder in die Schlucht zu werfen, sondern von ihm Besitz zu ergreifen. Er hatte ihn als Braut so hergerichtet, wie es seine Tradition von ihm verlangte. Aber er hatte gespürt, dass etwas fehlte. Es war … hohl. So, wie ihr Körper nur noch eine leere und seelenlose Hülle gewesen war. Hätte sie hingegen noch gelebt, hätte sie zu ihm gesagt: »Ja, ich will«, und sich ihm dann hingegeben? Er hätte ihr dann erklären können, worauf es ankam, was wichtig war für eine Braut wie sie – und, oh, vielleicht wäre sie dann sogar aus freien Stücken bereit gewesen, nach allen Regeln sein Weib zu werden und sich bewusst dem Ritus der Keuschheit hinzugeben …
Der Mann schluchzte auf. Wischte sich mit dem Handballen zwei Tränen aus den Augen. Er betrachtete wiederum seine Hände. Sie zitterten nicht mehr so stark. Das Beruhigungsmittel schien zu wirken. Gut so. Denn niemand durfte ihm seine Aufregung anmerken.
Schließlich zog er sich an. Zeit für das Abendessen. Der Mann hatte Hunger.