18
Castel lag auf dem Sofa
in ihrem kleinen Haus, das vor einigen Jahren noch an Touristen vermietet worden war. Sie hatte es möbliert übernommen – inklusive des Sofas, das reichlich durchgelegen war, aber dennoch bequem. Sie hatte die Füße hochgelegt, die in dicken Stricksocken steckten, und verfolgte abwesend den Weihnachtsfilm auf dem kleinen Flachbildschirm.
Alle Jahre wieder erlebte die Familie Griswold ein chaotisches Fest mit plötzlichem Familienbesuch und allem, was zu Weihnachten schiefgehen konnte. Castel machte sich nichts aus dem Fest. Sie würde ihre Eltern im Seniorenheim in Marseille besuchen, sich von der Stimmung dort niederdrücken lassen und sich danach wahrscheinlich unmittelbar wieder in die Arbeit stürzen. Allerdings hatte Jean, der gerade aus der kleinen Küche kam und zwei Weingläser mitbrachte, andere Pläne. Er machte einen großen Ausfallschritt über Mila, die schwarze Mopsdame, die er adoptiert hatte, weil ihr Besitzer verstorben war. Jeans Haare waren zerzaust wie immer und sein Kinn unrasiert. Er war Kunsthistoriker und arbeitete im Musée Granet in Aix-en-Provence, wo in der Weihnachtszeit und über Neujahr nicht viel los war, weswegen er Urlaub genommen hatte.
Er lachte leise, als im Fernsehen Chevy Chase auf dem Dach der Griswolds nach einer defekten Glühbirne suchte, die das Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung unmöglich machte. Castel wusste, was als Nächstes passieren würde: Er würde die Birne finden, austauschen, die Lichter wieder einschalten – und überall in der Stadt würde der Strom ausfallen.
Jean reichte Castel ein Glas, nahm seine Brille ab und legte sie auf den Kacheltisch. Er fragte: »Hast du darüber nachgedacht?«
»Habe ich«, erwiderte Castel. »Aber die Ereignisse überschlagen sich gerade. Ich werde mir über Weihnachten nicht freinehmen
können.«
»Aber: Barcelona, Sevilla, Granada …« Er sprach die Namen der Städte, die er mit Castel besuchen wollte, mit bedeutungsvoller Betonung aus. »Der Alcázar, die Alhambra. Cat. Wenigstens ein paar Tage? Wir setzen uns in Marseille in den Flieger, sind in zwei Stunden in Andalusien, entkommen dem Weihnachtswahnsinn, verbringen Heiligabend in einer Tapasbar, trinken Rioja und hören Flamenco, und am anderen Tag sind wir innerhalb von zwei Stunden wieder zurück, wenn du willst.«
»Ich kann nicht.«
Jean seufzte leise und trank einen Schluck Rotwein. Sein Leben hatte einen anderen Takt als das einer Polizistin. Manchmal fiel es ihm schwer nachzuvollziehen, dass sie niemals ganz abschalten konnte, weil manche Fälle sie bis in den Schlaf verfolgten. Außerdem war er sehr kunstinteressiert. Ein Besuch in einem maurischen Palast würde ihm sehr viel geben, Castel wohl eher weniger. Sicher, es war oft interessant, was Jean über Kunst und Kultur zu erzählen wusste. Castel gab sich Mühe, sich dafür zu interessieren, hatte aber absolut keine Ahnung davon. Manchmal fragte sie sich, ob eine beflissenere und belesenere Frau nicht besser zu Jean passen würde – eine, mit der er sich auf Augenhöhe über die Renaissancemalerei, Kubismus und expressionistische Poesie unterhalten konnte. Aber als sie das einmal angesprochen hatte, hatte er nur gemeint, das sei Blödsinn, schließlich könne er sich den ganzen Tag lang mit Kollegen und Freunden am Telefon darüber unterhalten, wenn er wolle.
Castel hoffte, dass das auch stimmte, denn nach langer Zeit war sie wieder bereit, sich für einen Mann voll und ganz zu öffnen. Jean hatte das in ihr ausgelöst, und die Gefühle für ihn wurden jeden Tag stärker.
»Kannst du dich denn wirklich nicht für drei Tage loseisen?« Jetzt sah er sie mit diesem jungenhaften Ausdruck an, bei dem Castel ihm normalerweise keinen Wunsch abschlagen konnte.
»Nein«, sagte sie und strich mit der freien Hand über seine stoppelige Wange. »Es gab einen Mord, Jean. Ich leite die Ermittlungen.«
»Davon hast du noch gar nichts erzählt.«
»Ich darf über manches nicht sprechen, weißt du?« Und anderes, dachte Castel, wollte sie außerdem fern von ihm halten.
»Hallo? Ich bin’s doch. Mit mir kannst und sollst du über alles reden.«
Castel lächelte. Sie streckte sich ihm entgegen und gab ihm einen Kuss.
»Handelt es sich um die Tote, die man bei La Roque-sur-Pernes gefunden hat?«
Castel nickte.
»Schrecklich. Ich habe es im Internet gelesen. Hat jemand sie vergewaltigt und getötet?«
Castel verneinte. »Dem Anschein nach war es keine sexuell motivierte Tat. Na ja. Obwohl … Vielleicht war es das doch. Wir wissen es noch nicht.«
»Du hast sie gesehen?«
»Natürlich. Vor Ort und bei der Obduktion.«
Jean seufzte wiederum. Dieses Mal trank er einen sehr großen Schluck Rotwein. »Entsetzlich. Wie hältst du das nur aus?«
»Mal besser, mal schlechter.«
»Und in diesem Fall?«
»So in der Mitte.«
»Das wäre überhaupt nichts für mich. Eine Leiche zu sehen, eine Ermordete, und dann noch eine solche Obduktion.«
»Jean. Menschen wie ich sind die Einzigen, die dafür sorgen können, dass einem Opfer Gerechtigkeit widerfährt. Als die Frau umgebracht wurde, konnte ihr niemand helfen. Nun ist jemand da, der das kann. Das bin ich. Ich kann sie nicht wieder lebendig machen. Aber ich kann die Tat sühnen, weißt du?«
»Wie ein Racheengel im weißen Gewand mit flammendem Schwert.« Jean lächelte milde. »Gefällt mir.«
»Nicht ganz«, sagte Castel.
Sie schwieg einen Moment. Dachte nach. Blickte in Gedanken versunken zum Fernseher, wo Chevy Chase einen Truthahn aufschnitt, der unmittelbar darauf in sich zusammenfiel.
»Jean?«, fragte sie dann.
»Ja?«
»Du hast neulich etwas über ein Gemälde erzählt und dabei eine
›Heilige Hochzeit‹ erwähnt.«
»Ich erinnere mich, ja. Was interessiert dich daran?«
»Erklär mir noch einmal, was das ist.«
»Es geht um eine spirituelle Verbindung. Es gibt ›Heilige Hochzeiten‹, ›Mystische Hochzeiten‹ … Hierogamie ist die Verbindung zwischen zwei Göttern oder zwischen einer Gottheit und einem Sterblichen. Dabei geht es um rituelle Vereinigungen, die einem höheren Zweck dienen und eher symbolisch zu betrachten sind. Bei den Kelten musste sich ein König rituell mit dem Land vermählen, über das er herrschte. Auch der Tag und die Nacht gehen eine Ehe ein. Oder Götter verschiedener Kulturkreise – sie ehelichten einander, weil man eine Verbundenheit zwischen zwei Völkern verdeutlichen wollte. Manchmal taten sie das durch ihre irdischen Vertreter: Könige, Priester … Bei den Babyloniern gab es den Neujahrsritus, dass der Stadtfürst sich mit der Göttin Inanna vermählte, die vermutlich durch eine Priesterin vertreten wurde. Das gibt es auch im Christentum – die Verbindung zwischen Gott und den Menschen oder dem Volk Israel, die Verlobung geweihter Jungfrauen mit Christus und …«
»Stopp«, sagte Castel. »Was bedeutet das genau?«
»Die Bräute Christi, Cat. Nonnen zum Beispiel. Sie bleiben um Gottes willen Jungfrauen, denn auch Christus war der Sohn einer Jungfrau. Sie suchen einzig, was das Sakrament der Ehe im Kern bedeutet: die Verbindung Christi mit seiner Kirche. Es gibt sehr viele sehr unterschiedliche Braut-Mystizismen.«
»Jungfrauen«, wiederholte Castel. Ihre Gedanken drehten sich immer schneller.
»Auch das ist ein alter Mythos, Cat – Zeus vereinigte sich einmal im Jahr mit Hera unter einem Keuschbaum. Danach nahm sie ein Bad in einem Fluss, das ihre Jungfräulichkeit wiederherstellte.«
»Unter einem Keuschbaum
?«
»So nannte man den Mönchspfeffer. Eine Heilpflanze, die angeblich den Geschlechtstrieb abschwächt. Man setzte sie bei verschiedenen rituellen Handlungen ein, um auf eine keusche und schamhafte Ehe, die auf Reinheit aufbaut, hinzuweisen.«
Castel trank einen großen Schluck Wein. Hatte der Mörder von Stéphanie Kaufmann etwas Derartiges im Sinn gehabt?
»Wenn du mich fragst«, sagte Jean und drängte sich an Castel, »halte ich nicht sehr viel von derlei Dingen.«
»Keuschheit?« Castel grinste und ließ sich das Glas aus der Hand nehmen.
»Nein. Die braucht niemand.«
»Aber du brauchst offenbar eine Handvoll Mönchspfeffer, hm?«
»Auf gar keinen …«, sagte Jean und küsste Castel in den Nacken, »… Fall.«