20
Didier Hervé war kein großer Mann.
Er hätte Albins Brustbein mit der Nasenspitze berühren können. Andererseits war Albin ja auch recht groß, über eins neunzig. Hervés Hand fühlte sich in Albins weich und trocken an, als sie sich begrüßten. Die Kanzlei befand sich in einem altehrwürdigen Bürgerhaus im Zentrum, in dem einige Telefone klingelten, Assistentinnen damit befasst waren, sie anzunehmen, während die drei neuen Teilhaber der Kanzlei sich gerade in einem Besprechungszimmer versammelten.
Hervé trug einen dunkelblauen Zweireiher mit einer Lions-Club-Anstecknadel am Revers, eine teure Brille sowie eine nicht minder teure Armbanduhr.
Er bestellte zwei Kaffee bei seiner Sekretärin, die sich über Tyson außerordentlich entzückt zeigte, und führte Albin und Tyson schließlich in sein Büro.
Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt. Überall befanden sich Regale mit Büchern. Der Schreibtisch mit der obligatorischen Anwaltslampe mit grünem Glasschirm war ebenfalls aus dunklem Holz, die Sessel und eine Couch aus gestepptem, dunkelrotem Leder. Es roch angenehm nach Zigarre, und ein gefüllter Aschenbecher verriet Albin, dass Hervé es nach wie vor nicht so eng sah mit dem Rauchverbot, das zwar im Haus galt, aber nicht für ihn persönlich und nicht für gute Kunden beziehungsweise Klienten, die er mochte.
»Die Vorweihnachtszeit macht einen vollkommen verrückt«, sagte Hervé, setzte sich und zog gleichzeitig die Schublade am Schreibtisch auf, um ein Kauknöchelchen für Tyson herauszuholen. »Ich habe selbst zwei Hunde«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Setter.«
Tyson schien das gleichgültig zu sein. Über das Leckerchen war er jedoch hocherfreut und zerknackte es sogleich zwischen den Zähnen.
»Weihnachten wird jedes Jahr schlimmer«, sagte Albin und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Er war überraschend bequem.
Hervé winkte ab. »Meine Frau lädt die ganze Familie ein. Das sind fast zwanzig Personen. Meine Güte.« Hervé lachte und faltete die Hände anschließend zu einer Raute auf der Schreibtischunterlage. Er schwieg, während seine Assistentin mit dem Kaffee kam und kaum eine Sekunde später wieder hinausschwebte, wobei sie die Tür geräuschlos hinter sich schloss.
»Meine ebenfalls«, sagte Albin. Der Kaffee duftete betörend. »Allerdings werden wir deutlich unter zwanzig sein.«
»Sie haben wieder geheiratet?«
»Nein. Meine Lebensgefährtin. Sie führt das Blumengeschäft gegenüber vom Café du Midi.«
»Oh? Diesen hübschen Laden?«
»Ja.«
»Und die Inhaberin … diese …«
»Veronique.«
Hervé machte eine anerkennende Geste. »Na, herzlichen Glückwunsch, mein Lieber. Gute Wahl.«
»Ich kann mich nicht beklagen. Danke.«
Hervé lächelte. »Ich verfolge Ihre Karriere seit einiger Zeit, Albin. Die alte und auch die neue. Sie können es nicht bleibenlassen. Ich weiß ganz genau, wie das ist. Geht mir nämlich genauso. Ich gehe meinen Nachfolgern auf den Geist, ich weiß. Aber es gibt Schlimmeres. Sie werden es überleben.«
Albin grinste.
»Und jetzt sind Sie polizeilicher Berater.«
»Hat nicht viel zu sagen. Ich helfe nur ein bisschen aus.«
»Immerhin.« Hervé genehmigte sich etwas Kaffee. »La Roque-sur-Pernes«, sagte er dann und formte die Hände wieder zur Raute. »Dieser Mordfall? Was kann ich Ihnen dazu sagen? Gar nichts, mein Lieber. Ich weiß nur das, was in den Nachrichten lief. Entsetzlich.«
»Ja, dieser Mordfall«, bestätigte Albin. »Aber es geht mir um einige Dinge, die nicht den Mord betreffen.«
»Sie haben es am Telefon bereits angedeutet.«
Albin nickte.
»Nun«, sagte Hervé und holte tief Luft. »Dann wollen wir mal sehen, ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich habe gestern Abend und heute Morgen ein wenig in meiner Erinnerung und in unseren Unterlagen gekramt. Einige Dinge kann ich aus datenschutzrechtlichen Gründen natürlich nicht weitergeben. Aber es ist richtig, dass es über einen längeren Zeitraum hinweg Streitigkeiten um Grundstücke in La Roque gegeben hat, auch in Erbschaftsangelegenheiten. Die Geschichte des Ortes hat es quasi mit sich gebracht, dass über einen gewissen Zeitraum hinweg diverse An- und Verkäufe getätigt worden sind. La Roque wurde nahezu vollkommen neu besiedelt. Nach dem Krieg lebten ja nicht einmal mehr zwanzig Menschen dort. Wenige Jahre später fast zweihundertmal so viele. Da liegt es auf der Hand, dass es eine rege Immobilien- und Grundstückstätigkeit gab.«
»Ihre Kanzlei war da involviert?«
»Ein wenig. Mein Vorgänger. Ich selbst habe einige Klienten übernommen, keine Handvoll. Das letzte wirklich große Geschäft wurde in den Neunzigern abgewickelt. Und ein oder zwei langwierige Streits.«
»War die Familie Kaufmann Klient bei Ihnen?«
»Darüber darf ich keine Auskunft erteilen, Albin. Aber es ist mir bekannt, dass die älteren Herrschaften verstorben sind, und man würde vermuten, dass ihr Besitz an die Tochter überging.«
»Woran sind die Kaufmanns gestorben? Und wann?«
Hervé zögerte ein wenig, um Albin zu bedeuten, dass er darüber eigentlich nicht sprechen durfte. Albin ließ den Moment vorbeiziehen und schwieg, machte nur eine Geste mit den Händen, die dem Notar bedeuten sollte, dass selbstverständlich jedes unter vier Augen gesprochene Wort informell und ohne Quellenangabe verbleiben würde. Hervé kannte Albin gut genug, um das wortlos zu verstehen.
Er sagte: »Sie sind eines natürlichen Todes gestorben. Zunächst sie. Dann einige Jahre später er, genau genommen vor drei Jahren. Seitdem gehören das Haus und das Grundstück der Tochter. Ich habe ihr geraten, es zu verkaufen. Aber sie will nicht.«
»Gab es denn Angebote?«
»Es gibt ein Angebot, das nach wie vor auf dem Tisch liegt.
Dennoch will sie es nicht verkaufen.«
»Sie kann es nicht mehr verkaufen.«
»Oh?« Hervé merkte auf.
»Dieser Mordfall …«, sagte Albin.
»Oh Gott.« Hervés Augen weiteten sich. Er schluckte, sichtlich betroffen. »Das ist ja … fürchterlich. Eine so junge Frau. Weiß man bereits etwas Genaueres?«
»Wir stehen ganz am Anfang.«
»Ein Lustmord?«
»Je nachdem, wie man es sieht. Ich darf über die Umstände nicht im Detail sprechen.«
»Natürlich nicht.«
»Ebenso wenig wie Sie über den Kaufinteressenten.«
Hervé hob das Kinn ein wenig. Massierte sich den Hals und trank dann etwas Kaffee. »Denken Sie an ein bestimmtes Mordmotiv?«, fragte er schließlich.
Albin trank nun ebenfalls einen Schluck Kaffee. Er war gut, heiß und stark. Er sagte: »Die Umstände der Tat sind sehr außergewöhnlich. Ein Mord aus Habsucht – ich weiß nicht, das ist schwer vorstellbar.«
»Wir reden hier außerdem über keine hohe Kaufsumme«, sagte Hervé.
»Wie hoch ist denn der Wert des Hauses samt Grundstück?«
»Der Verkehrswert lag bei der letzten Schätzung bei insgesamt neunzigtausend Euro. Das vorliegende Angebot beläuft sich auf fünfundsechzigtausend Euro. Dafür tötet man doch niemanden.«
Albin zuckte die Schultern. »Es wird für weitaus weniger Geld getötet.«
»Aber dieses Haus und das Grundstück sind reichlich heruntergekommen.«
»Vielleicht will es jemand unbedingt haben – aus Gründen, die anderen verschlossen sind.«
Hervé dachte nach, sagte dann: »Aber Sie sagten, die Tatumstände seien außergewöhnlich. Wie außergewöhnlich?«
»So außergewöhnlich, dass ein Mord aus Habsucht nicht auf der Hand liegt. Eher das Werk eines Ritualmörders oder Serientäters.«
»Meine Güte!«
»Natürlich kommt in Betracht, dass der Mörder es nur so aussehen lassen will. Dass das Ritualhafte nur Tarnung ist. Es gibt viele denkbare Motive. Das muss ich Ihnen nicht erzählen.«
»Aber, lieber Albin, beim besten Willen – wir können nicht sofort jeden Kaufinteressenten für das Haus verdächtigen, nicht wahr?«
Albin schwieg, ließ den Blick über die Buchrücken wandern, schaute kurz zu Tyson, der sich nach wie vor auf dem Boden mit dem Knöchelchen vergnügte und nur einmal kurz aufsah.
Albin sagte: »Also, die Kaufmanns sind eines natürlichen Todes gestorben, waren aber zu Lebzeiten in langwierige Streitigkeiten über ihren Grundbesitz verwickelt?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Albin lächelte. »Ich weiß. Aber ich dachte, Sie sagen einfach ja oder nein.«
Hervé seufzte. »Sie wissen doch …«
»Und Sie wissen, dass wir über Mord reden und meine Kollegen sowieso früher oder später mit einer gerichtlichen Verfügung in Bezug auf Informationen über Ihre Klientin Stéphanie Kaufmann antanzen werden.«
Hervé blickte Albin unsicher an.
»Möchten Sie die Bilder vom Tatort sehen? Soll ich Ihnen sagen, was der jungen Frau angetan wurde? Okay. Ich sage es Ihnen, und Bilder habe ich ebenfalls. Die sind nicht schön. Die sind anders als alles, was sie bislang in Ihrem Leben gesehen haben, versprochen.«
Hervé seufzte erneut, hielt die Hände in einer entwaffneten Geste hoch, die Handflächen zu Albin, und ließ sie hörbar auf den Tisch sinken. »Die Kaufmanns waren nicht in Streitigkeiten verwickelt. Ein Angebot für den Ankauf ihres Besitzes gab es erst kurz vor dem Tod vom alten Kaufmann vor vier Jahren. Damit kam er zu mir und fragte, was ich davon halte. Ich empfahl ihm zu verkaufen, weil er für sein Land und sein Haus niemals wieder so viel Geld angeboten bekommen wird – selbst wenn es unter dem Verkehrswert lag. Seiner Tochter habe ich, wie erwähnt, später dasselbe empfohlen. Aber sie wollte nicht verkaufen, was vermutlich moralische Gründe hat. Das Haus ihrer Eltern …«
»Worum ging es bei den Streitigkeiten?«
»Die Kaufmanns hatten, wie erwähnt, keine …«
»Klar. Aber worum ging es?«
»Wem gehören diese zwei Quadratmeter von Grundstück A und wem jene Hecke auf Grundstück B, so etwas in dem Stil.«
»Definitiv nichts, womit die Familie Kaufmann zu tun hatte?«
»Nein.«
»Und dieses letzte große Grundstücksgeschäft in den Neunzigern?«
»Dabei handelte es sich um den Erwerb des Areals, das heute als Sanatorium genutzt wird.«
»Dieser …«
»Sonnenhof. Château du Soleil.«
Albin nickte. Der Ortsbürgermeister hatte ihm davon erzählt.
Hervé fuhr fort: »Das Grundstück samt dem ehemaligen Gutshof fiel an die Gemeinde, weil die Vorbesitzer ohne Erben verstorben waren. Ende der neunziger Jahre wurde es dann von einem Privatmann erworben. Er hat viel Geld in die Sanierung investiert.«
»Auf welche Weise waren diese Vorbesitzer verstorben?«, fragte Albin.
»Selbstmord.«
»Ach.«
»Sie waren Mitglieder dieser Sekte gewesen, die in den neunziger Jahren mit einem Massensuizid Furore machte: die Sonnentempler. Daher nennt man das Areal im Volksmund auch ›Sonnenhof‹, obwohl das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Der neue Besitzer hat es übernommen und nennt seine Einrichtung ›Château du Soleil‹. Sie erinnern sich an die Sonnentempler?«
»Ja«, sagte Albin.
Zumindest in den Grundzügen. Der Orden der Sonnentempler. Ordre du Temple Solaire
.O.T.S. Es gab Mitte bis Ende der neunziger Jahre einige Mord- und Selbstmordfälle, die mit den Sonnentemplern in Verbindung standen. Vollkommen verrückte Geschichte. Rund fünfundsiebzig Tote insgesamt. Die Sonnentempler hielten sich für eine Art neuen Geheimorden aus Rosenkreuzern und Tempelrittern und verfolgten ein apokalyptisches Weltbild. Die Großmeister hielten sich für Wiedergeborene von Osiris, Jesus oder Moses mit einem okkulten Geheimwissen und magischen Fähigkeiten.
Der echte Templerorden hatte sich Anfang des 12
. Jahrhunderts in Jerusalem gegründet, vereinte die Stände des Ritter- und des Mönchtums und galt während der Kreuzzüge als Elitetruppe, die direkt dem Papst unterstand. Er schützte die Pilger auf dem Weg nach Jerusalem, schützte auch den Tempel Salomons und hatte einen strikten Ehrenkodex. Die Templer waren ziemlich reich und mächtig, über ganz Europa verstreut, ein Staat im Staat. Unter Philipp IV
., dem Schönen, der das Papsttum nach Avignon überführt hatte, wurde der Orden schließlich der Ketzerei bezichtigt und in einer Welle der Gewalt am »Schwarzen Freitag« 1307
vernichtet, aller Besitz beschlagnahmt. Der letzte Großmeister wurde 1314
in Paris verbrannt. Böse Zungen behaupten, dass kolossale Schulden der Krone bei den Templern der Hintergrund waren, zumal die Templer nahezu alle Bankgeschäfte in der Hand hatten und nur dem Papst Rechenschaft schuldeten – nicht aber dem König.
Diese Sonnentempler sahen sich nun als Wiedergeborene an, zumindest deren Chefs. Zum Höhepunkt seiner Aktivitäten hatte der Verein Hunderte von Mitgliedern weltweit, fast zweihundert in Frankreich, fast alle aus der zahlungskräftigen Mittel- und Oberschicht. Es gab Auftragsmorde, als es zu Machtkämpfen und Ausstiegen kam, und schließlich ein Massaker mit sehr vielen Toten, ausgelöst durch Hinrichtungen, Suizide und vorgetäuschte Suizide. Fast so wie im Dschungel von Guyana unter der Führung des berüchtigten Gurus Jim Jones.
Aber die Sonnentempler waren noch nicht fertig – auch ein Jahr nach der Katastrophe und noch Ende der Neunziger kam es zu weiteren Massenselbstmorden und Morden. Einmal wurden knapp zwanzig verkohlte Leichen im Wald gefunden – die Menschen wollten in einem rituellen Selbstmord in eine andere Sphäre reisen und einen Transit zum Sirius unternehmen. Die Aufklärung des ganzen Spektakels zog sich in der Schweiz und in Frankreich noch fast zehn Jahre hin.
»Das Anwesen gehörte einem wohlhabenden Pärchen«, fuhr Hervé fort. »Aber offenbar waren sie entweder vollkommen verwirrt oder auf der Suche nach etwas, das sie bei den Sonnentemplern zu finden glaubten. Wer weiß. Vielleicht geht es ihnen sogar gut auf dem Sirius – und wir sind die Blöden.« Der Notar
lächelte ironisch.
»Verstehe«, sagte Albin. »Wie dem auch sei: In jedem Fall dürfte das Haus von Stéphanie Kaufmann nun zur Verfügung stehen. Wir werden beobachten, wer dieser Kaufinteressent ist, den Sie nicht nennen wollen.«
Hervé schwieg.
»Das Haus«, sagte Albin, »dürfte dann ja wie dieser Sonnenhof an die Gemeinde gehen, nicht? Falls es keine Erben gibt.«
»Oh, das ist nun wieder bemerkenswert.«
»Warum?«
»Falls es an die Gemeinde fällt.«
»Warum?«
Hervé reckte den Hals wie eine Schildkröte, massierte den Adamsapfel. Schien nachzudenken und etwas abzuwägen.
»Kennen Sie eigentlich Michel Thomas?«, fragte er.
»Den Ortsbürgermeister?«
»Den meine ich.«
»Ich habe ihn kennengelernt. Warum?«
»Ach, nur so«, sagte Hervé.
Albin kapierte. »Thomas wollte den Hof der Kaufmanns erwerben?«
»Das müssen Sie ihn selber fragen. Dazu kann und darf ich absolut nichts sagen«, erwiderte Hervé.
»War der auch in die anderen Streitigkeiten verwickelt, dieser Thomas?«
»Er wird Ihnen möglicherweise auch darauf eine Antwort geben können.«
»Lassen Sie mich raten: Mit dem Verkauf des Sonnenhofs hatte er auch zu tun?«
»Jetzt darf ich aber wirklich nichts mehr sagen«, bemerkte Hervé, leerte seine Kaffeetasse und sah Albin an.
»Er scheint ja eine Leidenschaft für Grundbesitz zu haben, hm? Was will er nur damit?«
Hervé zuckte mit den Achseln. »Manche Leute sammeln Yachten, andere Briefmarken, sie kaufen und verkaufen – und manche sammeln eben Häuser und Grundstücke.«
»Und Sie meinen, das sei deshalb bemerkenswert, weil sich
Thomas quasi die Areale selbst verkaufen kann, wenn sie an die Gemeinde fallen?«
»Der Weg des Geldes«, sagte Hervé mit einem unschuldigen Lächeln, »ist seit Tausenden von Jahren unergründlich, aber stets konstant.«