32
Wenn du nicht mehr weiterweißt, dachte Albin und stieg aus dem Wagen aus, dann gehst du in die Bibliothek. Und wenn du absolut nicht mehr weiterweißt und verstehen willst, was in den Köpfen der Leute los ist, dann gehst du mittags ins Café Le Siècle am Place Charles de Gaulle in Carpentras, direkt gegenüber der Kathedrale und dem Justizpalast. Denn in diesem Café saß für gewöhnlich jeden Mittag Fernand Foucher und aß einen Salat oder die »Plat du Jour«, das Tagesgericht. Foucher war Psychologe und im Ruhestand. Er musste inzwischen an die achtzig Jahre alt sein.
Soweit Albin wusste, lebte er allein, weswegen er gern die Gesellschaft anderer Menschen suchte und außerdem lieber auf das Kochen verzichtete. Albin kannte ihn seit geraumer Zeit. Er hatte ihm einmal mit einer inoffiziellen Expertise geholfen, als Albin einen Kindermörder gejagt hatte – ein geradezu traumatischer Fall. Foucher war zwar kein Fachmann für forensische Psychiatrie, hatte aber einige Zeit in einer Klinik als Chefarzt gearbeitet, bevor er genug davon hatte und sich mit einer eigenen Praxis selbständig machte.
Weil die Staatsanwaltschaft in der Zeit vor Luc Bonnieux noch reichlich »alte Schule« gewesen war und wenig von neumodischen Dingen wie Täterprofilen und operativer Fallanlayse gehalten hatte, war Albin privat zu Foucher gegangen und hatte sich dort Rat über die Gedankenwelt eines pädophilen psychopathischen Narzissten geholt – und auf diese Weise den Drecksack am Ende auch gefasst.
Albin stopfte die Hände in die Jackentaschen und ging auf das Café zu. Die gesamte Innenstadt war weihnachtlich dekoriert. Es gab Girlanden aus Tannenzweigen, mit Kugeln geschmückte Weihnachtsbäume sowie eine über die Straßen gespannte Beleuchtung mit adventlichen Motiven. Überall standen kleine Buden herum, die zum Weihnachtsmarkt gehörten – davon gab es überall einen, sowohl in den kleineren Orten, als auch in den größeren Städten. In Avignon zum Beispiel war der gesamte Platz vor dem Papstpalast in einen Weihnachtsmarkt verwandelt worden, in Aix-en-Provence der Cours Mirabeau.
Albin bewegte sich zwischen kreuz und quer parkenden Transportern von Paketdiensten hindurch und wich gehetzten Menschen aus, die große Plastiktüten mit sich trugen, in denen ohne Zweifel jede Menge Geschenke steckten. Er blickte etwas verstört auf den Brunnen, der mit übergroßen Zuckerstangen und Lollis dekoriert war. Außerdem sah er eine kleine Eisbahn, auf der Kinder Schlittschuh liefen. Sogar ein kleiner Abhang mit Kunstschnee war dort aufgeschüttet. Schließlich erkannte er die dunkelgrüne Markise des Cafés, das zwischen einer Bar Tabac und einem Kindermodengeschäft lag. Die Kirchturmuhr schlug gerade ein Uhr Mittag, und zwar ohrenbetäubend laut, denn die Kathedrale befand sich keine zehn Meter von Albin entfernt.
Er betrat das Café und zog automatisch den Reißverschluss seiner Jacke auf, denn hier drin war es äußerst warm – sogar so warm, dass das Thekenpersonal in kurzärmeligen Hemden arbeiten konnte. Außerdem war jeder Platz besetzt. Kein Wunder, es war Mittagszeit. Es roch nach Essen und Kaffee. Weihnachtliche Girlanden hingen an der Wand, in den Regalen standen kleine Weihnachtsbäume. Die Klangkulisse von durcheinanderredenden Menschen und dem Geklapper von Tellern und Tassen war ohrenbetäubend – doch leider nicht laut genug, um die Melodie von »Last Christmas« in einer Rap-Version zu verdecken, die aus den Boxen klang.
In der hinteren Ecke machte Albin an der Theke einen kleinen Mann aus, der wie ein alter Geier über einem Teller gebeugt saß, ein Sandwich verspeiste und etwas zu lesen schien. Seine Haare waren so grau wie seine Haut und sein Anzug. Er trug eine überdimensionale schwarze Hornbrille, die in seinem schmalen, faltigen Gesicht merkwürdig deplatziert aussah, aber Foucher eine gewisse künstlerische Note verlieh.
Albin zog seine Jacke aus und drängte sich an den Tischen vorbei zu Foucher, der aufblickte und Albin für einen Moment durchdringend ansah. Die Brillengläser schienen seine Augen auf unnatürliche Art und Weise zu vergrößern. Außerdem machte ihm die Hitze offenbar nichts aus: Unter seinem Sakko aus dickem Stoff trug er einen Pullover und ein hellblaues Hemd. Ein bordeauxroter Schal hing um seinen Hals.
Foucher schien Albins Gesicht einzusortieren. Dann machte es klick.
»Leclerc«, sagte Foucher mit rauer Stimme, tupfte sich mit einer Papierserviette etwas Remoulade vom Mundwinkel, faltete sie zusammen und wischte damit über das Display des Tablets, das vor ihm auf dem Tisch lag und die Seite von »Le Monde« geöffnet hatte. Auf den Bildschirm war ebenfalls etwas Soße getropft. Beachtlich, dachte Albin. Nicht die Remoulade, sondern die Tatsache, dass Foucher die Nachrichten online las. Albin hätte ihn eher für einen Nostalgiker gehalten, der auf Printmedien setzte.
»Leibhaftig«, erwiderte Albin und ergriff Fouchers sehnige Hand zum Gruß. Man konnte jeden einzelnen Knochen unter der pergamentartigen, mit Altersflecken gesprenkelten Haut spüren.
»Sie gehen fremd«, sagte Foucher. »Sie sind doch sonst immer im Café du Midi?«
»Das wissen Sie?«
»Jeder weiß, dass Leclerc im Midi ist. Sitzt im Sommer draußen unter den Platanen wie eine Spinne in ihrem Netz. Kann es einfach nicht sein lassen.« Foucher grinste breit. Seine Zähne waren vom Rotwein und dem Alter verfärbt.
»Ich frage besser nicht, was der Psychologe Foucher dazu sagt.«
Foucher lachte und ließ Albins Hand los. »Vermutlich«, merkte er an, »würde er nur das bestätigen, was Ihnen ohnehin schon klar ist.«
»Ich nehme es an. Und jeder weiß außerdem, wo man Foucher trifft, wenn man ihn sucht.«
Foucher betrachtete Albin, amüsiert und erfreut zugleich, jedenfalls wirkte er so. Er hob das Kinn etwas an und schob die leicht verrutschte Brille zurück auf den Nasenrücken. »Tut man das?«
Albin nickte.
»Sie haben ein … Problem?«
Albin machte eine abschätzende Geste mit der Hand.
»Hat mit einem Fall zu tun?«
»Ich darf nicht darüber sprechen.«
Jetzt schien Fouchers Interesse erst recht geweckt zu sein. Er bot Albin den Barhocker neben sich an. Albin nahm Platz, bestellte bei einem der kurzärmligen Kellner einen Kaffee und wandte sich dann zu Foucher.
»Erzählen Sie«, forderte der ihn auf.
»Rituelle Verstümmelungen«, sagte Albin. »Amputierte Geschlechtsorgane, primäre und sekundäre. Geißelung. Religiöser Wahn. Eventuell Nekrophilie – die Vermählung mit einer Toten.«
»Teufel!«, rief Foucher und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. »Das klingt verflucht interessant, mein Lieber!«
Albin krempelte sich die Ärmel auf. Er schwitzte.
»Kann ich mehr erfahren?«, fragte Foucher.
»Ein genitalverstümmelter Täter, der sich geißelt oder sich peitschen lässt. Ein Opfer, das der Täter post mortem ähnlich verstümmelt wie sich selbst und ihm ein Brautkleid anzieht.«
»Männlich oder weiblich?«
»Das Opfer weiblich, der Täter männlich.«
»Bestimmter religiöser Hintergrund? Etwas Afrikanisches womöglich?«
»Beide weiß, vermutlich katholisch. Der Täter stammt aus Osteuropa.«
»Woher genau?«
»Rumänien.«
»Er hat keinen Sex mit der Braut gehabt, richtig?«
»Dafür gibt es keine Belege. Außerdem: Wie sollte er? Er hatte keinen … Sie wissen schon.«
»Und sie später auch nicht mehr, korrekt?«
»Nein, das Opfer ebenfalls nicht mehr.«
»Darum geht es, Leclerc. Keuschheit.«
Foucher betrachtete Albin erneut durchdringend, dann schnappte er sich sein iPad und tippte darauf herum.
»Großartige Erfindung«, sagte er, »dieses Internet und diese Tabletcomputer. Ich komme immer her, weil ich hier kostenloses W-Lan habe. Zu Hause müsste ich ja teures Geld bezahlen. Kommt nicht in Frage, das braucht man heute nicht mehr.«
»Ich sehe Sie immer noch in ihrem Arbeitszimmer sitzen, umgeben von lauter Bücherregalen«, sagte Albin.
Mit der freien Hand winkte Foucher ab. »Man muss mit der Zeit gehen, Leclerc, und die richtigen Mittel in der richtigen Dosis anwenden. Für manches sind Bücher gut. Für anderes ist das Internet besser. Es hat keinen Zweck, auf der Stelle zu treten, verstehen Sie? Alles ist im Fluss. Nicht alles daran ist gut. Vieles aber schon. Ich kann hier sitzen und mir die Welt an die Theke holen, mit allen kommunizieren. Fabelhaft ist das. Ihre Geschichte über diesen Mörder hingegen … Das ist sehr radikal«, sagte Foucher. »Rituelle Beschneidungen kennen wir aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Aber dieser Fall geht weit darüber hinaus. Ist der Täter in der Vergangenheit psychiatrisch aufgefallen?«
»Nicht, soweit wir wissen«, antwortete Albin.
»Mutwillige Beschädigung des eigenen Körpers kann mit schweren Krankheiten zu tun haben, mit Spannungsabbau, Bestrafung. Auch damit, dass man sich im falschen Körper fühlt. Oder mit Lustgewinn. Aber die Geschlechtsorgane … sowohl die männlichen als auch die weiblichen …«
»Ein Lustmörder, der etwas kompensieren will? Den eigenen Verlust?«
Foucher ging auf Albins Bemerkung nicht ein. Er sagte: »In der Antike und der früheren Neuzeit gab es Eunuchen, davon haben Sie fraglos gehört. Das hatte teils rein praktische Gründe. Diese Leute sollten in Harems keine Gefahr darstellen. Bei den alten Römern und Griechen galt es als schick, sich Eunuchen als Sklaven zu halten. Teils hatte das Eunuchsein religiöse Hintergründe. Quer durch die Epochen und Länder gab es diverse Kulte, in denen sich Jünglinge, die Priester werden wollten, rituell entmannten. In Indien gab und gibt es das ebenfalls – das dritte Geschlecht, die Hijras. Das hat in dem Fall aber nichts mit Religion zu tun. Und sie kennen die Kastratenchöre – die Entmannung für die Kunst, um eine hohe Stimme zu behalten.«
Foucher wendete sich wieder Albin zu. Er betrachtete ihn mit seinen riesigen Eulenaugen erneut nachdenklich.
Schließlich erklärte er: »In der Psychiatrie kennen wir das ›Skoptische Syndrom‹. Schon mal gehört?«
»Nein, noch nie«, sagte Albin.
»Ich habe es eben erwähnt: Es gibt zwanghafte Störungen, die mit Genitalverstümmelungen einhergehen. Leclerc, Sie sagten etwas von Rumänien.«
»Ja.«
»Die Sekte der Skopzen. Daher leitet sich der Name des Syndroms ab. Ist ein ultrareligiöser Geheimbund aus Russland, entstand so Mitte des 18 . Jahrhunderts aus den Flagellantensekten.«
Geißelung, dachte Albin. Die Striemen auf dem Rücken des Toten.
Während Foucher weiterredete, schob er Albin sein Tablet hin. Er sah Bilder von Männern ohne Penisse, von Frauen ohne Brüste. »Die Skopzen propagierten vollkommene Enthaltsamkeit. Geschlechtsverkehr war verboten, und zwar in Berufung auf Adam und Eva und das Böse, das erst durch die Sexualität in die Welt gekommen sein sollte. Um den Geschlechtsverkehr zu verhindern und jeden Reiz auszuschalten, haben sie sich verstümmelt. Ist mir ein Rätsel, wie sie sich dann fortgepflanzt haben. Aber irgendwie ging es wohl. Viele sind dann vor der Verfolgung nach Rumänien emigriert. Sie erwarteten die Wiederkehr ihres Sektengründers als Messias. Nach der Offenbarung des Johannes in der Bibel bedarf es hundertvierundvierzigtausend Geschlechtsloser dazu, weswegen die Sekte eifrig missionierte. So viele Menschen dieser Art bekommt man nicht an jeder Straßenecke. Die Skopzen kamen immerhin auf ein paar tausend Mitglieder. Es gibt die Sekte bis heute, allerdings ohne Verstümmelungen.« Foucher tippte mit dem Fingernagel auf das Display. »Steht alles im Internet, Leclerc. Man muss nur wissen, wo man es findet. Ist ein Segen, diese Erfindung.«
Die Hochzeit, dachte Albin. Die Braut. Wie sie hergerichtet war. Die Amputationen. Der Täter, der das Opfer zu seinesgleichen machen wollte.
»Sie meinen …«, brummte Albin und kratzte sich das Kinn.
»Gar nichts meine ich«, sagte Foucher. »Die Schlüsse müssen Sie ziehen, Leclerc. Aber ein Täter aus Rumänien mit entfernten Geschlechtsorganen, der diese seiner Braut ebenfalls entfernt und sich zudem offensichtlich gegeißelt hat, aber bislang nicht psychiatrisch in Erscheinung trat, weil alles, an dem er leidet, religiöser Irrsinn ist …«
»Ja«, sagte Albin. »Vielleicht war er ein solcher Skopze. Und gleichzeitig irre.«
»Irre sein ist immer eine Frage der Perspektive«, sagte Foucher. »Aus der Sicht ihres Täters waren wir vielleicht die Verrückten.«
»Ja. Für ihn war religiöser Wahn eher normal.«
»Zu viel des Guten, Leclerc, ist immer schlecht. Egal, um was es sich handelt. Essen Sie zu viele Calissons, wird Ihnen schlecht. Trinken Sie zu viel, werden Sie krank. Vertiefen Sie sich zu sehr in Ihre Abgründe, drehen Sie durch. Na ja, und mit der Religion ist es nicht anders. Nichts«, ergänzte Foucher und klopfte Albin auf die Schulter, »mein Lieber, geht über einen ordentlichen Durchschnitt.«