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Lazar stand in seinem Büro,
die Hände in den Hosentaschen vergraben, und betrachtete die gerahmten Diplome an der Wand. Erinnerungen an eine längst verblichene Zeit. Wie sagte man? Lass die Schatten der Vergangenheit hinter dir und strecke das Gesicht der Sonne entgegen.
Wobei: Allzu »schattig« war die Vergangenheit nicht gewesen, das konnte man nicht behaupten. Lazar hatte eine ziemlich gute Zeit gehabt, als die Welt noch in Ordnung gewesen war, damals im Rumänien vor dem großen Zusammenbruch des Ostblocks. Militär, Staat und Geheimdienst hatten Lazar ein angenehmes Leben ermöglicht und seine Ausbildung finanziert – die beste, die man seinerzeit bekommen konnte. Außerdem hatte ihm die Regierung während seiner Dienstzeit Forschungen ermöglicht, zum Beispiel, was die Sekte der Skopzen anging. Lazar hatten die Mechanismen fasziniert, die Menschen zu einem so tiefen Glauben brachten, dass sie sich bereitwillig selbst amputierten. Ja, er hatte sich sehr intensiv damit befasst – auch mit dem Massenselbstmord der Sekte von Jim Jones im Dschungel von Guyana, wo sich fast tausend Menschen das Leben genommen hatten.
Lazar war von dieser Hingabe begeistert gewesen und außerdem sicher, dass man daraus ein brauchbares Instrumentarium entwickeln konnte. Es war ja hinlänglich bekannt, dass man Menschen mit der klassischen Gehirnwäsche unter Einwirkung von Medikamenten und Drogen umprogrammieren oder mit Gewalt und Druck dazu bringen konnte, so zu funktionieren, wie es erforderlich war. Nach Lazars Meinung war das wenig elegant und nicht allzu nachhaltig. Erheblich wirksamer und eleganter wäre es doch, Menschen dazu zu bringen, dies freiwillig und mit Leidenschaft tun zu wollen. Das konnte man einerseits mit jahrelanger Indoktrination und staatlichem Druck erreichen, was ja in seinem Heimatland auch
sehr erfolgreich funktioniert hatte.
Aber das andere Modell war nach Lazars Einschätzung sehr viel erfolgreicher und außerdem in kürzerer Zeit zu erreichen. Die Angehörigen von Sekten erlangten den Status der höchsten leidenschaftlichen Hingabe manchmal sogar innerhalb nur eines Jahres. Natürlich: Die meisten dieser Menschen waren ohnehin Suchende und viel empfänglicher für derartige Botschaften. Dennoch war Lazar der Auffassung, dass man mit seiner Methode sehr nachhaltige Erfolge erzielen könnte – zumindest, sobald sich aus seiner Forschung eine Methode entwickelt hatte.
Er hatte sie alle studiert, sämtliche Weltuntergangs- und Heilsversprechungssekten. Er hatte analysiert, wie Glauben funktionierte, und an vom Geheimdienst inhaftierten Studienobjekten geforscht. Tja, und dann, als er der Sache langsam näher kam, war alles zusammengebrochen, und er hatte fliehen müssen – zusammen mit Florin. Ein entfernter Cousin, der als Banater Schwabe nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Frankreich geflohen war, bot Lazar Unterschlupf an und half ihm beim Beantragen von politischem Asyl – Lazars Französisch war faktisch nicht vorhanden gewesen. Seinem Antrag wurde stattgegeben, im Austausch für diverse Informationen, nachdem die französische Regierung begriffen hatte, um wen es sich bei ihm handelte.
Der Geheimdienst interessierte sich für ihn, auch die Justiz. Diese Leute versuchten sogar, Lazar unter Druck zu setzen, und drohten damit, ihn wegen den Taten seiner Vergangenheit vor den Richter zu zerren. Kompletter Schwachsinn, denn sie hatten keine wirkliche Ahnung von dem, was er in Rumänien getan hatte. Und abgesehen davon war Druck gar nicht nötig, denn er hatte bereitwillig – im Gegenzug für politisches Asyl – alles erzählt, was man von ihm wissen wollte, und jeden Namen genannt, den er kannte.
Schließlich bekam er Asyl. Dann eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Mittlerweile hatte er sogar die französische Staatsbürgerschaft angenommen.
Er hatte zunächst als Psychotherapeut gearbeitet und eine kleine Praxis eröffnet. Einige Jahre lang hatte er relativ unauffällig gelebt – so lange, bis sich seiner Meinung nach das Auge der Behörden von
ihm abgewandt hatte, anderen Zielen zu, die eher im Umfeld von Islamisten zu suchen waren. Schließlich hatte sich die Möglichkeit ergeben, das Château du Soleil zu erwerben.
Lazar war von der Geschichte des Hauses fasziniert gewesen – oder vielmehr von der Geschichte seiner Besitzer, die Mitglieder der Sonnentemplersekte gewesen waren und sich selbst das Leben genommen hatten.
Lazar war nicht mittellos nach Frankreich gekommen. Er hatte mitgenommen, was er in die Finger bekommen konnte – und das war in dem damals vollkommen leerstehenden militärischen Areal in Temeswar jede Menge gewesen. Ja, Lazar hatte nicht nur sein Erspartes und Bargeld aus den Securitate-Tresoren mitgenommen, sondern auch noch ein paar andere Dinge auf den Transporter geladen, mit dem er nach Frankreich gekommen war.
Das Anwesen hatte er jedoch für wenig Geld bekommen können. Einerseits interessierte sich niemand für Immobilien in einer gottverlassenen Gegend wie der rund um La Roque-sur-Pernes. Andererseits wollte auch niemand ein Haus kaufen, in dem verrückte Sektierer gehaust hatten, die sich dann auch noch umgebracht haben.
Schließlich hatte Lazar das Gebäude von den Erben erworben, um dort die Idee einer psychosomatischen Privatklinik umzusetzen. Bis er nach Frankreich gekommen war, hatte er keine Ahnung gehabt, wie viel Geld man damit verdienen konnte – im Kommunismus und Sozialismus hatte es keine Privatkliniken gegeben. Und als Lazar in verschiedenen Privatkliniken hospitiert hatte, um das französische Gesundheitssystem kennenzulernen, hatte er festgestellt: Diese Einrichtungen waren eine echte Goldgrube, das musste man schon sagen.
Nachdem dann seine Diplome offiziell anerkannt worden waren, legte er los und steckte sich für die Zukunft sehr hohe Ziele. Es dauerte Jahre, das Anwesen mit der Unterstützung von Florin herzurichten, und verschlang viel Geld, wozu Lazar ein paar Dinge aus alten rumänischen Militärbeständen hatte versilbern und dazu ein kleines Netzwerk aufbauen müssen: Panzerfäuste und Kalaschnikows wurde man schließlich nicht gerade auf dem Flohmarkt los. Währenddessen hatte sich Lazar in die Geschichte
und die Konzeption der Sonnentempler, der Geschichte der Templer insgesamt und der Neutempler vertieft, die ihn rundherum faszinierten – mit den Jahren so intensiv, dass er daraus seine eigene Theorie entwickelt hatte, seine persönliche Lehre und Weltsicht.
Die Idee von weisen Großmeistern als gesellschaftliche, geistige Führer hielt Lazar für sehr attraktiv – und zwingend erforderlich. Denn der Westen, das hatte er schnell begriffen, war nicht das, was man sich im Osten von ihm erhofft und versprochen hatte. Gewiss, der Westen war ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch je mehr dieser Möglichkeiten man ergreifen wollte, desto mehr grenzte man sich ein. Es war merkwürdig. Merkwürdig und äußerst enttäuschend.
Umso enttäuschender, weil das, was als Europa funktionieren sollte, eben nicht funktionierte. Lazar hatte sich so etwas wie den Osten zu seinen besten Zeiten versprochen – alle Länder waren faktisch eins, behielten jedoch ihre jeweilige Identität. Aber auch das klappte nicht. Aus lauter Dummheit klappte das nicht. Ja, da war sich Lazar sicher. Dummheit.
Europa und der Westen waren großartige Versprechen, die nicht gehalten werden konnten. Niemand konnte daran etwas ändern. Zu vielfältige Stellschrauben und Parameter, die ineinandergriffen. Alles war viel zu komplex und unüberschaubar geworden, die Politik und die Gesellschaft waren hybrid und im permanenten Wandel.
Dabei waren die Chancen unermesslich. Man kam sich regelrecht vor wie ein Pawlow’scher Hund, dem man ein Filet Mignon vor die Nase hielt, der die Köstlichkeit aber niemals erreichen konnte und sich deswegen dauerhaft in Bewegung hielt, um dem Stück Fleisch hinterherzulaufen.
Aber Hunde mussten fressen. Das wusste jeder. Früher oder später, aber es war unausweichlich, denn sie waren, was sie waren: Carnivoren. Fleischfresser. Und es bedurfte nach Lazars Meinung eines Neustarts.
Nur konnte man nicht einfach so die Resettaste drücken. Nein, es war vielmehr ein Flächenbrand nötig, wie im Osten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, um Europa zu erneuern – unter spiritueller
Führung, unter geistigem Geleitschutz, um künftigen Fehlentwicklungen vorzubeugen.
Geleitschutz hatte der Templerorden stets gegeben – Reisenden in alten Zeiten, und war die Welt heute nicht wieder voller Reisender? Menschen, die sprichwörtlich unterwegs waren, so wie Lazar selbst vor vielen Jahren, als er floh? Oder unterwegs, weil sie innerlich nach neuen Ufern suchten? Und diese Veränderung brachte doch stets mit sich, dass man Altes hinter sich ließ. Ein altes Leben, eine alte Welt.
Ja. Das war die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern. Ein Umsturz. Tabula rasa. Und danach würde sich etwas verändern, so wie es hinter dem Eisernen Vorhang geschehen war. Gar keine Frage. Ein Systemwandel.
Und der stand kurz bevor, dachte Lazar, warf einen Blick auf die Uhr und verließ dann das Büro.
Es war Zeit, über genau dieses Thema mit den anderen zu sprechen. Und sich vorzubereiten. Auf das, was diese kleine Wäschefrau Stéphanie Kaufmann beinahe verhindert hätte. Denn sie hatte im Gewölbekeller des Châteaus nach einem bestimmten Bleichmittel gesucht – weiß der Teufel, wozu sie das brauchte. Sie sollte ja nur die Wäsche abholen und später dann sauber zurückbringen, so wie immer. Jedenfalls war sie dieses Mal in Bereichen des Châteaus gewesen, in denen sie nichts zu suchen hatte. Sie war dort auf etwas gestoßen, das sie niemals hätte sehen dürfen – und Florin, der ihr nachstellte, hatte es mitbekommen und umgehend Bericht erstattet.
Lazar war außer sich gewesen. Wie hatte die junge Frau in diesen Keller gelangen können? Er sollte doch stets abgeschlossen sein?
Florin hatte Lazar an die Freilandversuche erinnert, sozusagen die technischen Testläufe, und dazu war Material aus dem Keller verwendet worden. Ein paar Kühe waren auf den Feldern verendet und einige Vögel von den Bäumen gefallen, weswegen man sich im Ort Sorgen gemacht hatte. Aber diese Sorgen waren vom Tod der jungen Frau überschattet worden und in den Hintergrund getreten.
Die Testläufe hatten genau an dem Tag stattgefunden, an dem Stéphanie auf der Suche nach dem Bleichmittel in den Keller gelangt war. Was sie dort gesehen hatte – na ja, Lazar war sich nicht wirklich
sicher, ob sie damit tatsächlich etwas anfangen konnte. Schließlich waren alle Aufschriften in kyrillischer Schrift, und es erschloss sich einem Laien nicht auf den ersten Blick, was sich in den Behältern und Kisten befand. Auch nicht auf den zweiten. Aber möglicherweise auf den dritten – oder wenn man darüber nachdachte, warum sich derlei Material in olivgrünen Behältern mit Warnaufklebern im Keller einer psychosomatischen Klinik befand – und vielleicht hätte sich Stéphanie eine der Aufschriften gemerkt oder sie mit dem Handy fotografiert, was nicht nachprüfbar war, ohne ihrer habhaft zu werden und ihr das Gerät zu entreißen.
Lazar hatte daher den Entschluss gefasst, komplett auf Nummer sicher zu gehen, und zwar sofort. Er durfte nicht so lange warten, bis Stéphanie am Ende der Woche mit der sauberen Wäsche zurückgekommen wäre. In der Zwischenzeit hätte sie auf dumme Ideen kommen und ihr Wissen weitergeben können: dass sie komische Dinge im Kellergewölbe vom Château gesehen hatte.
Nein, das war viel zu gefährlich. Weswegen er Florin beauftragt hatte, die Sache gleich zu erledigen.
Der Rest, dachte Lazar und knirschte auf den Zähnen, war Geschichte. Und beinahe genauso schiefgegangen wie die Sache mit der offenen Tür im Keller.
Er verließ das Büro, um in den Rittersaal zu gehen – im gefiel diese Bezeichnung. Und er dachte sich: Dieses Mal würde nichts schiefgehen. Dieses Mal würde alles perfekt laufen wie ein Schweizer Uhrwerk. Oder besser: So akkurat wie der Zeitzünder einer Bombe, die schon in Kürze explodieren und das Feuer der Erneuerung über den Kontinent treiben würde. Ach nein, dachte Lazar und lief die Treppenstufen hinab. Das stimmte nicht.
Eine simple Bombe war weitaus nicht so wirksam wie das, was in Lazars Keller lagerte und auf seinen Einsatz wartete.
Schon morgen.