37
Castel kam aus der Dusche und rubbelte sich die Haare trocken. Sie trug einen Bademantel und betrachtete Jean dabei, wie er in der Küche Pasta zum Abendessen zubereitete. Mila, die kleine schwarze Mopsdame, saß auf dem Boden neben ihm und beobachtete jeden seiner Handgriffe – wohl in der Hoffnung, dass etwas für sie abfallen würde.
Castel ging in die Küche, umarmte Jean von hinten und musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um seinen Nacken zu küssen.
»Italienisch?«, fragte sie.
»Mhm«, machte er.
»Ich dachte, du bist im Moment auf dem Spanientrip?«
Er grinste. »Andalusien war nur ein Vorschlag. Es könnte auch Rom sein. Oder Mailand. Egal. Ich dachte nur, wir könnten dem Weihnachtsirrsinn entfliehen – aber natürlich verstehe ich, dass dein Job dich im Moment sehr bindet.«
»Vielleicht tut er das ja nicht mehr?«
Jean hielt mit dem Rühren der Soße inne. »Wie meinst du das?«
Castel löste sich von ihm, lehnte sich an den Kühlschrank und sagte: »So, wie es aussieht, wissen wir, wer der Täter ist, und haben dazu ein schriftliches Geständnis. Das bedeutet erheblich weniger Ermittlungsarbeit. Und das bedeutet vielleicht auch, dass ich mir ein paar Tage freinehmen kann. Also: Falls es nicht schon zu knapp ist, um etwas zu buchen – dann wären drei oder vier Tage Spanien vielleicht drin?«
»Ernsthaft?«, fragte Jean.
Castel nickte. »Ich denke schon. Ich will es noch nicht versprechen, denn ich müsste das noch klären.«
»Wir bekommen sicher kurzfristig einen Flug und ein Hotel. Da sehe ich gar keine Schwierigkeiten. Meinst du das ernst?«
»Natürlich.« Castel lächelte. »Ich würde es ganz toll finden, wenn es klappt. Ein paar Tage Ruhe. Dem Trubel entfliehen. Barcelona soll zwar von Touristen überlaufen, aber dennoch sehr schön sein.«
Wobei, dachte Castel, so viel weihnachtlichen Trubel hatte sie ja gar nicht. Da gab es nur ihren Freund und sie. Ihre Eltern besuchte sie jedes Jahr im Altenheim in Marseille. Das war’s. Dennoch war die Aussicht auf etwas weihnachtliches Shopping in der katalanischen Metropole verlockend – allein, um den Kopf freizubekommen und etwas Zeit mit Jean zu verbringen.
Castel wollte Jean gerade fragen, ob sie nicht nach dem Essen einfach in den Angeboten stöbern sollten, als das Handy klingelte. Jean schmunzelte mitleidig. Castel verdrehte die Augen, denn sie wusste: Wenn das Handy sich meldete, dann war es in der Regel die Arbeit.
Sie setzte sich in Bewegung, ging zum Wohnzimmertisch – und registrierte zu allem Überfluss, dass es nicht nur die Arbeit war, sondern Albin Leclerc höchstpersönlich.
»Albin«, sagte sie seufzend, setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine unter. Wenn er anrief, dann war es meistens nicht mit wenigen Sätzen getan.
»Castel«, sagte Albin. »Ich rufe Sie nur ungerne nach Feierabend an. Sie haben sich Ihre Freizeit wirklich verdient. Aber manchmal geht es nicht anders.«
»Mhm«, machte sie und dachte: Als ob dir das jemals etwas ausgemacht hätte, Albin Leclerc.
»Castel. Ich habe recherchiert. Mit diesem Château, diesem Dr. Lazar und seiner rechten Hand Florin stimmt etwas nicht.«
»Nun, das wissen wir ja. Florin hat eine Frau ermordet und war außerdem …«
»Bei den Skopzen«, sagte Albin. »Schon mal gehört?«
»Lazar hat etwas erzählt, aber …«
Albin erklärte es ihr noch einmal.
Castel schnappte nach Luft. »Das ist wirklich unfassbar, Albin! Mein Gott!« Sie sah, wie Jean fragend zu ihr blickte, aber winkte ab.
»Es gibt nichts, was es nicht gibt, Castel«, sagte Albin.
»Das erklärt so einiges«, sagte sie. »Die Verstümmelungen …«
»Genau wie in der Sekte. Er wollte sie als Braut und nach den Sitten seiner Glaubensgemeinschaft in eine solche verwandeln. Was er auch getan hat. Und hinzu kommt, was ich über Lazar herausgefunden habe.«
»Und das wäre?«
Albin erzählte ihr auch das. Von Lazars Hintergrund bei der Securitate, die Flucht nach Frankreich, die verschlossene Akte und damit verbunden die Spekulation, dass er vermutlich politisches Asyl im Austausch gegen Geheimdienstinformationen aus Rumänien erhalten hatte, und dass er mit seinem Gehilfen Florin, dem Mörder, nach Frankreich eingereist war.
Castel hörte sich alles an. Sie wollte lieber nicht wissen, woher Albin diese Informationen hatte. Abgesehen davon: Sie hatte keine Ahnung, in welchem Zusammenhang sie mit dem Mord an Stéphanie Kaufmann stehen sollten.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Albin auf ihre Nachfrage. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass da irgendetwas nicht stimmt.«
»Was denn?«
»Ich wiederhole: Das weiß ich nicht.«
»Albin: Wir haben einen Mörder, der sich selbst getötet hat. Wir haben sein schriftliches Geständnis zu dem Mord an Stéphanie. Wir wissen, wo er sie kennengelernt hat und wie. Und jetzt, da Sie das mit dieser Sekte herausgefunden haben, wird die Sache mit den Genitalverstümmelungen erst richtig schlüssig. Alles ist ziemlich rund.«
»Trotzdem.«
Castel atmete tief durch. Jean sah wieder zu ihr herüber, um sich zu vergewissern, dass alles okay war. Sie winkte erneut ab, rollte aber mit den Augen, dass Jean grinsen musste, bevor er sich wieder seiner Pastasoße widmete.
»Albin – ich weiß wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Castel.
Wenngleich sie eine Ahnung hatte. Das Château und dieser Lazar, der Mord und die Begleitumstände: Das kam ihr selbst inzwischen sehr merkwürdig vor. Es war schwer zu sagen, warum. Vielleicht lag es an den bizarren Begleitumständen oder daran, dass es noch einzelne offene Fragen gab. Oder einfach daran, dass ihr dieser Dr. Ion Lazar überhaupt nicht gefallen hatte … Aber durfte sie nur deswegen darauf schließen, dass der Mordfall Stéphanie Kaufmann noch andere Hintergründe haben könnte? Und falls ja: Welche, um Gottes willen, sollten das denn sein?
Albin fuhr fort: »Castel. Stellen Sie sich nicht dumm und reiten den Bürokratenesel. Ich weiß selbst, dass auf dem Papier alles gut aussieht. Aber wie ist der Mörder in der Selbstmordnacht zu den Bories gekommen?«
Darüber hatte Castel natürlich auch schon nachgedacht. Da war etwas merkwürdig. »Er muss zu Fuß gegangen sein«, sagte sie.
»Bei Regen und mehrere Kilometer?«
»Es scheint so.«
»Hat er das auch getan, als er Stéphanie Kaufmann umbrachte? Alles zu Fuß?«
»Wir nehmen an, dass er ein Fahrzeug benutzt hat, um die Leiche zu transportieren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er das zu Fuß getan und die Tote getragen hat. Allerdings besitzt er kein Auto. Es ist keines auf ihn zugelassen. Er muss also ein anderes benutzt haben.«
»Warum hat er das Fahrzeug dann nicht wieder benutzt, um zu den Bories zu fahren?«
»Vielleicht stand es nicht zur Verfügung.«
»Wem steht ein Auto nicht zur Verfügung?«
»Dem, der kein eigenes hat.«
»Also ein Dienstwagen? Ein geliehener?«
»Sie meinen, einen Mietwagen?«
»Nein, denn das hättet ihr längst herausgefunden, wenn es einen gegeben hätte.«
Castel fragte sich, ob sich jemand bereits danach erkundigt hatte, glaubte es aber eher nicht. Sie machte sich kurz einen Vorwurf, sich noch nicht intensiver um die Autofrage gekümmert zu haben, zumal sie sich ja schon selbst Gedanken darüber gemacht hatte.
Albin fuhr fort: »Ihr habt alles nach Spuren abgesucht. Und ihr habt sicher welche gefunden. Ihr solltet sie mit Fahrzeugen abgleichen, die zum Château gehören. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Florin sich bei Europcar oder Sixt eigens für den Mord eines ausleiht und ansonsten zu Fuß unterwegs ist.«
»Klingt eher weniger schlüssig.«
»Hatte er überhaupt einen Führerschein?«
»Weiß ich im Moment nicht, Albin, aber …«
»Ich denke, er hat entweder auf ein Fahrzeug zugegriffen, zu dem er im Château Zugang hatte. Aber warum hat er das dann nicht getan, um in der Selbstmordnacht damit zu den Bories zu fahren?«
Castel keuchte genervt. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Kann ich nicht sagen. Es ist ein Stochern im Nebel. Sie haben recht damit, dass auf dem Papier alles rund wirkt, Castel. Aber ich frage mich, welche Triebachse sitzt in der Mitte und bringt das Rad zum Rotieren?«
»Nun, es ist das älteste Motiv der Welt, nicht? Liebe und Rachsucht. Er hat Stéphanie gezielt getötet, um sie zu besitzen, was ihm ansonsten nicht möglich war.«
»Castel. Dieser Florin war ein durchgeknallter religiöser Spinner, der sich selbst gegeißelt hat. Dr. Ion Lazar ist ein promovierter forensischer Psychologe, der für den rumänischen Geheimdienst gearbeitet hat – und ich möchte lieber nicht wissen, womit er da befasst war. Er ist zusammen mit Florin aus Temeswar in Rumänien gekommen. Und der erzählt Ihnen, dass er keinen Schimmer hatte, was für ein religiöser Fanatiker in seinem Château wohnt? Jemand mit den Kenntnissen von Lazar, der zudem so dicht auf dicht mit ihm zusammenwohnte und ihn seit Jahrzehnten – seit Jahrzehnten , Castel! – kannte …«
»Schon gut.«
»… von dem lassen Sie sich erzählen …«
»Albin, es reicht! Ich weiß selbst sehr genau, dass da irgendetwas merkwürdig ist! Aber wir müssen uns doch an das halten, was wir haben! Das wissen Sie doch ganz genau!«
»Gott sei Dank.«
»Gott sei Dank – was?«
»Gott sei Dank haben Ihnen die Bürokraten doch noch nicht das Gehirn gewaschen.«
»Also wirklich.«
Castel fing erneut einen Blick von Jean auf. Inzwischen musste er verstanden haben, mit wem sie da telefonierte.
Albin sagte: »Da ist noch etwas.«
»Sie werden mich mit weiteren Details gewiss nicht verschonen, das ist mir schon klar.«
Daraufhin erzählte Albin, wem das Château früher gehört hatte. Castel erinnerte sich an die Vorfälle in den Neunzigern, die vielen Morde und Selbstmorde, die mit den Neutemplern zu tun hatten – einer irren Weltuntergangssekte. Aber ihr erschloss sich nicht, wie das im Zusammenhang mit dem Mord an Stéphanie Kaufmann stehen sollte.
Albin erzählte: »Man hat mir berichtet, dass im Château Bilder mit Kreuzrittern an den Wänden hingen.«
»Ich habe keine gesehen.«
»Eben. Ich auch nicht. Die sind abgehängt worden.«
»Warum sollte man das tun?«
»Vertuschung.«
»Aber vielleicht waren da nie Bilder?«
»Fahren Sie nochmals hin und schauen sich die Wände an, Castel. Da gibt es Schatten – als ob lange Bilder an den Wänden gehangen hätten, die man dann aber abgenommen hat. Da sind Nägel in den Wänden. Die Polizei kommt – und man hängt die Kreuzritterbilder ab, hm?«
»Na und?«
»Weil man etwas vertuschen will.«
»Wer hat Ihnen das überhaupt erzählt mit den Bildern?«
»Verlässliche Quelle. Es wurden auch Kutten mit Tatzenkreuzen gesehen.«
»Albin – bitte. Und selbst wenn das so ist. In welchem Zusammenhang steht das mit dem Mord und dem Selbstmord?«
»Sekten, Rumänen, Banater, Morde, Selbstmorde, Geheimdienste, Psychologen, religiöser Wahn, Weltuntergang … Das ist alles etwas viel auf einmal, finden Sie nicht?«
»Und wie hängt das alles zusammen?«
»Keine Ahnung.«
»Hängt es überhaupt zusammen?«
»Weiß ich nicht.«
»Albin, meine Güte, und warum erzählen Sie es mir dann?«
»Um Sie auf dem Laufenden zu halten, Castel. Sie sind nicht auf den Kopf gefallen. Außerdem ist das mein Job als polizeilicher Berater.«
Castel wollte gerade Einspruch einlegen, als Jean das Essen auftrug und ihr mit einer Geste bedeutete, dass sie zu Tisch kommen sollte.
»Ich muss Schluss machen«, sagte sie. »Das Essen ist fertig. Und ich kapiere immer noch nicht, was mir das alles sagen soll, Albin.«
»Das ist meistens so, wenn wir vor einem Puzzle sitzen. Wir wissen, dass es am Ende ein bestimmtes Bild ergeben soll. Aber was ist, wenn wir das falsche Bild im Kopf haben?«
Castel stand auf. »Der Vergleich hinkt. Bei einem Puzzle sieht man das Motiv und damit das Ergebnis meistens schon auf dem Karton.«
»Aber in diesem Fall haben Sie keinen Karton, Castel, sondern nur eine Tüte mit Teilen, und Sie denken, dass es wohl dieses oder jenes Bild ergeben könnte. Oder Sie haben durchaus einen Karton, aber es sind vielleicht nicht die richtigen Teile drin. Und dann ist die Frage: Wer hat die in den Karton gepackt und warum?«
»Das klingt reichlich kryptisch«, meinte Castel und ging zum Esstisch.
»Weiß ich«, sagte Albin. »Aber mal sehen.«
»Was wollen Sie mal sehen?«
»Nichts.«
»Sie machen keine Dummheiten, richtig?«
»Niemals.«
»Albin, Sie …«
»Ihr Essen steht auf dem Tisch, Castel. Bon appétit!«
Und damit beendete er das Gespräch.
Castel knurrte genervt und setzte sich, während Jean ihr den Teller auffüllte.
Er fragte: »Leclerc?«
»Live und in Farbe, ja.«
»Er kann wohl sehr nervig sein?«
Castel legte das Handy auf den Tisch und nickte. »Ja«, sagte sie – und dachte: Das konnte er.
Aber oft lag er auch richtig mit seinen Vermutungen und seiner Intuition.
Und in diesem Fall, das musste Castel zugeben, erschien es ihr selbst etwas merkwürdig, und ihre Intuition sagte ihr, dass mehr dahinterstecken mochte.
Aber was?